Kitabı oku: «LOCKDOWN», sayfa 4

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Mittwoch, 29. Januar, bis Freitag, 31. Januar
+ + + KNIFFLIGE DETEKTIVARBEIT + + + STEVE WALSH AUF ALLEN KANÄLEN + + + DER HEILSAME SCHOCK BLEIBT AUS + + + EIN PRACHTSMONAT GEHT ZU ENDE + + +

Die Fachleute im BAG vertrauen darauf, dass es ihnen und den europäischen Nachbarn gelingt, die Krankheit nach Asien zurückzudrängen, indem sie alle Ansteckungsketten finden und unterbrechen.

Deshalb wird nun in der Schweiz wie in Italien und in Frankreich unter Hochdruck ermittelt, wer mit der Reisegruppe aus Wuhan in Kontakt kam. Das italienische Gesundheitsministerium kontaktiert alle 176 Passagiere und die 17-köpfige Crew des Hinflugs von Wuhan nach Rom mit der hustenden Touristin. Es findet sich niemand, der sich angesteckt hat.

Der slowakische Chauffeur des gecharterten Cars, mit dem die Gruppe tagelang durch Europa fuhr, gilt für die Contact-Tracer als »Hochrisiko-Kontakt«. Es gelingt, ihn zu Hause in der Slowakei ausfindig zu machen. Aber auch zwei Wochen nach der Heimkehr zeigen sich bei ihm keine Symptome.

In Frankreich gestaltet sich das Nachverfolgen beim erkrankten Notfallarzt aufwendig, wenn auch relativ einfach. Die Gesundheitsbehörden überprüfen Kontakte, die der Mediziner in der Zeit nach seiner Visite im Pariser Hotelzimmer hatte. Es sind insgesamt 58 Personen, darunter Angehörige und viele Patienten. Niemand zeigt Krankheitssymptome.

Wie knifflig und lückenhaft Contact-Tracing sein kann, offenbart sich in der Schweiz: Die »Golden Pass Line« führt keine Passagierlisten. Allfällige Kontakte bereits infizierter Touristinnen und Touristen auf der Fahrt über den schneebedeckten Brünig können nicht eruiert werden. Die involvierten Behörden stufen das Risiko von Ansteckungen anderer Passagiere oder des Zugpersonals jedoch als gering ein. Auf einen öffentlichen Aufruf verzichten Bund und Kantone. Die Schweizer Bevölkerung erfährt nichts von der Reisegruppe aus Wuhan.

FAST SCHON EIN MEDIENSTAR wird derweil Steve Walsh, der Engländer, der über Genf ins Mont-Blanc-Gebiet gereist war. Vor allem britische Blätter, aber auch der Nachrichtensender Al Jazeera oder die »Washington Post« berichten über den »Superspreader«, den »Superverbreiter«, der das Virus aus Singapur nach Grossbritannien brachte – »via Alpen«. Der Engländer hat bereits wieder am Genfer Flughafen eine Easyjet-Maschine nach London-Gatwick genommen. In den Tagen zuvor hat er am Fuss des Mont Blanc höchstwahrscheinlich elf Landsleute angesteckt. Er hat dort auch Schweizer Freunde getroffen, doch sie erwischt es nicht.

DAMIT BLEIBT DER SCHWEIZ ein früher Schock erspart. Allerdings hätte so ein Schuss vor den Bug auch heilsam sein können. So wie in Deutschland, wo beim bayerischen Autozulieferer Webasto inzwischen bereits 14 Mitarbeiter erkrankt sind. Der Münchner Chefarzt Clemens Wendtner und der Berliner Virologe Christian Drosten analysieren das neue Virus. Sie stellen schnell fest, wie gefährlich es ist.

Die deutschen Wissenschaftler schlagen Alarm. Und sie werden von den Behörden ernst genommen, am Anfang weitaus ernster als Althaus, Salathé und Co. in der Schweiz, die keinen solchen frühen Fall hatte.

Zumindest erzählt Christian Althaus, dass er in jenen Tagen nach der ersten Medienkonferenz des BAG befürchtet habe, »dass das Virus beim BAG unterschätzt wird«: »Ich rief Herrn Koch an, um ihn darauf hinzuweisen, die Sache ernst zu nehmen. Ich erwähnte auch unsere Studie, mit der wir schon im Januar die hohe Ansteckungsrate des Virus bestimmen konnten. Ich hatte das Gefühl, dass meine Einschätzungen nicht interessierten.«

EINEN HEILSAMEN SCHOCK für die Schweiz hat auch die Reisegruppe aus Wuhan nicht geliefert. Trotz Abklärungen in drei Kantonen, so heisst es bald in einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Europareise, liess sich keine »Hochrisiko-Person« mit engerem Kontakt zu den 30 Touristinnen und Touristen eruieren. Es werden aber drei »Niedrigrisiko-Kontakte« identifiziert: zwei Mitarbeiter von Läden, welche die Touristen aus Wuhan besuchten, sowie ein Gastwirt. Die drei Personen werden informiert, dass sie der Gefahr einer Corona-Ansteckung ausgesetzt waren. Befragungen zeigen, dass ihre Begegnungen mit der Reisegruppe eher flüchtig waren. Niemand muss in Quarantäne, Isolation oder ins Spital. Tests unterbleiben. Man lässt es bei einer Instruktion durch die kantonsärztlichen Dienste bewenden: Bei Symptomen sollen die Betroffenen sofort einen Arzt aufsuchen und sich nochmals melden. Das wird nie passieren. So bleibt zwar eine Restunsicherheit, bei den Verantwortlichen aber vor allem das Gefühl, dass die Schweiz knapp verschont geblieben ist.

AM 29. JANUAR tauscht sich der Bundesrat erstmals eingehender über das Virus aus. In Frankreich und Deutschland gibt es bereits bestätigte Fälle. Und Österreich und Italien? Nichts. Das Bundesamt für Gesundheit hat noch am Vortag, dem Tag mit seinem 35-Minuten-Auftritt vor den Medien, eine Infonotiz zur nationalen und internationalen Situation an Alain Berset abliefern müssen. Darin steht nichts von den Touristen aus Wuhan. Der Bundesrat erfährt nicht, dass das Virus bereits durch die Schweiz gereist ist.

Das BAG schreibt dazu in einer Stellungnahme für dieses Buch, es selektiere die Informationen an den Departementsvorsteher, »damit er relevante Informationen erhält«: »Die Reisegruppe stellte zu diesem Zeitpunkt keine Gefahr für die Bevölkerung dar.«

Im Bundesrat geht es deshalb an jenem Mittwoch vor allem um China. Massnahmen werden noch keine beschlossen. Fortan ist das Virus in jeder Sitzung ein Thema, bald nur noch das einzige.

AN SCHWEIZER FLUGHÄFEN lässt das Bundesamt für Gesundheit nun Plakate aufhängen und Flyer auflegen mit Informationen zur Gefahr für Rückkehrer und speziell für das Flugpersonal. Aber selbst Reisenden, die in China waren, wird nicht empfohlen, erst einmal daheimzubleiben.

Die Taskforce des BAG tagt fast gleichzeitig mit dem Bundesrat. Zu reden gibt dort gemäss Protokoll, dass ihr Leiter Patrick Mathys vom »Virologen Althaus per Twitter angegriffen« wurde. Das stösst den Gesundheitsbeamten sauer auf. Es wird entschieden, dass ein Sprecher eine Antwort darauf verfassen soll. Althaus, der in Wirklichkeit Epidemiologe ist, sagt, er habe nie etwas bekommen. Der Konflikt zwischen BAG und den Epidemiologen eskaliert nicht. Noch nicht.

DER 29. JANUAR ist auch der letzte Tag der »Applied Machine Learning Days«. Nun ruft die Eidgenössische Technische Hochschule in Lausanne alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Lehrkräfte und Studierenden, die zuletzt in China waren – »egal, in welcher Region« –, dazu auf, nicht mehr auf den Campus, in die Labors, Büros oder Hörsäle zu kommen. Sie alle müssen nach der Rückkehr vierzehn Tage im Homeoffice arbeiten. Sämtliche Reisen nach China werden gestrichen.

DIE WARNUNG UND DIE WEISUNGEN rufen in Liebefeld keine Freude hervor. Das BAG interveniert später sogar mit einem Brief, gerichtet an alle Universitäten und Hochschulen. Im Schreiben, unterzeichnet von Daniel Koch, mahnt es, die offiziellen Bestimmungen nicht auszuweiten.

Die EPFL krebst jedoch nicht zurück. Im Gegenteil: Bald schon weitet sie die Reiseverbote auf Norditalien, den Iran und Südkorea aus.

Das BAG wird erklären, es sei nicht darum gegangen, die Initiative der EPFL zu verhindern. Man habe einen »Flickenteppich« vermeiden wollen.

AM TAG DANACH, dem 30. Januar, ruft die WHO den internationalen Gesundheitsnotstand aus. Alle Staaten sollen das Virus aufspüren, überwachen und isolieren, fordert die UN-Organisation in Genf. Das Risiko schätzt sie nun weltweit als »hoch« ein, für China gilt »sehr hoch«. Von den 7818 bestätigten Corona-Fällen entfallen die allermeisten auf die Volksrepublik.

Wie gefährlich das Virus ist, kann ab dem 30. Januar jeder in der Fachzeitschrift »Eurosurveillance« nachlesen, online und gratis. In einem Artikel von Christian Althaus und seinem Postdoktoranden Julien Riou. Das Fazit: Die neue Krankheit verbreitet sich wie die Spanische Grippe von 1918, die mindestens 20 Millionen Menschen das Leben kostete.

Doch Althaus, sogar er, ist beruhigt. »In Europa und der Schweiz muss man sich aber vorerst nicht sorgen«, sagt er in einem Interview. »Solange es nicht zu hohen Fallzahlen kommt, sollte sich das Virus hier nicht festsetzen können.« Und doch, sagt Althaus, werde es weitere Fälle in neuen Ländern geben: »Nach Frankreich kann es natürlich auch die Schweiz treffen.«

Seine Studie schickt der Berner Epidemiologe auch an Daniel Koch und Patrick Mathys. Ob sie seine wissenschaftliche Warnung lesen, wird er nie erfahren: »Ich habe weder von Herrn Koch noch von Herrn Mathys je eine Rückmeldung darauf erhalten.«

Das BAG schreibt dazu auf Anfrage für dieses Buch: »Sie müssen verstehen, dass wir sehr viele Mails mit Hinweisen auf zu beachtende Studien und Erkenntnisse erhalten. Sie werden nicht alle einzeln verdankt, finden aber bei Eignung Beachtung.« Alle Hinweise auf Studien seien in die Bewertung der Situation eingeflossen.

EIN PRÄCHTIGER JANUAR geht zu Ende, mit doppelt so viel Sonnenschein im Mittelland wie in anderen Jahren. Auch die Profiskifahrer lassen das Land strahlen. Beat Feuz gewinnt die Abfahrt am Lauberhorn, Daniel Yule die Slaloms in Kitzbühel und Adelboden.

Die Swiss fliegt zum letzten Mal für lange Zeit mit Passagieren von und nach China. Fortan werden ihre Flugzeuge nur noch ab und zu leer in der Schweiz abheben und dafür vollgestopft mit Masken und anderem Schutzmaterial aus der Volksrepublik zurückkehren.

In Wuhan und Umgebung warten zehn Schweizer Staatsangehörige auf ihre Evakuierung. Frankreich hat sich bereit erklärt, sie auszufliegen. In einem Ferienresort an der Côte d’Azur sollen sie zwei Wochen in Quarantäne verbringen.

AM LETZTEN JANUARTAG kämpft Li Wenliang nicht nur gegen das Virus, sondern auch um die Wahrheit. Aus dem Spitalbett veröffentlicht er den Brief im Internet, mit dem ihn die Polizei Anfang Monat einzuschüchtern versuchte. Der Post des Arztes, der als einer der Ersten vor dem neuen Virus warnte, geht viral.

DIE ZWEITE CORONA-MEDIENKONFERENZ des Bundes soll drei Tage nach der missglückten ersten »Vertrauen aufbauen«, das kündigt BAG-Direktor Pascal Strupler am Morgen des 31. Januar im Bundesstab Bevölkerungsschutz an. Am Nachmittag vor den Medien beteuert und beschreibt er, wie intensiv sich die Schweiz seit Anfang Januar vorbereite. Mit den Kantonen habe sein Amt die nötigen Massnahmen für Verdachtsfälle getroffen. Zudem habe es für die medizinische Versorgung von Erkrankten vorgesorgt.

Doch sind das die richtigen Schritte? Und schätzt das Amt die Lage korrekt ein?

»Ausserhalb von China handelt es sich zurzeit nicht um eine Epidemie«, erklärt Daniel Koch Ende Januar. Es gebe keine Hinweise darauf, dass die Situation irgendwo ausser Kontrolle sei. »Ob das so weitergeht«, fügt Koch hinzu, »kann man unmöglich sagen.« Daher bereite sich die Schweiz auf eine Epidemie vor.

Nun aber macht Bern Sportferien, für ein paar Tage auch der oberste Schweizer Gesundheitsbeamte Pascal Strupler. Sein BAG hat innerhalb gut einer Woche zahlreiche Massnahmen ergriffen: Medienkonferenzen, Infoline, Informationen auf der Website, Plakate und Flyer für Rückkehrer aus China. Das Bundesamt für Gesundheit tritt dem Virus mit einer Informationsoffensive entgegen.

Auch der Bundesstab Bevölkerungsschutz macht derweil länger Pause. Das zentrale Krisengremium des Bundes kommt über drei Wochen lang nicht mehr zusammen. Sein richtiger Einsatz – bis jetzt sind es immer noch Informationsveranstaltungen – wird erst Anfang März beginnen. Da ist die Welt eine andere.

Sonntag, 2. Februar, bis Dienstag, 4. Februar
+ + + ALARM UND FEHLALARM + + + LUZIO RÄUMT DAS LAGER LEER + + + EIN TEMPOMACHER IN DER TASKFORCE + + +

Die BAG-Taskforce hingegen macht keine Sportferien. Sie trifft sich weiterhin regelmässig, es wird vieles aufgegleist, aber noch wenig umgesetzt. Mit welchem Zeithorizont man in Liebefeld fortan plant, zeigt folgendes Detail von Anfang Februar: Zwar will das BAG nun eine neue, externe Corona-Expertengruppe zusammenstellen. Doch diese soll erst am 12. März zum ersten Mal tagen.

Ab Anfang Februar tauchen in der Schweiz immer mehr Corona-Verdachtsfälle auf. Doch ein Test nach dem anderen fällt negativ aus. Immer ist es die Grippe oder sonst was. Jedenfalls Fehlalarm.

Das Virus ist zwar nachweislich in Frankreich, Deutschland und neu auch in Italien aufgetaucht. Aber Europa habe den Erreger aus China unter Kontrolle, beteuern die Regierungen.

Daran ändert sich auch nichts, als am 2. Februar der erste Todesfall ausserhalb Chinas bekannt wird. Ein Mann in Manila ist gestorben. Aber die WHO beruhigt, dass es sich beim 44-Jährigen um einen Chinesen aus Wuhan handelt, der kurz zuvor von dort in die Philippinen eingereist war. Im Fachjargon ist das ein »importierter Fall«.

Das Problem wirkt also nach wie vor sehr chinesisch. In Zahlen ausgedrückt: Die Volksrepublik verzeichnet 304 Tote und 14 411 Infizierte. Der Rest der Welt den einen Toten in Manila und 146 Infizierte.

Virologinnen, Epidemiologen und andere Fachleute auf der ganzen Welt verfolgen die Ausbreitung gebannt. Die globale Passivität – Ausnahme Asien – treibt die Experten um. Denn ein schlimmer Verdacht erhärtet sich: Auch gesund wirkende Menschen geben die Krankheit weiter.

Es erscheinen erste Studien zu Fällen in Europa. Die Fakten sind alarmierend. Insbesondere die Zahlen nach dem Ausbruch der Krankheit bei der Webasto-Gruppe in München. Im Rachen von Angestellten des Autozulieferers lässt sich das neue Virus in tausendfach höherer Konzentration nachweisen als das alte Sars-Virus bei vergleichbaren Tests. Es hat sich in den oberen Atemwegen der Infizierten festgesetzt. Von dort gelangt das Virus leicht in die Umwelt. Und zu neuen Opfern.

Die Erkenntnisse sind zum Teil noch ungesichert, ja sogar widersprüchlich. Doch eines wird immer klarer: Wenn Infizierte ohne deutliche Symptome hochansteckend sind, ist eine Bekämpfung schwierig bis unmöglich, denn die Ausbreitung lässt sich nicht verhindern, indem Frauen und Männer mit Symptomen wie Husten einfach ein paar Tage daheimbleiben. Der Mix aus oft symptomfrei, aber doch sehr ansteckend macht das neue Virus hochgefährlich.

AM 3. FEBRUAR herrscht in der Spitalapotheke der Klinik St. Anna in Luzern Aufruhr. Chefin Ricarda Luzio bemerkt, dass sehr viele Atemschutzmasken verschwunden sind, die sie eigentlich für die drei isolierten Tuberkulosepatienten bräuchte. Und wohl auch bald für die ersten Erkrankten mit dem neuartigen Virus.

Der kleine Diebstahl ist zwar unschön und dem Vertrauensverhältnis unter Kollegen nicht gerade förderlich. Aber eigentlich sind die fehlenden Masken für die Klinik kein Problem. Oder besser: Sie wären kein Problem. Denn in normalen Zeiten könnte man schnell Nachschub organisieren.

Zusammen mit den anderen 16 Kliniken der Hirslanden-Gruppe bezieht St. Anna seit fünf Jahren ihr gesamtes medizinisches Verbrauchsmaterial aus einem Zentrallager in Villmergen. Die Post hat im Aargau ein Logistikzentrum errichtet, mit Swissmedic-Zertifikat, das auch von anderen Spitälern genutzt wird. Tupfer, Kompressen, Einwegspritzen, Katheter und Implantate lagern dort und stehen bei Bedarf schnell zur Verfügung. Doch jetzt ist nichts mehr, wie es einmal war. Bei den Masken gibt es einen grösseren Engpass. Und offensichtlich besteht nirgends ein Vorrat, wie ihn der Pandemieplan empfiehlt. Zumindest kein genügend grosser.

Ricarda Luzio schlägt bei der Geschäftsleitung Alarm, zum zweiten Mal innert kurzer Zeit in derselben Sache. Es ist der dritte Geburtstag ihres jüngeren Sohnes, doch gross nach Feiern ist der Spitalapothekerin nicht zumute. Sie ist mittlerweile sehr beunruhigt. Müssen sich Kolleginnen und Kollegen bald unnötigen Gefahren aussetzen, wenn sie hochansteckende Kranke behandeln?

Eine Nacht und viele Gedanken später leitet Luzio in Luzern eine Besprechung der Arzneimittelkommission. Nach 20 Minuten klingelt ihr Telefon. Es ist das Zentrallager in Villmergen. Luzio übergibt die Leitung der Sitzung ihrem Apothekerkollegen und hastet aus dem Raum. Die Ärzte schauen komisch, doch der Rückruf kann nicht warten.

Noch wenige Masken seien da, erfährt Luzio. Sie läuft weiter in ihr Büro, um sich über das elektronische Bezugssystem den benötigten Bedarf zu sichern. Sie realisiert: »Ich muss die Masken sofort bestellen. Es eilt extrem!«

AM RENNEN um die Masken beteiligen sich längst nicht mehr nur Spitalapothekerinnen. Am Morgen darauf bespricht das Bundesamt für Gesundheit die Problematik mit Grossverteilern wie Migros, Coop oder Manor. Man kommt gemäss Taskforce-Protokoll überein, dass man »den Notfallstock ergänzen« will.

Nun werden im BAG alle Kräfte gebündelt. Die Taskforce bekommt einen neuen Chef: Daniel Storch. Er kümmert sich normalerweise um radiologische Risiken, insbesondere bekämpft er das krebsfördernde Radon in Schweizer Häusern. Doch ab sofort ist Storch als Stabschef gegen das Virus im Einsatz.

Storch erhöht das Tempo. Er will als Taskforce-Leiter keine vertieften Diskussionen. »Die heutige Sitzung dauert 45 Minuten.« Es gibt zwar viel zu besprechen. Es gibt vor allem aber viel zu tun. Mehrere Schweizer im Ausland könnten bereits infiziert sein, wie aus dem Sitzungsprotokoll hervorgeht:

– Einer ist mit einem infizierten Belgier aus China ausgeflogen worden. Er befindet sich in Quarantäne.

– Ebenfalls in Quarantäne, aber an der Côte d’Azur, befinden sich aus Wuhan ausgeflogene Landsleute.

– In Japan wird das Kreuzfahrtschiff »Diamond Princess« festgehalten. 3711 Passagiere und Crewmitglieder sind an Bord in Quarantäne, darunter ein Schweizer Paar. Nach 20 Tagen im Hafen von Yokohama werden 705 Menschen infiziert sein und 14 sterben.

Aus schweizerischer Perspektive gehen alle diese Fälle glimpflich aus. Alle Schweizer bleiben gesund, alle Tests fallen negativ aus.

Der Aufwand für die Abklärungen jedoch ist enorm. Im BAG jagt eine Telefonkonferenz die andere. Früh am Morgen des 4. Februar gab es eine mit den Kantonsärztinnen und Kantonsärzten. Darüber wird nun in der Taskforce rapportiert: »Vorschlag einer gemeinsamen Medienkonferenz in Bern bei Auftreten des ersten bestätigten Falles stiess auf Wohlwollen.«

Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Krankheit in der Schweiz auftaucht. Bund und Kantone rechnen mittlerweile fest damit. Auch das BAG scheint sich langsam darauf einzustellen, dass die Lage ernster werden könnte als ursprünglich angenommen. In einem »sounding board«, geleitet von Daniel Koch, hat sich herausgestellt, dass »frühzeitig mit der Planung und der Vorbereitung der Massnahmen begonnen werden muss, damit im Notfall genügend Ressourcen zur Verfügung stehen«. Deshalb wird in der Taskforce nun zur Mitarbeit in einer Arbeitsgruppe aufgerufen: »Wer kann in der AG zur Pandemievorbereitung mithelfen?«, heisst es im Protokoll.

Die Frage, ob es genug Material hat, interessiert die Öffentlichkeit immer brennender. Daniel Koch muss einräumen, dass die Lager für Hygienemasken mittlerweile ziemlich leer sind. Doch er beteuert, man müsse sich keine Sorgen machen, dass die Versorgung mit Schutzmaterial zusammenbreche. Der Bund verfüge schliesslich über Pflichtlager. Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung habe 170 000 Masken in Reserve.

Doch dem Bundesamt für Gesundheit fehlt die Übersicht, wie das Protokoll einer weiteren Taskforce-Sitzung verrät: »Der Bund verfügt in verschiedenen Lagern über grosse Bestände an Hygienemasken, idealerweise müsste man wissen, wie gross diese Reserven noch sind, um sie möglichst gewinnbringend einsetzen zu können.« Gemeint ist wohl: möglichst effizient.

DERWEIL MAHNT DIE WHO. »Die Welt ist mit einem chronischen Mangel an persönlicher Schutzausrüstung konfrontiert«, sagt ihr Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus. Weltweit gehen Masken und andere Materialien aus.

Selbst in der Schweiz, dem Land mit der perfekten Versorgung, ist auf einmal nichts mehr gewiss. Keine 24 Stunden sind vergangen, seit Ricarda Luzio aus der Sitzung gelaufen ist. Da bekommen alle Hirslanden-Spitäler eine Mail aus Villmergen. Das Zentrallager bittet die Klinikleitungen, ihr Personal für die angespannte Situation zu sensibilisieren. Atemschutzmasken vom Typ FFP-2, die nicht nur das Umfeld, sondern auch die Träger selbst schützen, dürften »nur bei echter Notwendigkeit« verwendet werden. Mit dem Lieferanten sei man in Kontakt. Dieser spreche von einer »nie da gewesenen Nachfrage nach dieser Art von Produkten«. Zu diesem Zeitpunkt hat sich Luzio vorausschauend den letzten Bestand längst gesichert. »Tatsächlich gab es im Zentrallager praktisch keine Masken mehr«, erzählt sie. »Ich habe es mit meiner Bestellung leer geräumt.«

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