Kitabı oku: «Zum poetischen Werk von Salvatore A. Sanna», sayfa 3
III
Für die (durchaus kritische) Auseinandersetzung Sannas mit der deutschen wie mit der italienischen Dichtung des 20. Jahrhunderts stehen exemplarisch die Namen Gottfried Benn und Eugenio Montale. Benn übt auf Sanna insofern einen zumindest mittelbaren Einfluss aus, als er, nach Kriegsende zum identitätsstiftenden Autor und idealen Vertreter einer im konservativen Sinne verstandenen Moderne erklärt, mit seinen Statischen Gedichten (1949) sowie den folgenden Sammlungen Fragmente (1951), Destillationen (1953) und Aprèslude (1955) tatsächlich bis Anfang der 1960er Jahre das literarische Leben der Bundesrepublik beherrscht. Die kurzfristige Sympathie mit dem Nationalsozialismus und seine aristokratisch begriffene „Innere Emigration“ schaden ihm dabei nicht, im Gegenteil, mit der Rehabilitation Benns erteilt sich, inzwischen selbstbewusst geworden, das Adenauer-Deutschland eine literarisch-politische Absolution. Benns Ruhm – unter anderem erhielt er 1953 von Theodor Heuss das Bundesverdienstkreuz – gründet, abgesehen davon, dass ernsthafte Konkurrenten fehlen, hauptsächlich auf seiner entschieden vertretenen Position des apolitischen, ichbezogenen Dichters, der, jegliches Engagement ablehnend, eine im Grunde romantisch-eskapistische, also sehr deutsche Gefühlslyrik ins 20. Jahrhundert hinüberrettet. Am restaurativen Literaturverständnis jener Zeit, das einem von außen kommenden, unvoreingenommenen Blick umso deutlicher wird, setzt Sannas kritische Beschäftigung an. Obwohl sich eine Reihe Reminiszenzen, intertextueller Bezüge oder Parallel-Stellen zu Versen und Gedichten Benns leicht nachweisen lassen, vor allem in der ersten Sammlung Fünfzehn Jahre Augenblicke, lehnt Sanna schnell Benns zynische Haltung des elitären und kultur-pessimistischen Dichters ab und verneint entschieden die Frage, ob eine aus der Zeit gelöste Haltung der Kunst um der Kunst willen nachahmenswert sei. Vordergründig politisch gibt sich freilich Sanna nie; es fehlen, sieht man von Carnevale ’59 (Wacholderblüten) ab, Auseinandersetzungen mit der unmittelbaren deutschen Vergangenheit; nur ein einziges Mal, in Erano i frutti ancora/ verdastri… (Mnemosyne), ereignet sich plötzlich ein flashback in die Vergangenheit, öffnen sich die „falde/d’un tempo barbarico“ (S. 352). Vielmehr widmen sich – und hierin liegt Sannas Engagement, das ihn von Benns sprichwörtlichem Nihilismus trennt – wiederholt Gedichte den sich verändernden gesellschaftlichen Zuständen im Deutschland und Italien der späten 1960er und 1970er Jahre (etwa Ingrid, Filastrocca oder Paternale in Wacholderblüten); Vorbild dieser nie belehrenden, aber oft ironischen Betrachtungsweise dürfte Heinrich Heine sein, über dessen Epen Atta Troll und Deutschland. Ein Wintermärchen Sanna promovierte (vgl. Hoppla… und Parcheggio, beide Löwen-Maul).
Der zweite Autor, für Sanna ungleich leitbildhafter, ist Montale. Sanna erkennt in ihm den wohl internationalsten italienischen Autor des 20. Jahrhunderts, denjenigen, der durch Rezensionen und eigene Übersetzungen (hauptsächlich aus dem Englischen, u.a. Dylan Thomas, T.S. Eliot, Ezra Pound) die zeitgenössische ausländische Literatur dem italienischen Publikum vorstellt. Montale erscheint als Modell des zwischen den Literaturen vermittelnden, des europäischen Dichters mit weltliterarischem Hintergrund; außerdem ignorierte Montale nie das Zeitgeschehen, dafür steht, was zu seinem hohen Ansehen nach dem Krieg ebenfalls wesentlich beitrug, seine eindeutige Ablehnung des Faschismus. Von dieser in Montale beispielhaft vorgebildeten Rolle des Dichters abgesehen, regen insbesondere die zweite Periode, die späten Zyklen, Sanna an, der, als Montale 1981 stirbt, in seiner Würdigung darauf hinweist, dass die italienische (oder allgemein die moderne) Lyrik gerade aus diesen gemeinhin für gering geachteten Gedichtsammlungen zu einer Erneuerung gelangen könne. Aus Satura (1971), dem Diario del ’71 e del ’72 (1973) und dem Quaderno di quattro anni (1977) zieht Sanna poetologischen Gewinn, beobachtet den ganz neuartigen Notat-Charakter einer Lyrik, die, allem Pathos misstrauend, das Gedicht auf nie zuvor gekannte Weise in den Alltag einbettet. Sein stark an der arte povera ausgerichtetes, zutiefst mimetisches Gestaltungsprinzip thematisiert Montale selbst in Realismo non magico (Satura II), darin er einer allen Zaubers beraubten Wirklichkeit das Wort redet, einer ernüchterten Wirklichkeit, die auf die Frage „Che cosa resta incrostato/nel cavo della memoria“ mit der Aufzählung banaler Lebensereignisse antwortet. Aus dieser unbeteiligten, kühlen, wie zurückgenommenen Darstellungsweise, die ihm als der Moderne einzig gemäß erscheint (und vielleicht als Reaktion auf eine poesie-feindliche Welt zu sehen ist), bezieht Montales späte Lyrik ihre überzeugende poetische Kraft. – Beide, Montale (Xenia I und Xenia II, Satura) und Sanna (Mnemosyne) schreiben über den Tod der Partnerin, ein klassisches, vor allem durch Petrarca der italienischen Literatur empfohlenes Thema; beide um-schreiben ihn, gehen ihn langsam, auf Umwegen an, setzen ihn aus mehreren Gedichten zusammen – und dennoch gewinnt der Tod, jenseits romantischer Gefühlsausbrüche, eine bedrohliche Gestalt. Wie verschieden die Lyriker Montale und Sanna voneinander letztlich bleiben, zeigt ein Blick auf zwei aus dem gleichen Anlass hervorgegangene Gedichte. Noch in A mia madre (La bufera, 1940–54) nimmt Montale angesichts des Todes seiner Mutter Zuflucht zu einem beschwörenden, neo-klassischen Tonfall („Ora che il coro delle coturnici/ti blandisce nel sonno eterno…); Sannas Gedicht Abschied (Feste) hingegen reiht Bild an Bild, Eindruck an Eindruck („Sorriso giovanile, odore/acre d’alghe bruciate/sciacquio di mare“, S. 236) und überzeugt durch den Schmerz, der sich hier unverfälscht Bahn bricht.
IV
Was heißt Dichtung, wozu Dichten? Über Sinn und Daseinsberechtigung der Poesie und folglich auch über die Aufgabe des Dichters stetig reflektierend, stellt sich die Lyrik Salvatore A. Sannas diesen Fragen mit einer selbst für die Moderne bemerkenswerten Konsequenz. Eine der wesentlichen Aufgaben, die Sanna der Lyrik wie auch der Dichtung im allgemeinen zuteilt, ist – und diese Feststellung mag erstaunen – das Spielen: Mit dem Gedicht und seinen Bestandteilen, mit der Erwartungshaltung des Lesers, vor allem aber mit der Wirklichkeit. So erlaubt sich Sanna neben dem häufig vorkommen den komischen Detail, dem respektlosen Sperling (Il passero umanista…) oder der Landzunge in Form eines Walfisches („Quella balena giallognola“, Torre del pozzo…, beide Mnemosyne), spätestens mit Wacholderblüten regelmäßig Ausflüge, Ausbrüche ins Surreale. Bemerkenswert jene als „anziane signore/imparruccate“ (Estate, Wacholderblüten, S. 70) verkleideten Platanen oder der „piccolo lok/ribelle“ auf der Suche nach amourösen Abenteuern (Viafier, Feste, S. 228); genaueres Hinsehen zeigt freilich, dass hier jedes Mal mit der Sprache (und vielleicht auch um die Sprache) gespielt wird, denn die Platanen, im Italienischen männlichen Geschlechts, verwandeln sich, unübersetzbar, zu betulichen Damen, während Sanna seinem stählernen Casanova den Neologismus „lok“ (für „locomotiva“) verleiht, was die Übersetzung von Gerhard Goebel so elegant mit „Triebwagen“ (S. 229) wiedergibt. Oder sollte man, bei freier, ganz sprach-spielerischer Interpretation, gar den kleinen log(os) erkennen wollen, das Wort, das sich in einer wilden écriture automatique selbsttätig zu Sätzen reiht? Piano bar erzählt beziehungsreich davon, wie sich ein Bar-Pianist aus dem banalen Alltagsgeschäft in die Regionen der E-Musik emporspielt, und ein Gedicht später steigt ein Standbild von seinem Sockel herab und setzt sich ins Café (Edoardo VII, beide Löwen-Maul). Nach dem Vorbild eines Dino Buzzati oder Italo Calvino wollen diese scheinbar leichthin entworfenen, doch sorgsam elaborierten Miniaturen die Unerbittlichkeit des Alltags mit einer poetisch-wunderbaren Atmosphäre überziehen und erhöhen, weshalb sie von verblüffenden Verwandlungen handeln. Solcherart in Frage gestellt, verliert die vermeintliche Wirklichkeit ihre Schrecken, deren größte Banalität und Langeweile sind. Dass das Spiel, das Unernste und Heitere, stets subversive, befreiende Züge besitzt, bleibt nicht die geringste, dem Leser mitgegebene Lehre.
Dichten heißt Erinnern – und gleichzeitig Vergessen. Anfang und (vorläufiges) Ende dieses Werkes beschäftigen sich, bezeichnend genug, mit der Erinnerung und, in einem weiteren Sinne notwendigerweise, mit dem Phänomen der Zeit, die es durch den Vorgang des Erinnerns im Gedicht aufzuheben gilt. Bereits der antithetisch gefügte Titel Fünfzehn Jahre Augenblicke stellt der schwer wiegenden Zeit ein scheinbar widersinniges und unwirksames, doch tatsächlich ausgleichendes Gegengewicht an die Seite, nämlich Moment-Aufnahmen, festgehaltene Impressionen, Augen-Blicke, die sich ihrerseits im nachhinein, im Kontext der Sammlung, zu einem großen Bildmosaik der Erinnerung zusammensetzen. Aber Sannas Sichtweise bleibt, das zeichnet sich bereits in den ersten Gedichtbüchern ab, nie auf ein simples foto-realistisches Verfahren beschränkt, vielmehr setzt er, ohnehin stets um subjektive Wiedergabe bemüht, vorzugsweise grelle Verfremdungseffekte ein, um dem Leser nur ja etwas deutlich vor Augen zu führen, seien es maskenhafte Gesichter („Rosso, bianco avorio/labbra stirate/in un sorriso“, Fünfzehn Jahre Augenblicke, S. 14) oder ein typisches Detail des deutschen Karnevals („la birra sulle salsicce oleose“, Carnevale ’59, Wacholderblüten, S. 72). Den kaleidoskophaft bewegten Erinnerungen an die Anfangsjahre in Deutschland, an Reisen, Menschen und Liebesbeziehungen folgen in den Sammlungen Feste und vor allem Mnemosyne ungleich gewichtigere, sehr persönliche Gedichte über den Tod der Mutter und später seiner Lebensgefährtin. Das als moderne Nänie angelegte Gedicht Abschied (Feste) bietet, Vergangenheit und Gegenwart, Kindheitseindrücke und philosophische Überlegungen vermischend, den Blick in einen dissonanten Strom durcheinanderwirbelnder Bilder und Emotionen, darin sich nur eine tröstliche Gewissheit verbirgt: „Alla sorte del tempo/anche gli dei sono/soggetti. Chi li vive/ne ricorda la presenza/impetra aiuto/sul baratro che è fondo“ (S. 236/238). Diese sentenzartigen Verse inmitten eines anscheinend spontan niedergeschriebenen Gedichtes nehmen bereits die Anrufung einer haltverheißenden Klassik vorweg, der griechisch-römischen Antike, daraus Sannas fünfter Gedichtband die Mutter der Musen, die Titanin Mnemosyne (d.i. die archaische Personifikation der Erinnerung und des Gedächtnisses) als mächtiges Schutz-Zeichen wählt. Bedrängende, herandrängende Erinnerungen, bewältigte und dichterisch schon festgehaltene, doch auch sich eben erst bildende Erinnerungen begegnen dem Leser in Mnemosyne überall; Sanna verarbeitet, verwandelt sie zum Gedicht, er schreibt: „Mi scopro a mettere/i ricordi ormai pallidi/in grandi valige/dentro scatoloni di cartone“ (S. 346) – und paraphrasiert damit den Prozess des Schreibens, der mit der Verwahrung der Gedichte zwischen zwei Buchdeckeln endet. Wie aus einem allmählichen Klärungsprozess das Gedicht entsteht, thematisiert Sanna ebenfalls am Vergleich der Erinnerungen mit den Maulwürfen, die aus dem großen Unten empordrängen („I ricordi balzano fuori/dal fondo della terra/come le talpe in primavera“, S. 358), doch sogleich wieder, da sie noch keinen gültigen formalen Halt haben, in sich zusammenfallen („e le immagini disgregate/rientrano“, ebd.). Den Feind, gegen den Sanna anschreibt, benennt S’incrociano le visioni…, es ist die zerstörerische, die heraufbeschworenen Bilder trübende Zeit („Il tempo le [le visioni] opacizza“, S. 374). Vermag die Erinnerung, die Zeit zu überwinden? Haben die einmal gefundenen Bilder Bestand? Kann die im Gedicht bewahrte Erinnerung trösten? Sanna hält darauf die Antwort einiger Gedichte bereit. In Le natiche bianche del cavallo… reist der Autor mit seiner Lebensgefährtin in den sardischen Frühherbst einer stilisierten Kindheit zurück, doch obwohl die Vergangenheit lebendig wie ein Film abrollt, löst die letzte Strophe den ganzen Zauber jäh auf, vernichtet die Zeit das für die flüchtige Dauer des Gedichtes zuvor wahrgewordene Wunder: „ma il tempo/aveva distrutto il miraggio“ (S. 380). In andern Fällen gelingt Sannas Unterfangen, das beweisen eine knappe Handvoll Gedichte – Ritorno a casa, Gli occhi di Santa Lucia…, Erano i frutti ancora/verdastri… oder Il San Rocco sul pianerottolo… –, die alle die Harmonie einer im Gedicht wiedergefundenen Zeit durchzieht.
Schließlich besinnt sich Sanna auf die älteste und zu allen Zeiten höchste Funktion der Lyrik. Dichten heißt Zaubern, magisch Sprechen, durch Sprache Bannen. Bereits am Schluss von Fünfzehn Jahre Augenblicke spricht Sanna an und zu Sardinien: „La tua crosta è ruvida/mare ha corroso le rocce/vento ha appianato le cime/vulcano ha perso le forze“ (S. 62); und später in Le natiche bianche del cavallo… (Mnemosyne) beschwört er noch einmal Kindheitserinnerungen gleichsam in einem Zauberspruch herauf: „Rivedo i fichi bianchi/sugli alberi, le corniole/le vernacce, sento l’odore/del mosto e delle vinacce/il gusto dei minestroni/di cavoli e di verdura“ (S. 378/380).
Mit seiner Lyrik ein Wunder zu bewirken, versucht Sanna, wenn er, für die Dauer eines Gedichtes, in die mythologische Maske des Sängers Orpheus schlüpft (Fossile della specie umana…, Feste), der, um seine Geliebte Eurydike aus dem Hades heraufzuholen, die unterweltlichen Götter mit seiner Musik verzaubert. Wie sein antikes Vorbild scheitert Sanna; was er aus seinem Gang in die Unterwelt der eigenen Psyche mitbringt, sind die auf magische Weise zu Gedichten verwandelten Erinnerungsbilder.
V
Sanna hat für jegliche im Ausland entstandene Literatur den Begriff der „letteratura de-centrata“ geprägt, womit er eine ihres kulturellen Zentrums beraubte Literatur meint, die im selbstgewählten oder unfreiwilligen Exil vor allem ihre eigene, besondere Situation thematisiert. Ob er selbst darunter fällt, bleibt recht fraglich, zumal ihm seine fortdauernde Vermittlertätigkeit zwischen Deutschland und Italien weiterhin profunde Kenntnisse des italienischen Kulturkreises abverlangt, so dass die Verbindung dorthin umso enger fortbesteht. Vielmehr scheint es, als habe man es mit einem Phänomen des Überganges zu tun, wird sich doch ein zusammengewachsenes Europa, das aus transnationalen Regionen besteht, von den dann überflüssig gewordenen Begriffen der „letteratura de-centrata“ und der „letteratura centrata“ längst gelöst haben. Angesiedelt auf einem Kontinent ohne Nationalstaaten und ihre zentralistischen Hauptstädte, beruft sich eine zukünftige europäische Literatur auf viele Zentren und Vorbilder, Bezugs-und Anknüpfungspunkte in Vergangenheit und Zukunft und verdankt ihre vitale Kraft ständigem interkulturellem Austausch. Mit seiner Person und Lyrik vertritt eine solche offene Haltung Salvatore A. Sanna, der – Sarde, Italiener, Deutscher – vor allem ein guter, ein idealer Europäer ist.
Salvatore A. Sanna: Die „Feste“ der Worte1
[1995]
Grazia Pulvirenti
„So kam ich unter die Deutschen.
Ich forderte nicht viel und war gefaßt,
noch weniger zu finden.“
(Friedrich Hölderlin, Hyperion)
Dieses kurze Hyperion-Zitat wurde nicht im Sinne einer Anspielung auf eine gestörte Beziehung zwischen Migranten und deutscher Wirklichkeit gewählt. Es ist noch heute eine treffsichere Schilderung des modernen Menschen eines jeden Landes und jeder Kultur. Die Empfindungen Hyperions offenbaren die Suche nach dem Selbst, nach der Einheit zwischen dem Individuum und einer erhofften harmonischen Welt, gerade in einer Zeit der Zersplitterung, der Entfremdung, des Verlustes. Eine ähnliche Haltung gegenüber der Fremde spürt man in den Gedichten Salvatore A. Sannas. Die Suche führt schließlich zu einem Ort jenseits von Raum und Zeit, zu der „Feste“ seines letzten Gedichtbandes. Das Trauern um den Verlust ist jedoch nicht die Grundstimmung von Sannas Lyrik. Diese zeichnet sich vielmehr durch Nachdenklichkeit und eine wiedergefundene „Freude“ aus, die nicht von der epikureischen Göttin der Anakreontiker, sondern von der alle Widersprüche und Unausgeglichenheiten überwindenden Harmonie verkörpert wird. Diese wird durch die oxymorische Struktur der letzten drei Bände vermittelt. Das Oxymoron – Alltägliches/Erhabenes in Wacholderblüten, Endlichkeit/Ewigkeit in Löwen-Maul, Ordnung/Freiheit in Feste – ist Ausdruck und Auflösung der Widersprüche zugleich.
Inhalte, Stil und Sprache, die Anwendung der Metrik der klassischen italienischen Dichtung und der Einsatz von Metaphern rücken die Lyrik Sannas mehr ins Blickfeld der ,letteratura metropolitana‘, d.h. der italienischen Gegenwartsdichtung – wenn auch mit anderen Konnotationen –, als in jenes der Ausländerliteratur. Die durch das Leben in der Fremde unterbrochene Beziehung zum eigenen Land und zu den heimatlichen Traditionen wird durch ein vielleicht unbewusstes Wiedergewinnen des sprachlichen Vermögens italienischer Dichtung neu gestaltet: Sannas Lyrik zeichnet ein ständiges Vortasten zu den bildlichen und klanglichen Elementen des lyrischen Materials aus.2
Zwei Koordinaten – die Suche nach dem inneren Gleichgewicht und das Streben nach einer ihr angemessenen Sprache – begegnen sich und lassen eine ganz persönliche Welt entstehen, in der Gegenwart und Vergangenheit, Fremde und Heimat, Mensch und Natur einander gegenübergestellt werden. Durch die Umsetzung seiner Erfahrungen in eine verdichtete Sprache sucht Sanna den Leser anzuregen, die gewohnte Wirklichkeit neu wahrzunehmen. Dieser Prozess der Bewusstwerdung kann zur Selbsterkenntnis und damit auch zu einem inneren Gleichgewicht führen.
Die zweite Komponente ist die lyrische Sprache: Von ihrer etymologischen Bedeutung her betrachtet ist Lyrik, nach dem griechischen lyra, jene poetische Form, die von der Musikalität geprägt ist, und in der individuelle Gefühle des Autors zum Ausdruck gebracht werden. Hugo Friedrich bezeichnet die Lyrik als die „Sprache des Gemüts, der persönlichen Seele“3 – diese heute leider altmodische klingende Aussage scheint uneingeschränkt auch für Sanna zu gelten.
Besonders im ersten Band, der den Titel Fünfzehn Jahre Augenblicke trägt und Gedichte aus der Zeit von 1962 bis 1977 enthält, setzt sich der Autor mit seinen persönlichen Erlebnissen auseinander. Die Konfrontation mit der fremden Umgebung ist Thema dieses Bandes, dessen Gedichte beabsichtigen, verschiedene Kulturen und Lebensauffassungen einander näher zu bringen.4 Die Begegnung mit dem Gastland ist hier eher als Etappe einer gerade angefangenen Reise denn als etwas Endgültiges zu sehen. Die Reaktion des Autors gleicht jener eines Reisenden, der eine neu entdeckte Dimension innerlich erlebt:
Tutto mi sembra | Alles erscheint mir |
estraneo | fremd |
per le vie del nuovo | in den Straßen des neuen |
quartiere | Viertels |
[…]5 | […] |
Wenn auch in manchen Gedichten die Kollision mit der deutschen Wirklichkeit und die damit verbundenen Schwierigkeiten eine große Rolle spielen, so werden die neuen Eindrücke und die Wahrnehmung noch unbekannter Landschaften doch unmittelbar verarbeitet. Diese Auseinandersetzung beschränkt sich jedoch nicht auf die Fremde als Ort der Emigration: Einige Gedichte dieses Bandes und auch der folgenden Bände schildern Erlebnisse in anderen Städten und Ländern. Der Umgang mit der Sprache unterscheidet sich hier von der bewussteren und gezielteren Handhabung in den späteren Gedichten.
Sanna versucht, über die Sprachgrenzen hinauszugehen, in Kommunikation mit anderen Menschen zu treten. Diese ist auch ohne Worte in einer anders kodierten Sprache möglich:
[…] | […] |
Ma c’è un linguaggio muto | Aber eine stumme Sprache ist es |
che ci attrae | die uns anzieht |
ricco d’irregolarità | voller Unregelmäßigkeiten |
e parliamo, parliamo6 | und wir reden und reden |
Die Liebe wie die Sprache erweisen sich als Grunderfahrungen des Menschen: Durch sie sind Glück und Annäherung, aber auch deren Umkehrungen möglich.
Auch der Teil des Bandes, der Sardinien gewidmet ist, stellt keine Rückkehr zur Vergangenheit, zur Kindheit dar, sondern vielmehr die Auseinandersetzung mit der eigenen Entwicklung, auf der Suche nach Identität:
[…] | […] |
C’è un mare ovale | Es gibt ein Meer |
per la sua cornice | oval in seinem Rahmen |
che ti rimette l’infanzia | das mich in die Kindheit versetzt |
e ti fa sognare | und träumen läßt |
un viaggio | von einer Reise |
di là da essa7 | aus ihr heraus |
Das Ziel der hier begonnen Reise ist noch unscharf charakterisiert, aber es deutet auf eine Loslösung von der Heimat hin.
Eine völlig neue Atmosphäre ist in der zweiten Gedichtsammlung, die den klangvollen Titel Wacholderblüten trägt, zu spüren. Eine Verwandlung sowohl hinsichtlich der Wahrnehmung als auch der Sprache hat stattgefunden. Die Konturen des lyrischen Subjekts verschwimmen, und aus der im vorhergehenden Band noch biographisch geprägten Individualität wird eine entpersönlichte lyrische Stimme, welche das Reale dichterisch gestaltet. Die daraus entstehende Welt ist noch immer die wirkliche, jedoch durch die Entdeckung eines ihrer tiefsten Wunder verklärt: Das „Erhabene“ ist im „Alltäglichen“ verborgen, und das „Alltägliche“ wird als das „Erhabene“ erlebt.
Anche il sublime | Selbst das Erhabene |
diventa quotidiano | wird zum Alltäglichen |
e di sé ancora | und verschärft so aufs Neue |
riacutizza il desiderio8 | nach sich das Verlangen |
Die in diesem Oxymoron entdeckte Harmonie wird durch die Euphonie der Sprache dichterisch erreicht. Jedes Wort schafft durch seine Isolierung im Kontext und durch den Klang neue Konnotationen.
Das Unsagbare wird durch eigenwillige Laut-Kombinationen wahrgenommen: Die Baumzweige, „bracci lunghi degli abeti“, welche in alliterierende „tube tibetane“ verwandelt werden, bekommen ein der Wirklichkeit fremdes Dasein. Dadurch verleihen sie dem „suono“, dem „annuncio“ der dann folgenden Verse eine verfremdete Bedeutung.9
Sanna operiert also mit den Impulsen der Sprache, mit den „geheimnisvollen Zaubermächten des reinen Tönens“,10 wobei die Klangfiguren die neue Atmosphäre dieser erdichteten Welt schaffen.
Die schon im ersten Band angedeuteten Motive erklingen im zweiten wieder, aber so verwandelt, dass sie kaum zu erkennen sind. Landschaftsbilder bedürfen jetzt keiner Beschreibung und dienen nicht mehr vordergründig der Objektivierung von Seelenzuständen: „Ho scoperto il rosso/nel verde della natura“ („Ich habe das Rot/im Grün der Natur entdeckt“).11 Ein bestimmter bedeutungsvoller Augenblick tritt in den Mittelpunkt von nur angedeuteten Ereignissen.
Die neu auftretenden Vorlagen künstlerischen und literarischen Ursprungs – „Melottianische Pendel“, „Reminiszenzen“12 – sowie das Motiv der Liebe werden in einen hermetischen Kosmos versetzt:
Sei Frine | Bist Phryne |
sei bella | bis schön |
hai fascino | hast Reiz |
hai mura | hast Mauern |
di fuoco13 | aus Feuer |
Der eigentlich seltsame Aufbau der Strophe durch gleichmäßige jambische Ternaren, die doppelte Alliteration – „sei“, „hai“ –, die Wiederkehr der Palatalvokale /i/, /e/ und /a/ und das Auftreten der Velarvokale erzeugen hier eine sonderbare Musikalität. Darüber hinaus greift der Autor auf Gestalten der Antike zurück, deren Geschichte eine verschlüsselte Aussage mit Bezug zur Gegenwart erlangt, eine Tendenz, die in den späteren Gedichten verstärkt auftritt.
Das folgende kurze Gedicht aus dem Band Löwen-Maul ist Ausdruck einer gereiften und differenzierten Lebensauffassung:
Tutto si rimescola | Alles verbindet |
nella notte | neu sich in der Nacht |
per rifiorare | um zu erstehn |
in forma d’asfodelo14 | als Asphodelenblume |
In der Nacht, wenn die Erlebnisse des Tages überdacht werden, lösen sich Unausgeglichenheiten, Gegensätze und Spannungen auf. Das müde Weiß der Asphodele, der Blume des Totenreiches, des Elysiums, steht symbolhaft für die wiedergefundene Einheit des Ichs mit dem Ganzen, möglicherweise als moderne Variation der „blauen Blume“ der Romantik.
In ähnlicher Weise verkörpert die Figur des Einsiedlers das Symbol der Vereinigung mit dem allumfassenden Leben:
L’eremita | Der Einsiedler |
au bord du lac | au bord du lac |
vi ha eretto la tenda | hat sein Zelt aufgeschlagen |
la radio trasmette | das Radio bringt |
musica jazz | Jazz |
e lui | und er |
si sente parte | fühlt sich Teil |
del tutto15 | von Allem |
Ein fast synkopierter Rhythmus durchdringt sie Verse, die nicht mehr durch phonetische Spiele wie Alliterationen oder Assonanzen gebunden werden, sondern durch ungleichmäßige Taktreihen.
Auch in den anderen Gedichten tragen die Anwendung des Enjambements, die Wiederkehr französischer und archaisierender Wörter, die aufgrund ihrer Musikalität ins Sprachgewebe hineingezogen werden, z. B. „pelouse“, „juge de paix“, „occàso“, „riseca“, „avornello“, „appropizia“, zu einer beschwingten Stimmung bei.16 Solche Wörter rücken die Ereignisse in eine zeitlose Sphäre, in der Mythen der Vergangenheit und Empfindungen des Augenblicks miteinander verschmelzen. Auch surreale Momente schärfen die Konturen des beschriebenen Erlebnisses:
Edoardo VII | Eduard VII. |
stanco di tanto teatro | all des Theaters müde |
quando può | steigt sobald möglich |
scende da cavallo | vom Pferd |
e sulla grande piazza | und auf dem großen Platz |
a La Pointe St. Eustache | an der Pointe St. Eustache |
comanda un café crème17 | bestellt er einen Café crème |
Im Mittelpunkt der dichterischen Welt Sannas stehen die Liebe als Summe von unantastbaren Geheimnissen und die Grenzüberschreitung des Physischen in den unbegrenzten Raum der Seele. Die Liebesgedichte haben immer etwas Erotisches, und die Figur der Geliebten umgibt ein Hauch des Mythischen: Von Psyche, deren Name zugleich Seele bedeutet, Elisabeth, Inbegriff der Opferbereitschaft, der „normannischen Fee“, bis zur zweideutigen Figur der Polia, in der die „erstgeborene Fortuna“ lebt.18 Die Liebe ist auch ein Prozess der Läuterung: Der Autor identifiziert sich mit einem „Du“ und gewinnt neue Klarheit:
Bianca è la luce | Weiß ist das Licht |
[…] | […] |
Il chiarore di Lei | Das Helle an ihr |
è dell’occhio | kommt vom Auge |
penetra la penombra | durchdringt das Dämmern |
della notte19 | der Nacht |
Die Liebe ist außerdem Teil jener wiederentdeckten Einfachheit des Lebens, durch die in der Endlichkeit Ewigkeit gespürt wird: