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Dienstag, 21. Januar, bis Donnerstag, 23. Januar
+ + + STAATSMÄNNER IM SCHNEE + + + »JEDEN TAG WELTUNTERGANG« + + + WUHAN MACHT DICHT + + + ALARM IN LIEBEFELD + + + HUSTEN IM HOTELZIMMER + + +

Die Weltelite reist ans Weltwirtschaftsforum (WEF). Alle sind zum Auftakt am 21. Januar in Davos, auch die Chinesen.

Der amerikanische Präsident Donald Trump hält – trotz Amtsenthebungsverfahren – eine der Eröffnungsreden. Trump lobt Donald Trump und Donald Trumps Politik. Beispielsweise sei das Verhältnis zu China »besser denn je«, betont er. Das Virus erwähnt er mit keinem Wort.

Am selben Tag wird der erste Fall einer Corona-Infektion in den USA bestätigt. Noch ist nicht absehbar, dass die Vereinigten Staaten schnell zu einem der am schwersten betroffenen Länder werden. Vorerst weist einzig China Zahlen aus, die Besorgnis erregen könnten. Aber nicht bei Trump und offensichtlich auch nicht beim chinesischen Vizeministerpräsidenten, der in Davos kurz nach dem US-Präsidenten auftritt. Han Zheng singt ein Loblied auf die Globalisierung und die freien Märkte. »China wird sich der Welt weiter öffnen«, verspricht er und redet nicht über die Gesundheitskrise, die gerade grosse Gegenden in der Volksrepublik voll erfasst.

Dabei kommen aus Peking zum WEF-Auftakt beunruhigende Nachrichten. Chinas nationale Gesundheitskommission bestätigt erstmals, was zuvor verheimlicht wurde: dass sich das Virus von Mensch zu Mensch überträgt. Das ist es, was Fachleute weltweit fürchteten. Jetzt steht fest: Man muss definitiv nicht bei all den toten und lebendigen Fischen, Schlangen und Fledermäusen auf Märkten in Fernost gewesen sein, um sich anzustecken.

Präsident Xi Jinping, der nicht nach Davos gereist ist, sagt nun im Staatsfernsehen CCTV, das neue Virus müsse »ernst genommen werden«.

WENIGE STUNDEN vor dem Start des Forums in Davos hat die Reisegruppe aus Wuhan, in der sich das Coronavirus verbreitet, die Schweiz Richtung Paris verlassen. In der französischen Hauptstadt besorgen sich die erkrankte Mutter und ihre angesteckte Tochter am Tag des WEF-Auftakts Schutzmasken, die sie fortan meist tragen. All das wird eine minutiöse Rekonstruktion ihrer Reise durch die WHO ergeben, an der sich eine Woche später auch das Bundesamt für Gesundheit beteiligen wird.

Doch als das Weltwirtschaftsforum beginnt, hält das BAG das Risiko, dass das Virus nach Europa eingeschleppt werden könnte, weiterhin für gering – dies, obwohl es Direktflüge von Wuhan nach London, Rom und Paris gibt. Massnahmen bei der Einreise, wie sie Länder in Südostasien ergriffen, sind für das Schweizer Gesundheitsamt »im Moment nicht angezeigt«.

Das wäre aber sehr wohl angezeigt gewesen. Daran lassen spätere Analysen der frühen Corona-Ausbreitung keine Zweifel. Eine taiwanesische Airline annulliert in der WEF-Woche Flüge in die zentralchinesische Metropole, in der die Seuche wütet. Sie bleibt die Ausnahme.

DIE TEILNEHMER am WEF 2020 fürchten solche Massnahmen mehr als das Virus selber. Noch mehr gestrichene Flüge und andere harte Massnahmen würden den eben in den Eröffnungsreden gepriesenen Welthandel beeinträchtigen. Schlechte Nachrichten lassen die Aktienkurse bereits sinken, wenn auch erst wenig. Am Tag, als die Vertreter der beiden Supermächte ihre Auftaktreden in Davos halten, beklagt sich ein Börsenanalyst einer Schweizer Bank über den »viralen Stimmungskiller«.

Es wirkt wie Jammern auf hohem Niveau. Der Schweizer Index SMI ist in den Tagen zuvor über die Rekordmarke von 11 000 Punkten gestiegen.

DER EPIDEMIOLOGE Christian Althaus stösst, wie er später gern erzählt, am ersten WEF-Tag seine Wertpapiere ab. Althaus ist kein Finanzmarktspezialist, sondern an diesem 21. Januar ein Insider. Allerdings einer, der legal handelt.

Althaus leitet eine Forschungsgruppe am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern. Zusammen mit dem Postdoc Julien Riou hat er in diesen Tagen das Auftreten von Infektionen ausserhalb Chinas analysiert. Anhand von Virensequenzen kann er berechnen, wie schnell sich das Virus verbreitet. In diesem Fall: beunruhigend schnell.

Die Rechnung ist einfach. Jeder Infizierte steckt durchschnittlich etwa 2,2 andere Menschen an. Von Übertragung zu Übertragung braucht es sieben bis acht Tage. Somit verdoppelt sich die Zahl der Fälle jede Woche – das ist rasanter als bei Sars, das eher lokale Ausbrüche verursacht. Die Ausbreitung gleicht mehr der tödlichsten Pandemie der Neuzeit: der Spanischen Grippe vor mehr als hundert Jahren. Diese forderte schätzungsweise zwischen 20 und 50 Millionen Opfer.

An der Börse geht es abwärts.

ALAIN BERSET hat mit Donald Trump wenig gemeinsam. Aber eines verbindet den Schweizer Gesundheitsminister mit dem US-Präsidenten: Beide haben sich am gleichen Tag am gleichen Ort zum ersten Mal öffentlich zum Coronavirus geäussert, und zwar am 22. Januar, dem zweiten WEF-Tag, in Davos. Sogar die Absicht Bersets und Trumps scheint identisch: Beide wollen beruhigen. Das versuchen in jenen Wochen fast alle Spitzenpolitiker weltweit. Abgesehen davon könnten die Auftritte des Bundesrates aus dem Freiburger Vorort Belfaux und des Mister President aus dem New Yorker Stadtteil Queens unterschiedlicher kaum sein.

Trump, der Spontane und Unvorbereitete, wird in einem Fernsehinterview auf den ersten bestätigten Fall in Seattle angesprochen. »Gibt es zu diesem Zeitpunkt Sorgen über eine Pandemie?«, fragt der Journalist.

Trump: »Nein. Überhaupt nicht. Und … wir haben … wir haben alles unter Kontrolle. Es betrifft nur eine Person, die aus China kam, und wir haben alles unter Kontrolle. Es wird alles gut gehen.«

Der Interviewer ist sichtlich bemüht, dem US-Präsidenten etwas zum Virus zu entlocken. Ob man darauf vertrauen könne, dass China nichts vertusche, fragt der Journalist.

»Das tue ich. Das tue ich«, antwortet Trump, und schon schweift er ab: »Ich habe ein grossartiges Verhältnis zu Präsident Xi. Wir haben gerade den wahrscheinlich grössten Deal unterzeichnet, der je abgeschlossen wurde.«

Trump kann nicht wissen, dass das Virus eben noch in der Schweiz war. Und nun mit der Touristengruppe aus Wuhan in Paris angekommen ist. Dort fühlt sich inzwischen auch die Reiseführerin krank. Wie Mutter und Tochter, denen sie Europa zeigt, hustet die Chinesin. Zudem hat sie erhöhte Temperatur.

BUNDESRAT BERSET hinterlässt derweil in Sachen Corona in Davos einen deutlich informierteren und engagierteren Eindruck als Donald Trump. Doch das geht unter. Der Stargast aus dem Weissen Haus stiehlt allen die Show. Das Forum diskutiert heissere Themen als die Krankheit in China: die Top-Wirtschaftslage, den Klimawandel oder die von Trump angeordnete Tötung des iranischen Generals Qassim Soleimani.

Die ersten öffentlichen Äusserungen des Schweizer Gesundheitsministers zu Corona bleiben eine Randnotiz. Bersets Kernaussage: »Die Schweiz ist gut vorbereitet.« Der Bundesrat verweist vor allem auf das Epidemiengesetz, das er 2013 durch die Volksabstimmung gebracht hat. Die Bestimmungen sind für ihn »ein guter Handlungsrahmen«.

Bund und Kantone haben umfangreiche Pandemiepläne. Die Checklisten gehen bis ins kleinste Detail. Geregelt wird beispielsweise, wie die Notbetten in Turnhallen angeordnet werden oder wie man Tote ohne Infektionsgefahr bestattet.

Doch die Pläne werden sich nur bedingt als nützlich erweisen. Beim Bund sind die Planer von einem Grippevirus ausgegangen, wofür es keine spezifischen Tests und wenig Schutzmasken braucht. Versammlungsverbote und die Schliessung von Schulen haben sie zwar vorgesehen. Aber von einem Lockdown, wie er wenige Wochen später kommen wird, steht auf den 128 Seiten nichts.

Im Januar ist die Planung noch unbestritten. Auch der Epidemiologe Christian Althaus von der Universität Bern sagt in einem Interview, das Land sei gut gewappnet: »Der Bund hat einen Pandemieplan, die Schweiz ist mit ihrem Gesundheitssystem und den diagnostischen Möglichkeiten ausreichend vorbereitet.«

Alain Berset sitzt am WEF-Mittwoch auf einem Podium neben dem Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation Tedros Adhanom Ghebreyesus. »Ich kenne ihn gut«, sagt Berset. »Ich habe ihn gefragt, wie wir helfen können. Unser Land hat immer zum Kampf gegen neue Viren beigetragen. Ebola-Patienten zum Beispiel wurden in Genf behandelt.«

Mit dem bald allgegenwärtigen Thema Masken beschäftigt sich die Schweizer Öffentlichkeit, während das WEF läuft, noch kaum. Allerdings kaufen Touristen aus Asien bereits die Apotheken leer.

Die Schweiz hat die Pflichtlager an Hygienemasken aufgehoben, das weiss Alain Berset bestens. Hauptverantwortlich für Beschaffung und Verteilung des Schutzmaterials sind die Kantone. Einrichtungen wie Altersheime und Spitäler müssen sich selbst mit allem eindecken, was sie brauchen – und für den Notfall vorsorgen. Der Bund hat gemäss Berset in diesen Tagen bei den Kantonen nachgefragt, ob sie vorbereitet seien. Die Vorräte, das wird sich schon bald herausstellen, werden hinten und vorne nicht ausreichen.

DER WHO-NOTFALLAUSSCHUSS tagt an diesem Mittwoch in seinem ultramodernen Genfer Strategic Health Operation Center. Und am Donnerstag gleich nochmals. Es gibt keine Fenster, dafür riesige Bildschirme an den Wänden. Fast acht Stunden wird konferiert. Zugeschaltet sind Peking und Atlanta. Man ist jetzt im Krisenmodus. Das Virus ist inzwischen auch in Südkorea, Japan, Thailand und Singapur nachgewiesen worden. Man erwarte, so heisst es in einer Mitteilung zu den Notsitzungen, dass es auch in anderen Ländern auftauchen werde: Und die WHO warnt: »Alle Staaten müssen sich für die Eindämmung vorbereiten.«

FÜR ALAIN BERSET bleibt die Ankunft des Virus in der Schweiz vorerst ein eher hypothetisches Szenario. »Wir dachten damals noch nicht, dass es sich auf dem ganzen Planeten ausbreiten würde«, sagt er, als er während des Lockdown ans WEF zurückdenkt.

Nur die wenigsten machen sich am Weltwirtschaftsforum vertieft Gedanken zum Virus. Und die wenigsten thematisieren es wie der Schweizer Gesundheitsminister. Vielen scheint es eher lästig. Der Chefredaktor der »Schweiz am Wochenende«, Patrik Müller, ein Dauergast in Davos, titelt zum Abschluss des Forums: »Jeden Tag Weltuntergang – es nervt!« Im Kommentar tadelt Müller alle, die das Coronavirus (»weit weg, in China«) als globale Gefahr beschwören. Dabei passiert in Zentralchina gerade etwas, das es noch nie gab. Und das ist nur der Anfang.

IN WUHAN überschlagen sich am 23. Januar die Ereignisse. Um 10 Uhr lokale Zeit – 4 Uhr früh in der Schweiz – kappen die Behörden alle Verbindungswege der Stadt zur Aussenwelt. Der Zug- und Busbetrieb wird komplett eingestellt, der Flughafen muss dichtmachen, Strassensperren werden errichtet, die Häfen gesperrt. Die Provinz Hubei, deren Hauptstadt Wuhan ist, schliesst die Autobahnen.

50 Millionen Menschen sitzen in ihren Wohnungen fest.

WÄHREND WUHAN seinen Lockdown vollzieht, startet das Bundesamt für Gesundheit die »Eintrittssitzung« der Taskforce 2019-nCoV. 19 Fachleute sind von Anfang an dabei im Sitzungszimmer K1 auf dem modernen Campus Liebefeld. Dort, im Vorort von Bern, hat das BAG seinen Sitz. Daniel Koch und seine direkte Vorgesetzte Andrea Arz de Falco sind noch im Zentrum der Stadt im Generalsekretariat des Innendepartements und stossen später zur Sitzung der Taskforce.

Patrick Mathys, Chef der Sektion Krisenbewältigung und internationale Zusammenarbeit im BAG, übernimmt den Vorsitz. Der 50-Jährige wird gleich zum Auftakt sehr deutlich und sagt, »dass sich die Ereignisse überschlagen und stündlich ändern«.

Deshalb gibt es für die Taskforce viele »Herausforderungen«, wie das Protokoll preisgibt: Eruieren möglicher Massnahmen an Flughäfen, für Ärzte und Spitäler sowie rund um den Tourismus, für Veranstaltungen und auch für das internationale Genf. Ziemlich weit oben auf der Traktandenliste steht auch ein Thema, bei dem das BAG von Beginn weg für mehr Verwirrung als Klarheit sorgt: die Masken.

Noch am 23. Januar, dem Tag des Lockdown in Wuhan, wird Patrick Mathys von Radio SRF gefragt: »Bringen Masken etwas?« Seine Antwort: »Es kommt im Wesentlichen darauf an, dass solche Masken richtig getragen werden. Es trägt sicher dazu bei, eine Übertragung zu vermeiden. Vollständig vermeiden lässt sich eine Übertragung damit aber wohl nicht.«

Mathys äussert sich so positiv zum Thema Masken wie fortan lange kein Exponent des Bundes mehr.

AM TAG, an dem ihre Heimat sich abriegelt, geht es der Mutter, die bereits auf dem Flug von Wuhan nach Rom gehustet hat, und ihrer Tochter nicht besser. Sie rufen die chinesische Botschaft in Paris an. Dort rät man ihnen, die Rufnummer eines medizinischen Notfalldienstes zu wählen, der sich speziell mit dem neuen Virus beschäftigt. Der Verdacht, dass die beiden Chinesinnen an Corona erkrankt sind, liegt auf der Hand.

Nun kommt es zu einem folgenschweren Fehler: Als der Notfalldienst eine 24-Stunden-Ambulanz aufbietet, unterbleibt der Hinweis auf den Corona-Verdacht.

Ein nicht vorgewarnter Arzt des Notfalldienstes SOS 92 begibt sich – ohne jeglichen Schutz – in das Hotelzimmer der beiden erkrankten Chinesinnen. 20 Minuten ist er vor Ort, 15 Minuten dauert die eigentliche Untersuchung. Eine weitere Person aus der 30-köpfigen Gruppe aus Wuhan ist im Zimmer und übersetzt. Der Arzt diagnostiziert eine Erkältung. Tests erfolgen keine.

AM SELBEN DONNERSTAG, dem 23. Januar, kommen auch die kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren zusammen, zum ersten Mal in diesem Jahr.

»Die Krise stand auf der Traktandenliste«, erinnert sich die Waadtländer Staatsrätin Rebecca Ruiz. »Aber wir hatten keine Ahnung, wie gross sie war. Damals hatten wir nur wenige Informationen.«

Die 38-jährige SP-Politikerin sagt, sie habe den Ernst der Lage erst eine Woche später erkannt. Thierry Calandra, der Chef der Abteilung für infektiöse Krankheiten am Waadtländer Universitätsspital, orientiert die kantonale Gesundheitsdirektorin über die Krise und über den engen Austausch der Lausanner Ärzte mit den Kollegen in der Deutschschweiz, aber auch in China. »In diesem Moment«, erinnert sich Ruiz, »ist mir bewusst geworden, dass die Bedrohung für die Spezialisten – und damit auch für uns – wichtig ist.«

Zum Zeitpunkt des Lockdown in Wuhan vermittelt China nach wie vor den Eindruck, es habe alles unter Kontrolle. Es ist auch immer noch nicht eindeutig erwiesen, wie ansteckend das Virus ist. Thomas Steffen, Kantonsarzt und Leiter Medizinische Dienste des Kantons Basel-Stadt, sagt im Rückblick: »Wir haben in den letzten Jahren mehrere solcher Erreger erlebt, die alle keine solch gravierenden Folgen hatten in der Schweiz.«

Erst kam 2002 Sars, dann 2009/2010 die Schweinegrippe. Danach, 2013, das »Middle-East respiratory syndrome«, kurz Mers. Sars erreichte Europa gar nicht erst, Mers kaum. Beide Krankheiten hatten weltweit je weniger als 1000 Todesfälle zur Folge: An Sars starben 774, an Mers 866. Die Schweinegrippe forderte mehr Menschenleben, aber vielerorts auf der Welt gab es massive Kritik an übertriebenen und teuren Abwehrbemühungen – auch in der Schweiz. »In all diesen Fällen konnte das Virus den Umständen entsprechend mit den üblichen Massnahmen schnell wieder eingedämmt werden«, sagt Steffen. »Das war für unsere Einschätzung im Januar und Anfang Februar prägend.«

In ihrer ersten Sitzung im Jahr 2020 beschliessen die kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren keine konkreten Massnahmen, um Corona zu bekämpfen. Die Weltgesundheitsorganisation hingegen entscheidet sich am 23. Januar, eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite auszurufen.

DIE REISEGRUPPE AUS WUHAN plagen noch andere Sorgen. Am kommenden Abend sollte sie in Paris ins Flugzeug steigen und heimfliegen. Doch das geht nicht mehr, weil in und um Wuhan alle Flughäfen geschlossen wurden.

Freitag, 24. Januar
+ + + BESTENS VORBEREITET FÜR DEN SCHLIMMSTEN FALL + + + RUN AUF DIE MASKEN IN LUZERN + + +

»Für Europa besteht im Moment keine Gefahr oder eine sehr geringe Gefahr. Aber es ist sehr gut möglich, dass in nächster Zeit auch in Europa Fälle auftreten«, sagt Daniel Koch in einem Interview am 24. Januar, dem Tag nach dem Lockdown in Wuhan. Er ist dabei, als an jenem Freitag um 11 Uhr erstmals der Bundesstab Bevölkerungsschutz (BSTB) wegen Corona zusammentritt. Das zentrale Krisengremium der Eidgenossenschaft soll bei Erdbeben, Atomunfällen und grossen Stromausfällen zum Einsatz kommen – oder aber bei Pandemien.

Vorerst hält der Bundesstab aber nur Informationssitzungen ab, wie es in den Sitzungsprotokollen heisst. Dabei informieren sich die Stabsangehörigen aus verschiedenen Departementen gegenseitig. Fünf Wochen werden sie in diesem Informationsmodus verbleiben. Erst dann geht das Gremium in den Einsatzmodus über.

Von alldem soll die Bevölkerung nichts erfahren. »Das BAG strebt eine verhaltene Informationspolitik an«, heisst es im Protokoll der ersten Sitzung. Eine Medieninformation über die Treffen gibt es nicht.

Gleich zum Auftakt der ersten Sitzung beruhigt BAG-Direktor Pascal Strupler die mehreren Dutzend Vertreterinnen und Vertreter aus vielen Ämtern und Kantonen. Sein Amt habe die Lehren aus der Schweinegrippe-Pandemie 2009/2010 gezogen, beteuert er. Man wähnt sich bestens vorbereitet, auch für den schlimmsten Fall.

In der Auftaktsitzung geht man das Thema Masken noch relativ gemächlich an. Vom drohenden Mangel ist noch nicht direkt die Rede. Betont wird im höchsten Corona-Gremium des Bundes, dass die Pflichtlager nur für das Sanitätspersonal reichen müssen, das sich um Verdachtsfälle und Erkrankte kümmert.

Nach dem Wochenende will das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) ein Informationsschreiben an die Spitäler verschicken: Man solle die Lager an Schutzmasken überprüfen.

»Verängstigte Bürger«, so steht im Protokoll, würden wegen Medienberichten bereits vermehrt Masken kaufen.

DAS PHÄNOMEN kennt die Chefapothekerin Ricarda Luzio bereits bestens. Luzern ist mit den vielen Reisenden aus Asien so etwas wie ein Frühwarnsystem. In der Apotheke der Klinik St. Anna, die jedermann offen steht, decken sich Touristen aus Fernost mit Masken ein. Und das nicht zu knapp. Auch Einheimische tun dies immer häufiger.

Bereits Ende Januar ist auch andernorts in der Schweiz kaum mehr Schutzmaterial erhältlich. Luzios Team ist verunsichert – und nimmt die Masken aus dem Sortiment. Die Versorgung der Klinik muss gewährleistet bleiben.

Dann bemerkt Luzio, dass zwei Pharmaassistentinnen versuchen, Masken via Grossisten für den Privatgebrauch zu bestellen. Sie wollen im Februar nach Asien in die Ferien verreisen. Ricarda Luzio beruhigt ihre Mitarbeiterinnen. Es bestehe kein Grund zur Panik, findet sie noch immer. Das Coronavirus sei vergleichsweise harmlos. Die Spitalleitung ermahnt die Belegschaft, sparsam mit den Masken umzugehen. Sie seien ausschliesslich für den spitalinternen Gebrauch gedacht.

Das alles trägt dazu bei, dass die Pharmazeutin Luzio schliesslich erkennt: Sie kann das Virus nicht länger kleinreden. Sie braucht eine Strategie bezüglich Masken. Überhaupt eine Strategie. Und zwar schnell. Wie prekär die Lage mit dem Schutzmaterial bereits ist, zeigen ihr Ende Januar drei Tuberkulosefälle. Um die drei isolierten Erkrankten zu behandeln, braucht ihr Spital dringend Masken, Brillen und Schutzkleider. Isolationsmaterial eben. Für diese drei Patienten reicht es noch, doch die Chefapothekerin merkt: Gäbe es Corona-Fälle in der Schweiz, in Luzern, in ihrer Klinik, bräuchte sie noch mehr, viel mehr.

Ricarda Luzio sucht das Gespräch mit einem Mitglied der Geschäftsleitung. Die beiden entscheiden, im Spital ein eigenes, vorerst kleines Pandemielager aufzubauen. Luzio fühlt sich unterstützt – und doch belächelt. »Ich glaube nicht, dass die Geschäftsleitung den Ernst der Lage damals erkannte«, sagt sie. »Sie dachten wohl eher, das sei mal wieder typisch Apothekerin.« Doch da steckt sie bereits mitten in der »Corona-Logistik«, wie Luzio es nennt.

VON ÄHNLICHER AKTIVITÄT ist in der ersten Sitzung des Bundesstabs Bevölkerungsschutz zu Corona noch wenig zu spüren. Man wähnt sich recht gut gewappnet. Ein Vertreter des Bundesamts für Gesundheit referiert, dass man mit einer Häufung von Tests rechne, insbesondere weil auch die Grippesaison begonnen habe. »Die Schweiz ist allerdings für einen solchen Fall vorbereitet«, versichert er. Das BAG sei »überzeugt«, dass im nationalen Referenzlabor in Genf »genügend Kapazitäten vorhanden« seien, um die Tests auszuwerten. Das stimmt für den Moment – doch es ist trotzdem eine fatale Fehlannahme, wie sich bald zeigen wird. Schon kurz nach Ausbruch der Pandemie wird das Material knapp. Nicht mehr alle Verdachtsfälle können getestet werden.

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