Kitabı oku: «Zum poetischen Werk von Salvatore A. Sanna», sayfa 2

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2. Dichten als Identitätsarbeit

Im ersten Lyrikband Salvatore A. Sannas – Fünfzehn Jahre Augenblicke – sind die Gedichte, die sich auf die Erfahrung in Deutschland beziehen, und jene, die sich auf seine ursprüngliche Heimat Sardinien beziehen, klar getrennt. Man hat den Eindruck, dass Deutschland für das lyrische Ich ein Terrain ist, auf dem es neue Erfahrungen sammelt, mit neuen sinnlichen Eindrücken konfrontiert ist, neue Begegnungen macht. Sardinien hingegen erscheint als Chiffre einer früheren, einer vergangenen Zeit. Das, was als Kontrast erscheinen mag – Kontrast zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Kontrast zwischen Sardinien und Deutschland, Kontrast zwischen Deutschland und vielen anderen Orten, von denen in Salvatore A. Sannas Gedichten die Rede ist –, erweist sich, betrachtet man sein Gesamtwerk, tatsächlich als Zusammenspiel. Aus diesem Zusammenspiel von Verschiedenem und bisweilen Gegensätzlichem konstituiert sich in Salvatore A. Sannas Lyrik eine individuelle Identität. Ich zitiere hierzu den Dichter selbst, aus der Tonbandaufnahme eines von mir geführten Interviews von 1990:

„È quindi il problema della identificazione culturale, e, nello stesso tempo, […], tutti noi dobbiamo, se l’Europa continua a marciare, […] rinunciare a una parte della nostra identificazione. […] Cioè, rinunciare nel senso che non possiamo credere solo ad essa, ma, ampliando […] il nostro campo culturale, riceveremo una identificazione più grande che non sarà più quella nazionale, ma sarà quella europea.“1

„Es ist also das Problem der kulturellen Identität und zugleich müssen wir alle, wenn es mit Europa weitergeht, auf einen Teil unserer Identität verzichten. Verzichten in dem Sinn, dass wir nicht nur an sie glauben dürfen, sondern indem wir unseren kulturellen Radius erweitern, erhalten wir eine umfassendere Identität, die nicht mehr die nationale, sondern die europäische ist.“ (Übers. aus dem Italienischen Immacolata Amodeo)

Die Geschichte – die individuelle wie die kollektive – ist Teil der Identität, sie steckt in der Identität. Zur europäischen Identität gehört z. B. auch die spanische Vergangenheit Sardiniens:

„Non si deve neanche dimenticare che la Sardegna per quasi 400 anni è stata territorio spagnolo, appunto dal 1321 al 1716. Allora questo fatto ci ha resi un po’ estranei, cioè, ha reso i sardi estranei alla cultura nazionale, anche se poi è il caso e il destino che opera, la Sardegna è stata la prima regione a far parte […] di quella che poi sarà stata, o sarà, l’Italia.“2

“Man darf nicht vergessen, dass Sardinien fast 400 Jahre lang spanisches Territorium war, und zwar von 1321 bis 1716. Aufgrund dieser Tatsache stehen wir der Nationalkultur etwas fremd gegenüber. Auch wenn dann der Zufall es wollte, dass Sardinien die erste Region war, die zu dem gehörte, was dann Italien sein würde.“ (Übersetzung aus dem Italienischen Immacolata Amodeo)

Salvatore A. Sannas Dichtung führt vor, wie sich aus unterschiedlichen kulturellen Einflüssen, aus partikularen Geschichten jenseits der Nationalgeschichte, aus der Begegnung der kulturellen Prägung einer scheinbar randständigen Region wie Sardinien mit mitteleuropäischen Mentalitäten eine Identität konstituieren kann. Diese ist natürlich nicht als homogene und statische Identität zu sehen, sondern als eine Identität, die sich gerade auf der Grundlage eines Lebens an verschiedenen Orten, unter unterschiedlichen kulturellen Einflüssen konstituiert, als eine Identität in Bewegung, offen für die vielfältigsten Veränderungen.

Zu einer solchen Identität gehören auch mehrere Sprachen. Sanna macht deutlich, dass die deutschsprachige Umgebung, in der er einen großen Teil seines Lebens verbracht hat, auf sein Italienisch, seine Sprache der Dichtung, Einfluss hatte, diese inspiriert und stimuliert hat. Wie hat man sich das vorzustellen? Ich zitiere den Dichter selbst, der es anhand einiger Beispiele erläutert:

„…in der Formulierung und auch in der Verwendung bestimmter Wörter, zum Beispiel der Goldregen ist eine Pflanze, die man in Italien selten sieht, aber der Goldregen blüht im Mai in unserem Garten, und so hat mich diese Pflanze besonders interessiert, oder zum Beispiel die Ebereschen, auch das ist etwas, was man in Italien selten sieht. Also das sind Stimuli, die ich aus dem deutschen Milieu entnehme und auch hier erlebe in einem Kontext, und insofern beeinflusst dieses Milieu auch die Auswahl der Wörter, die ich verwende.“3

Vielleicht könnte man von Osmose zwischen dem Deutschen und dem Italienischen sprechen. Die deutschsprachige Umgebung, in der er lange gelebt hat, hat sein Italienisch, seine Literatursprache, beeinflusst, stimuliert, erweitert. Das Italienisch, das dabei herausgekommen ist und das der Dichter verwendet, ist ein spezielles Italienisch. Der Dichter erläutert diesen Gedanken folgendermaßen mit seinen eigenen Worten:

„Io scrivo in italiano, ma das ist eine andere Sprache, è una lingua che non ha seguito gli sviluppi che si sono avuti in Italia. Io sono fermo al linguaggio degli anni sessanta, alla lingua degli anni cinquanta, quando venni in Germania. E poi ho seguito gli sviluppi, così, attraverso la radio, attraverso il giornale […], io sono qui da 25 anni, ma certamente c’è un fenomeno di ritardo e probabilmente è una lingua letteraria a cui io mi riferisco.“4

Salvatore A. Sanna erklärt hier, dass sein Italienisch, das Italienisch, in dem er dichtet, ein anderes Italienisch ist als das heutige Standarditalienisch. Sein Italienisch sei jenes, das er mitgebracht hat, als er nach Deutschland kam. Es reflektiere stark die Zeit, als er Italien verlassen hat, die fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts; sein Italienisch habe sich natürlich auch in Deutschland weiterentwickelt, es wurde ständig aktualisiert durch Radiohören und Zeitunglesen, aber es befinde sich doch in einer gewissen Versetztheit gegenüber den Entwicklungen der ‚Nationalsprache‘ innerhalb von Italien. Es ist gewissermaßen ein ‚archäologisches‘ Italienisch, das zwar immer wieder mit den aktuellen Sprachentwicklungen in Italien in Kontakt getreten ist, aber doch die Patina einer anderen Zeit auf sich trägt, eine Art „papierne Sprache“. Diesen Ausdruck haben die französischen Literatur- und Kulturtheoretiker Gilles Deleuze und Felix Guattari in Bezug auf Franz Kafkas Pragerdeutsch geprägt, welches ebenfalls eher eine literarische als eine gesprochene Sprache war.5

Die Originalausgaben von Salvatore A. Sannas Lyrikbänden haben alle deutsche Titel: Fünfzehn Jahre Augenblicke, Löwen-Maul, usw. Die Gedichte selbst wurden von Sanna aber auf Italienisch geschrieben. Erschienen sind sie dann in zweisprachigen Ausgaben. Die deutsche Übersetzung wurde nicht vom Autor selbst, sondern von Übersetzern besorgt: Von Ragni Maria Gschwend, Birgit Schneider, Gerhard Goebel-Schilling, Caroline Lüderssen. Obwohl Salvatore A. Sanna auf Italienisch dichtet, besteht er darauf, dass sein intendierter Leser ein deutscher Leser ist.6 Der deutsche Leser ist der Dialogpartner des lyrischen Ichs, das auch seinen Prozess der Annäherung an die Sprache des Anderen thematisiert. Indem die sprachliche Andersartigkeit in der sprachlichen Begegnung erfahrbar wird, eröffnet sich eine Art dialogischer Raum:

[…]

Siamo studenti e decliniamo

il der die das

della tua lingua

[…]

[…]

Wir sind Studenten

und deklinieren

das Der Die Das

deiner Sprache

[…]7.

Salvatore A. Sanna betonte immer wieder, dass er für einen deutschen Leser schrieb: „… denn unsere Arbeit entsteht hier, und ob wir wollen oder nicht, schreiben wir für ein deutsches Publikum in erster Linie.“8 Dieser deutsche Leser betritt, sobald er sich auf Sannas Gedichte einlässt, den vom Dichter geschaffenen dialogischen Raum. Und man hat den Eindruck, dass es genau dieser dialogische Raum ist, in den der Dichter seinen Leser führen will, um ihm in sprachlicher Hinsicht so einiges zuzumuten. Salvatore A. Sannas Gedichte enthalten in der italienischen Fassung deutsche Worte, in der deutschen Fassung italienische Worte, aber auch englische, französische Formulierungen, oft sind es Ortsangaben, aber auch anderes. Wer einmal das Glück gehabt hat, einem Gedichtvortrag von Salvatore A. Sanna beizuwohnen, kann ermessen, welche Bereicherung des lyrischen Ausdrucks die italienische Dichtungssprache hier von den anderen Sprachen her, mit denen sie in diesen Gedichten in Kontakt kommt, erfahren hat. Mit Hilfe der Einflechtung anderer Sprachen in das Italienische, mit Hilfe dieser sprachlichen Heterogenität, die Salvatore A. Sannas scheinbar einsprachigen italienischen Gedichte prägt, markiert der Dichter eine Distanzierung bzw. Grenze sowohl zwischen ihm und den einsprachigen und monokulturellen Deutschen als auch zwischen ihm und den einsprachigen und monokulturellen Italienern und führt zugleich einen Dialog mit dem Anderen, dem Gegenüber. Die mehrsprachige lyrisch-poetische Erinnerungs- und Identitätsarbeit von Salvatore A. Sanna ist auch eine kulturelle Vermittlungsarbeit. Diese kulturelle Vermittlungsarbeit ist nicht immer eine einfache Aufgabe. Es bedarf einer großen Sensibilität, eines hohen Maßes an Fingerspitzengefühl, wie dieses Gedicht suggeriert:

Dalla sensibilità delle tue antenne

riconosci la potenza del trasmettitore

Le onde sono diverse

lunghe, medie, corte

e a modulazione

Devi sintonizzarti

per carpire il messaggio

cifrato

L’occhio del ciclone

è ancora lontano.

An der Empfindlichkeit deiner Antennen

erkennst du die Stärke des Senders

Die Wellen sind unterschiedlich

lang, mittel, kurz

und ultrakurz

Du mußt dich einstellen

um die chiffrierte Botschaft

zu empfangen

Das Auge des Zyklons

ist noch fern.9

3. Salvatore A. Sanna als „Heimatdichter“

Salvatore A. Sannas Gedichte erwähnen, wie gesagt, viele verschiedene Orte: Frankfurt, Rom, Paris, Genf, Lausanne, New York, Toronto, Montepulciano, Palestrina, Parma, Pisa, Positano, Prag – und immer wieder Sardinien. An diesen Orten sind die Gedichte vielleicht zum Teil entstanden, jedenfalls verweisen sie auf alle diese Orte. Man hat den Eindruck, dass das lyrische Ich – und ich wage zu sagen, auch der Dichter – gewissermaßen an allen diesen Orten, in Europa und in der Welt, beheimatet ist. Salvatore A. Sannas Gedichte beschreiben und entwerfen auf diese Weise eine Heimat, die nicht in einem fernen Anderswo situiert ist, die aber ohne ein Anderswo nicht denkbar ist.

Salvatore A. Sanna hat den Begriff „letteratura de-centrata“ geprägt. Er hat zusammen mit Caroline Lüderssen eine Anthologie herausgegeben mit dem Titel „Letteratura de-centrata. Italienische Autorinnen und Autoren in Deutschland“. Diese Anthologie versammelt literarische Texte und Einführungen zu Autorinnen und Autoren italienischer Herkunft, die – überwiegend – in Deutschland leben und schreiben.1 Die Anthologie basiert auf mehreren Tagungen mit Autoren und Wissenschaftlern, die teilweise im Literaturhaus Frankfurt, teilweise an anderen Orten, darunter die Villa Vigoni, stattgefunden haben. Letteratura de-centrata ist für Salvatore A. Sanna „[…] eine Literatur, die außerhalb des italienischen Sprachraums entsteht, obwohl sie sich der italienischen Sprache bedient.“2

Der Bezeichnung „letteratura de-centrata“ möchte ich als ergänzenden Suchbegriff den der „neuen Heimatliteratur“ zur Seite stellen. Ich gebrauche diesen Begriff nicht in einem abwertenden, sondern in einem emphatischen Sinn, ähnlich wie etwa auch Thomas Bernhard als „Heimatdichter“3 bezeichnet werden konnte. Die Heimat, von der Salvatore A. Sannas Gedichte handeln, ist nicht eine globalisierte Welt ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Salvatore A. Sanna beschäftigt sich mit sehr konkreten Heimaten, die er in seinen Gedichten beschreibt, abbildet und gleichzeitig sprachlich erschafft. Diese Heimaten – von Toronto bis Karbach – bilden ein über die Erde gespanntes Netz, in der „wechselseitigen Befruchtung des Mannigfaltigen“, von der der jüdische Romanist Erich Auerbach in seinem berühmten Aufsatz zur „Philologie der Weltliteratur“ gesprochen hat: Salvatore A. Sanna verwendet in seinen Gedichten nicht „fertig geprägte Begriffe“, die „überall“ „auf der Lauer“ liegen, die „zuweilen durch Klang und Modegeltung verführerisch“ sind. Seine Gedichte enthalten „nichts Allgemeines, was von außen an den Gegenstand herangetragen“ würde. Sie sind „aus ihm herausgewachsen, ein Stück von ihm selbst“. Die „Dinge“ kommen „selbst […] zur Sprache“4. Es ist, als ob aus der Ferne der Blick geschärft wurde für das Vertraute.

Salvatore A. Sanna setzte seine wichtige Tätigkeit als kultureller Vermittler zwischen Deutschland und Italien mit den Mitteln der Dichtung auf einer anderen Ebene fort. Seine Lyrik der Erinnerung ist zugleich eine Lyrik, die alternative Modelle der Identität und ein neues Konzept von Heimat entwirft und vorführt. Sannas Gedichte können nicht als Repräsentanten einer Nationalkultur aufgefasst werden, sondern sie erscheinen als Gebilde der Interferenz, als Organismen eines Zwischenraums, der sich als Schnittmenge unterschiedlicher Erfahrungsräume ergibt; sie präsentieren ein Panorama von unterschiedlichen und vielfältigen Beheimatungen – und noch mehr. Alles dieses konnte so wahrscheinlich nur in den Gedichten eines deutsch-italienischen Lyrikers in Frankfurt entstehen.

Aufsätze
Zur Lyrik von Salvatore A. Sanna

[2004]

Thomas Amos

con altra voce omai, con altro vello

ritornerò poeta

Paradiso, XXV, 7 f.

I

In Salvatore A. Sannas erstem Gedichtband, Fünfzehn Jahre Augenblicke [1978], trennt eine Illustration, ein eigens von Piero Dorazio angefertigtes Aquarell, die beiden Hälften der Sammlung, deren Inhalt – die Annäherung an Deutschland im ersten und die Wiederbegegnung mit der sardischen Heimat im zweiten Teil – klar zutage tritt. Was aber zeigen, ja: was bedeuten die impressionistisch hingetupften, in Reihen unregelmäßig angeordneten, grauen und schwarzen Farbflecke? An eine Scharnierstelle gesetzt, markiert das (im Original aus zweierlei Blautönen bestehende) Aquarell mit seinen mittelmeerisch bewegten Wellen zunächst eine symbolisch zu verstehende Grenze und vermittelt, bevor der Sardinien-Zyklus beginnt, dem Leser den nun stattfindenden Wechsel zwischen zwei Bereichen, zwei Sphären. Doch Dorazios Illustration will mehr sein als paratextueller Prolog: Sehen bzw. lesen lässt sich das Bild auch als unkenntlich gemachter oder gelöschter Text, eben als jene wenig später erwähnte „matrice spenta“, worunter in einem weiteren Sinne der Mutter-Boden des Lebens und der Poesie gleichermaßen, für Sanna ohnehin untrennbar verbunden, zu verstehen ist. Mithin gerät die Abbildung zum Meta-Zeichen, zum Abbild der Lyrik Sannas überhaupt. Ähnliche, auf Sannas Lyrik übertragbare, sie resümierende selbst-referentielle Zeichen enthalten sämtliche Sammlungen, das reicht, in schöner, aufwärts führender Bewegung, von „Qualche insegna notturna“ (Tutto mi sembra…, Fünfzehn Jahre Augenblicke, S. 41) bis zur angedeuteten Himmelsschrift in Mnemosyne: „Nel cielo terso di un azzurro/pallido i pipistrelli/nottamboli tracciano nell’aria/un intrico di linee invisibili“ (Le attese, le tensioni, Mnemosyne, S. 386). Die nach Calvino jeglicher Dichtung grundsätzlich innewohnende (und von ihm an Cavalcanti und Dante dargelegte) Tendenz entweder zur Schwerelosigkeit oder zum Gewicht (peso) gelangt nunmehr zu einem harmonischen Gleichgewicht: Sanna strebt, und das verdeutlichen die genannten Beispiele ganz beiläufig, in seiner Kunst nach einer Leichtigkeit, wohinter nichtsdestoweniger ein sinnhaft-ernster Gehalt bzw. sorgfältige Ausarbeitung steht (leggerezza della pensosità).2

II

Allegorien, Symbole, Zeichen – eines der hervorstechenden Merkmale dieser ohnehin meist kurzen, überaus komprimierten Gedichte bleibt ihre höchst eindrückliche bildliche Ausdrucksweise, mit Recht könnte man vom Primat des Bildes sprechen. Virtuos bedient sich Sanna dabei verschiedener fein abgestufter Verfahren. Zuweilen geht er von einer offensichtlichen oder leicht nachvollziehbaren allegorischen Bedeutung aus, erweitert sie jedoch (und entzieht sie dadurch wieder teilweise dem Verständnis), etwa indem er die Malven sich der Sonne darbieten lässt („le tue malve/offerte al sole/sotto il ventaglio/delle palme/perdono/la loro innocenza/per l’avidità/dei calabroni“, Château de la Solenzara, Löwen-Maul, S. 142) oder den Hahnenschrei zum Teil eines natur-magisch aufgeladenen Ritus erklärt („Un gallo in lontananza/ripete un rito antico“, Le attese, le tensioni…, Mnemosyne, S. 386). Andere Symbole erschließt der Kontext: Das Eröffnungsgedicht des Sardinien-Zyklus in Fünfzehn Jahre Augenblicke, Massi…, läuft nach der Evokation der anthropomorph dargestellten sardischen Landschaft auf ein Artefakt, ein fremd-artiges, künstliches Objekt zu („Una colonna greca/è un simbolo estraneo/al paesaggio“, S. 44), das die Sonderstellung Sardiniens außerhalb der Magna Graecia und, mittelbar, den ungefügen, rauhen Charakter der Insel anschaulicher nicht ausdrücken könnte – und Winckelmanns aus klassischer Position ausgesprochenem Verdikt über die sardischen Bronzen entspricht, deren Form und Bildung „ganz barbarisch“ seien.

Die Affinität Sannas zur Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts äußert sich wiederholt durch eine hohe Bildhaftigkeit des Gedichtes insgesamt und offenkundig intermediale Bezüge: Tutto mi sembra… (Fünfzehn Jahre Augenblicke) beruft sich auf den gefrorenen Realismus Edward Hoppers; Karbach lehnt sich mit seinen großflächig aufgetragenen Farben an expressionistische Landschaften an; Samaden (ebenfalls Wacholderblüten) präsentiert eine rote Blüte nach Art der Neuen Sachlichkeit, isoliert inmitten einer Winterlandschaft. Einige Gedichte bilden Raum-Installationen derart plastisch nach, dass der Leser, obwohl Sanna fast völlig ohne beschreibende Elemente auskommt, die archetypischen Figuren greifbar vor sich zu sehen meint; dazu zählen der Radio hörende Einsiedler am See (L’eremita…) oder die Schwangere auf der Rasenfläche (Sur la pelouse…, beide Löwen-Maul); noch sorgfältiger inszeniert Quadratscha (Wacholderblüten) ein inferno-rotes Interieur, einen bedrohlich wirkenden Un-Ort.

Vielschichtig, aufgebrochen in eine Folge fragmentierter bildlicher Splitter stellt Sanna dagegen Alte Kunst dar – und bedient sich dabei eines unerwartet elegischen Tones; Pisa und Parma (Feste) breiten aus, wie bei der Betrachtung des Pisaner Campo Santo oder des Baptisteriums zu Parma die Kunst der italienischen Frührenaissance als kenntnisreiche „visione/del particolare“ (Parma, S. 282) er- und belebt wird. Nicht der weit ausholenden, beschreibenden Gesamtschau, Rapport des Bildungsreisenden, sondern den für viele Betrachter belanglosen Details, sei es der bronzene Hippogryph oder ein antikes Relief, gilt die Aufmerksamkeit des Autors, der, vor dem Baptisterium zu Parma stehend, seine eigene (dichterische) Existenz in der Lünette des Südportals dargestellt findet. Beide Male allerdings holt Sanna, ganz illusionsdurchbrechend, sich und den Leser wieder in die Wirklichkeit zurück: Der Blick auf diese Kunst, übrigens ein symbolischer „sguardo in alto“ (Parma), übersieht keineswegs den distanzierenden Rahmen.

Ungleich wirkungsmächtiger (und faszinierender) aber sind die Rätsel-Bilder, die Sanna dem Leser aufgibt. So skizziert das Gedicht Hôtel-Dieu (Feste) eine entlegene mittelalterliche Heiligenlegende, lässt sich aber von seiner Struktur her genauso als suggestive Reihung einzelner Bilder lesen, als quasi-surrealistische Einladung zum freien Assoziieren, und insbesondere die vom Schlussvers vorgeschlagene Aufhebung der passiven Rezeptionshaltung öffnet das auf den ersten Blick hermetisch wirkende Gedicht beträchtlich. Selten trifft die interpretatorische Binsenweisheit, dass bedeutende Lyrik den Leser zu allererst mit sich selbst konfrontiert, mehr zu. Sanna fordert regelrecht dazu auf, gleichsam den Gang ins Bild zu tun, d.h. die weitgefassten Symbole (Einhorn, Heiliger, Eichenzweig) mit Leben zu erfüllen und damit das Gedicht erst zu vollenden. Ganz zur enigmatischen Chiffre wird das klassische Wappentier des Dichters, der Schwan, der längst nicht mehr seine symbolistischen Kreise zieht, sondern, reines Zeichen, im Sturzflug auf einen See herabstößt: „Effemeride di un week-end:/picchiata/del cigno/nelle acque/del lago“ (Löwen-Maul, S. 176). Unverkennbar: Sanna schreibt die pictura eines Emblems, dessen inscriptio und subscriptio fehlen; das Symbol des Schwans wird für die Gegenwart nicht neu besetzt, sondern fern jeder interpretatorischen Eindeutigkeit zu einem seines Inhalts beraubten leeren Zeichen erklärt. – Mitunter erteilt Sanna dem Leser, der nach Erläuterung fragt, eine klare Absage: Nachdem er die verschneite Winterlandschaft beschrieben hat („La neve riposa/sui bracci lunghi degli abeti/curvi come tube tibetane“, Wacholderblüten, S. 104), schlägt er, statt den ungewöhnlichen Vergleich weiter auszuführen, eine schneeglitzernde Volte („Attendi un suono/ma ricade una pioggia/di polvere bianca/che brilla al sole“). Zwei Gedichte belegen ausdrücklich, welch hohe, ja so scheint es, zentrale Bedeutung Sanna dem „segno“ innerhalb seines Werkes beimisst. Manche Zeichen wirken kraft ihrer selbst lange nach, bis sie sich allmählich enthüllen: „Non è il senso/che lascia tracce/ma il segno/e per capirlo/occorre spesso/tutta una vita“ (Feste, S. 234), andere beanspruchen womöglich, überlegt der Autor, Allgemeingültigkeit über ihr Bezugssystem hinaus („Ho scoperto il rosso/nel verde della natura/Che significhi/fermati/come il rosso del semaforo?“, Wacholderblüten, S. 86). Am Beispiel des zweigeteilten und gespaltenen, halb menschlichen, halb tierischen Fabelwesens thematisiert Centauri (Wacholderblüten) das für Sanna grundsätzlich problematische Wesen des Zeichens selbst: „Fatale/la disamina/sul segno/Fuoco?/Si!/Ma dove?“ (S. 112) Das versteckte (göttliche) Feuer, worunter wohl der jedem bedeutenden Zeichen noch eigene Rest des Numinosen bzw. des Undeutbaren zu verstehen wäre, behalten diese Bilder weiterhin, und daher rühren ihr Glanz und ihre Größe.

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