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Mittwoch, 5. Februar, bis Samstag, 8. Februar
+ + + »LEBE WOHL, LI WENLIANG« + + + KANTONSÄRZTE SCHIEBEN SONDERSCHICHTEN + + + DIE KRANKHEIT BEKOMMT EINEN NAMEN + + + EIN »SUPERSPREADER« WILL RUHE + + +

Im zentralchinesischen Wuhan geht es Li Wenliang miserabel. Der Augenarzt, der als einer der Ersten vor dem neuen Virus gewarnt hat und deshalb gemassregelt und schikaniert wurde, kämpft inzwischen um sein Leben.

Das Spital berichtet seit dem 5. Februar via Kurznachrichtendienst Weibo vom dramatischen Gesundheitszustand seines Angestellten. Millionen Chinesen verfolgen live seine letzten tragischen Stunden.

Li Wenliang stirbt am 7. Februar 2020 im Alter von 33 Jahren. Er hinterlässt einen Sohn und seine Ehefrau, die mit dem zweiten Kind schwanger ist.

Der Tod des Arztes erschüttert viele Chinesen. Jemand hat in Mandarin »Lebe wohl, Li Wenliang« in den Schnee geschrieben. Ein Bild davon verbreitet sich in den sozialen Medien. Im Netz ist die Trauer gross, viele sind wütend auf die Behörden. Hashtags wie »Die Regierung Wuhans schuldet Dr. Li Wenliang eine Entschuldigung« und »Wir wollen Meinungsäusserungsfreiheit« werden umgehend Opfer der Zensur. Doch der Proteststrom reisst nicht ab. Die Zensurbehörde gibt auf.

Die Behörden in Wuhan kondolieren der Familie des Verstorbenen. Und die Regierung in Peking verleiht dem Doktor posthum die höchste Ehre für einen Bürger im Dienst des Landes: Li Wenliang wird zum »Märtyrer« erklärt. Aus einem schikanierten Warner macht die kommunistische Führung nun das, was er für viele bereits ist: einen nationalen Helden.

IN ENGLAND wird Steve Walsh derweil gerade zum Antihelden – und das ebenfalls öffentlich. Walsh ist seit einer Woche aus den französischen Alpen zurück und hat in seiner Heimat in Brighton ein Pub besucht. Dem 53-Jährigen geht es gut. Trotz unzähligen Medienberichten und wissenschaftlicher Aufarbeitung seines Falls bleibt unklar, warum er eine Woche nach seiner Rückkehr, am 5. Februar, ins städtische Royal Sussex County Hospital gefahren ist, um sich auf das neue Virus testen zu lassen.

Am Tag darauf ist das Resultat klar: positiv. Walsh ist nach einem Paar, das aus Wuhan zurückgekehrt ist, der dritte bestätigte Sars-CoV-2-Fall im Vereinigten Königreich. Obwohl sich Walsh nicht oder kaum krank fühlt, wird er in eine Spezialklinik in London eingeliefert.

Die englischen Gesundheitsbehörden lösen wegen seiner Ansteckung noch am 6. Februar Alarm über das europäische Warnsystem EWRS aus. Die Schweiz ist seit wenigen Tagen ans System angeschlossen. Der Fall Walsh wird zum ersten grossen Abwehrtest der Schweiz.

In Bern und in der Westschweiz wird alles getan, um eine Weiterverbreitung des Virus, das der »Superspreader« aus Singapur nach Europa gebracht hatte, zu unterbinden. Jeder in der Schweiz, der Walsh selber oder einer von ihm infizierten Person nahe kam, muss gefunden, getestet und unter Quarantäne gestellt werden. Sofort.

Umgehend kommt der »Fall UK« auf die Liste der Sofortmassnahmen der Corona-Taskforce des Bundesamts für Gesundheit. Im Protokoll vom 7. Februar heisst es: »Die Person hatte mit einer Familie aus Genf Kontakt.« Patrick Mathys, der Leiter der Sektion Krisenbewältigung und internationale Zusammenarbeit, geht dem nach. Das Contact-Tracing, das nun startet, ist deutlich schwieriger als im Fall der Reisegruppe aus Wuhan. Denn während die Reisegruppe fast nur unter sich war, begab sich Steve Walsh unter die Leute.

Nun, da er isoliert im Londoner Guy’s-and-St-Thomas’-Spital liegt, wird sein Fall in England ähnlich bekannt wie jener von Li Wenliang in China. Fast jede britische Zeitung berichtet über den Experten für Gasanalyse-Geräte; der Boulevard publiziert sogar seinen Pfadfindernamen. »Shir Khan«. Der Südengländer, der gar nicht richtig krank geworden ist, kann nun vom Spitalzimmer aus über sich lesen: »Coronavirus: Als möglicher ›Superspreader‹ im Zusammenhang mit elf britischen Fällen wurde ein Geschäftsmann identifiziert«. Bald wird diese Schlagzeile durch eine Untersuchung der Basler Epidemiologin Emma Hodcroft erhärtet. Die »Virenjägerin«, wie sich Hodcroft selbst nennt, zeichnet den Fall in der Fachzeitschrift »Swiss Medical Weekly« in allen Facetten nach. Die Ansteckungskette führt von Singapur über Frankreich nach Mallorca und in das Vereinigte Königreich.

Doch was ist mit der Schweiz?

DREI MONATE VOR SEINER PENSIONIERUNG schiebt Jacques-André Romand Sonderschichten. Der 65-jährige Genfer Kantonsarzt hat am 7. Februar einen Anruf aus Frankreich bekommen. So hat er erfahren, dass ein gewisser Steve Walsh vor 14 Tagen über den Flughafen Cointrin in die nahen französischen Alpen gereist war und dort wohl mehrere Menschen mit dem Coronavirus angesteckt hatte, eher er nach London flog, wieder über Genf.

Als Allererstes muss der Kantonsarzt sämtliche Personen finden, die mit Walsh im Flugzeug nach Genf sassen. Das Bundesamt für Gesundheit stellt Romand die Passagierliste zur Verfügung.

Er beginnt, die Liste mit dem Handy abzutelefonieren. Schickt einzelnen Passagieren SMS hinterher. Er gibt nicht auf, bis er alle erreicht hat. Von jedem hält Romand fest, auf welchem Platz er im Flugzeug sass.

In der Schweiz, in Frankreich, Grossbritannien und Spanien entsteht ein neuer Berufszweig: Contact-Tracer. Die Detektive im Dienst der Gesundheit verfolgen bei Infizierten jeden einzelnen Schritt zurück. In der Schweiz gehen mehrere Kantone den Spuren von Personen nach, die Walsh begegnet sind.

Eine äusserst aufwendige Arbeit. Gemäss der Taskforce des BAG haben neben dem Briten zwei weitere Infizierte einen Flug von Genf nach England genommen. In Neuenburg lässt sich ein junger Mann ausfindig machen, der in einem Skibus neben einem Kind sass, das von Walsh im französischen Les Contamines infiziert wurde. Am 11. Februar wird der Neuenburger unter Quarantäne gestellt. Doch sein Test ist negativ.

Im Fall Walsh hat das Contact-Tracing in der Schweiz perfekt funktioniert. Schnell können die Detektive allen Fährten, zumindest den ersichtlichen, nachgehen. Trotz intensiver Suche finden sie landesweit keinen positiven Fall. Viel Sorge um nichts?

Ja und nein. Die Virusverfolger sind zwar erfolgreich, weil sie in der Schweiz keine Ansteckungskette finden. Doch der Fall zeigt auch, was erst wenige zu dem Zeitpunkt erkennen: wie verwundbar die Schweizer Abwehr ist. Nur schon alle möglichen Kontakte von einer einzigen infizierten Person zurückzuverfolgen, erweist sich als extrem zeit- und arbeitsintensiv.

Manche Kantone haben nicht genügend Personal, um gleichzeitig viele Fälle zu verfolgen. In Genf etwa steht Kantonsarzt Romand dafür bis Anfang März nur ein fünfköpfiges Team zur Verfügung. In Neuenburg sind neben dem Kantonsarzt Claude-François Robert gerade mal drei Personen im Einsatz. Schweizweit kommen auf achteinhalb Millionen Einwohner ein paar Dutzend Contact-Tracer. Eigentlich, so hält es die Taskforce des BAG später in einem Protokoll fest, bräuchte es landesweit über 2100 von ihnen.

Engpässe bahnen sich auch bei den Testkapazitäten an. Für eine rigorose Fallverfolgung muss man im Umfeld jeder und jedes Infizierten laut BAG durchschnittlich 20 Personen testen. Dafür braucht es lange Wattetupfer, um einen Nasen-Rachen-Abstrich zu machen, sowie spezielle Reagenzflüssigkeiten, die genau auf das Virus abgestimmt sind. Für einen Ausbruch, wie ihn Hugo Sax, Infektiologe und Leiter Spitalhygiene am Zürcher Universitätsspital, erwartet, reichen die Kapazitäten Anfang Februar nicht aus. Und sie werden jetzt, in der Ruhe vor dem Sturm, auch nicht aufgebaut.

»Wir hätten sofort 500 000 Tests produzieren sollen und nicht warten, bis es brennt«, sagt Didier Trono, Professor für Virologie an der ETH Lausanne. Auch Hugo Sax sagt, man hätte früh im Februar mehr vorbereiten sollen.

Für den Infektiologen des Universitätsspitals Zürich ist der Fall Walsh der entscheidende Weckruf. Der Südengländer hatte während seines Aufenthalts in den Alpen bei Genf kaum Fieber, höchstens 37,3 Grad. »Das bedeutet, es gibt hochmobile Menschen, die das Virus streuen, und zwar an normalen gesellschaftlichen Anlässen«, sagt Sax. »Und die Neuangesteckten konnten sogar noch weiterreisen – ohne Symptome zu spüren – und andere Personen anstecken.«

Als Sax die Geschichte über Walsh hört, weiss er: Wenn so eine Ansteckung irgendwo in Europa passiert, ohne dass man die Infektion sofort entdeckt, »dann wird es auch bei uns sehr schnell zu Zuständen wie in China kommen«.

Der Infektiologe sagt auch: »Es war zu diesem Zeitpunkt noch nicht allen Leuten klar, wie schnell wir handeln müssen. Das betraf die Verwaltung genauso wie die Medien und die Allgemeinheit.« Die kollektive Passivität erklärt Sax so: »Wir Menschen reagieren auf Erlebnisse, nicht auf Statistiken und Modelle.«

Es beunruhigt nur wenige so richtig, dass viele Flüge aus der Schweiz in die Volksrepublik gestrichen wurden. Oder dass die Post deswegen auf einmal keine Briefe oder Pakete nach China mehr annimmt.

Die Schweiz hat bis zum Zeitpunkt von Li Wenliangs Tod 200 Coronatests durchgeführt. Alle waren negativ. Es gibt im Land nicht eine einzige bestätigte Infizierung. Und in ganz Europa ist kein einziger Todesfall bekannt. Die Krankheit, die das Virus verursacht, hat noch nicht einmal einen Namen. Getauft wird sie erst auf dem WHO-Gipfel in Genf am 11. Februar: Sie heisst fortan Covid-19, abgeleitet von »Corona virus disease 2019«.

IN ENGLAND will derweil ein unfreiwilliger Antiheld aus dem Spital – und den Schlagzeilen. Steve Walsh bekommt dabei sogar staatliche Unterstützung. »Herrn Walshs Symptome waren mild, und er ist nicht mehr ansteckend und stellt kein Risiko für die Öffentlichkeit dar«, erklärt der Nationale Gesundheitsdienst. »Er will nun in sein normales Leben zurückkehren und Zeit mit seiner Familie verbringen, ausserhalb des Scheinwerfers der Medien.« Nach einer Woche und zwei negativen Tests darf der 53-Jährige die Spezialklinik in London verlassen.

Über seine Entlassung aus dem Spital wird im Vereinigten Königreich viel berichtet. Walsh hat – noch in Isolation – ein letztes Statement abgegeben; darin dankt er jenen, die sich um ihn gekümmert haben. Seine Gedanken seien bei allen, die er angesteckt habe.

Freitag, 14. Februar, bis Sonntag, 16. Februar
+ + + EIN BUNDESAMT WEHRT AB + + + 14 STUNDEN FAHRT IM ROTEN KIA SPORTAGE + + + LIECHTENSTEIN HAT EIN ALKOHOLPROBLEM + + + EINE HOCHZEIT, EINE »KAPPENSITZUNG« UND EIN GROSSES RÄTSEL + + +

Patrick Mathys ist nicht neu im Business. Der 50-jährige Epidemiologe war schon beim Bundesamt für Gesundheit, als die Schweiz sich Mitte der Nullerjahre gegen die Vogelgrippe wappnete, die dann weniger schlimm war als befürchtet.

Ähnlich verhielt es sich bei der Schweinegrippe. Da war Mathys bereits Leiter Pandemievorbereitung im BAG. Im Sommer 2009 warnte er vor einer Welle mit bis zu zwei Millionen Erkrankten allein in der Schweiz. Nichtsdestotrotz flog er dann nach China an einen Kongress zum Thema und nahm keine Schutzmasken mit. So hatte er es zumindest auf dem »heissen Stuhl« der Fernsehsendung »Rundschau« angekündigt. Prognosen seien äusserst schwierig, erfuhr das TV-Publikum damals vor der Abreise von Mathys. Dann wagte er doch eine: Die Zahl der Toten im Land könnte durchaus in der Grössenordnung von 1000 bis 5000 Menschen liegen. Konkret zählte die Schweiz 18 Tote infolge der Schweinegrippe.

Das Bundesamt für Gesundheit musste sich den Vorwurf der Panikmache gefallen lassen – nicht nur, aber auch wegen Mathys. Doch dieser drehte den Spiess um. »Es wird beim Thema Schweinegrippe immer mit Emotionen gespielt«, beklagte sich der Epidemiologe in einer damaligen Fachdiskussion. »Das wollen wir aber nicht. Wir wollen sachlich informieren.«

Jetzt, Anfang 2020, steigert das BAG die Frequenz seiner Medienkonferenzen. Zu Beginn setzt es dabei oft auf Patrick Mathys. Auf einen Mann also, der in seinem bisherigen Berufsleben nicht unbedingt einer war, der Gefahren für die Bevölkerung kleinredet. Doch selbst Mathys, mittlerweile Leiter der Sektion Krisenbewältigung und internationale Zusammenarbeit im BAG, macht eher auf Optimismus. »Die gute Neuigkeit zuerst«, verkündet er an einer Pressekonferenz am 14. Februar: »Ausserhalb Chinas gibt es keine zusammenhängenden Übertragungsketten. Das Risiko einer unkontrollierten Ausbreitung in Europa – und somit auch in der Schweiz – ist gering.« Die schlechten Neuigkeiten aus Asien gehen danach fast unter.

Zwar sind inzwischen mehrere Fälle von Infizierten ganz in der Nähe der Schweiz aufgetaucht. Doch sind sie nicht alle eher glimpflich ausgegangen? Das weiss Mathys bestens, denn er bearbeitet die Fälle und koordiniert die Abwehrmassnahmen. Er, sein Team, das BAG, die Gesundheitsbehörden in Europa, alle gemeinsam haben bereits mehrfach dazu beitragen können, dass sich das Virus nicht weiter ausbreitet – bei der 30-köpfigen Reisegruppe aus Wuhan, beim Autozulieferer in München. Und zuletzt bei Steve Walsh.

Aber müsste der Fall Walsh, mit seinen Ansteckungsketten über halb Europa, nicht eine Warnung sein, wie schnell alles ausser Kontrolle geraten kann?

ANNA SAGHI* mag das Autofahren, »es ist mein liebstes Hobby«, sagt sie. So macht es ihr nichts aus, dass sie nun 14 Stunden in ihrem roten Kia Sportage unterwegs ist: von ihrer Heimatstadt Humenné an der slowakisch-ukrainischen Grenze 1300 Kilometer immer westwärts. Von der Slowakei durch Österreich und Bayern bis nach Rupperswil im Kanton Aargau.

Die 45-Jährige ist 24-Stunden-Pflegerin und eine von Zehntausenden Frauen aus Osteuropa, die in der Schweiz alte und gebrechliche Menschen pflegen und betreuen. In deren Daheim. Sie pendelt. Vier Wochen verbringt sie jeweils bei sich zu Hause, im Osten der Slowakei, wo auch ihre Tochter lebt, die folgenden vier Wochen an ihrem Arbeitsplatz in der Schweiz. Saghi ist alleinerziehend. Die 17-jährige Ivana lässt sie jeweils in der Slowakei zurück. Normalerweise ist das kein Problem, ihre Tochter geht in ein Internat.

In der Schweiz wohnt Anna Saghi ständig bei ihrem Klienten oder ihrer Klientin. Ab dem Freitag, 14. Februar, nicht mehr in Luzern, wo sie bisher arbeitete, sondern in Rupperswil.

Saghi arbeitet schon seit 17 Jahren als Altenbetreuerin und seit vier Jahren in der Schweiz. Sie hat in dieser Zeit ziemlich anstrengende Seniorinnen und Senioren erlebt, mürrische, knausrige, misstrauische. Sich selbst beschreibt sie als ausgeglichen, positiv, auch humorvoll. Aber bei manchen ihrer Klienten sei sie an ihre Grenzen gestossen.

Jetzt merkt sie schnell, dass sie dieses Mal Glück hat. Ihr neuer Klient, ein 85-jähriger alleinstehender Mann, erweist sich als angenehmer Gesprächspartner.

Anna Saghi ist zufrieden. In den nächsten Wochen wird sie pausenlos bei ihm sein, sie wird bei ihm wohnen, putzen, für ihn einkaufen, kochen, ihn pflegen. Nur einen Tag in der Woche hat sie frei. Dann geht sie spazieren, in den Wald oder ans Ufer der Aare. Oder sie telefoniert mit ihren Kindern. Neben ihrer Tochter hat sie auch einen Sohn. Der 25-Jährige lebt seit ein paar Jahren in Tschechien.

Wenn Saghi arbeitet, und das tut sie fast immer, liest sie ihrem Klienten Nachrichten aus dem Internet vor, am Abend schauen sie gemeinsam fern. Meistens wählen sie deutsche oder österreichische Sender, »nur selten die Schweizer«, wie sie sagt. Corona ist jetzt immer öfter das Hauptthema in den Nachrichten. »Wir haben uns schon gewundert: Was ist da eigentlich los auf der Welt?«

AN ANNA SAGHIS ERSTEM TAG in Rupperswil fährt Ricarda Luzio ins Unterengadin. Die Spitalapothekerin will mit ihrem Mann und den beiden Kindern eine Woche in ihrem Ferienhaus verbringen, danach eine zweite Woche zu Hause in Luzern. Skiferien und endlich Zeit für die Familie. Doch wirklich entspannen kann sie nicht.

Endgültig vorbei mit der erhofften Ruhe ist es, als ein Apothekerkollege aus ihrem 20-köpfigen Team eher zufällig bemerkt, dass dem Spital St. Anna bald das Händedesinfektionsmittel ausgehen wird. Die Sache ist so wichtig, dass er die Chefin im Unterengadin einschaltet.

Zwar hat Daniel Koch vom BAG gerade öffentlich versichert, dass die lokale Produktion von Desinfektionsmittel gross genug sei. Aber Luzio geht auf Nummer sicher. Sie erteilt dem Kollegen den Auftrag, sofort so viel wie möglich nachzubestellen. »Ich schaute nur für die Klinik St. Anna«, erklärt sie. »Es war mir in dem Moment nicht wichtig, wie viel im Zentrallager für die anderen Spitäler übrig blieb.« Es gelingt dem Apotheker, 600 Liter zu sichern.

Kurz danach wird auch öffentlich bekannt, dass der Rohstoff Ethanol, also gewöhnlicher Alkohol, in der Schweiz Mangelware ist. Um ein paar Millionen zu sparen, hat der Bund seine Pandemie-Reserve 2018 abgeschafft. Das rächt sich nun, wobei die Konsequenzen weniger gravierend sind als beim Schutzmaterial. Masken kommen aus Asien, da sind der Schweiz die Hände gebunden. Beim Alkohol kann das Land selber Abhilfe schaffen – unkompliziert, nur die Trinkerseele schmerzt.

Agroscope, die Forschungsstelle für Landwirtschaft, leert ihren gesamten Weinkeller. Aus 20 000 Liter Wein – rotem und weissem aus dem Tessin, dem Wallis und dem Lavaux – werden knapp 3500 Liter Desinfektionsmittel für die Armee-Apotheke. Im Kanton Zug müssen 2000 bis 2500 Liter edler Etter-Kirsch mit 80 bis 90 Prozent Alkoholgehalt dran glauben. In Martigny bringt die Destillerie Morand eine Desinfektionslösung auf der Basis von Birnenschnaps auf den Markt. Hipster in Lausanne, Genf und Neuenburg schätzen sie bald schon, weil sie »nach Williams riecht und die Hände weich macht«.

Das Problem ist fürs Erste gelöst. Eine erfolgreiche Aktion, die anmutet wie aus der legendären Schweizer Anbauschlacht im Zweiten Weltkrieg. Dem will das Fürstentum Liechtenstein in nichts nachstehen. »Wir haben ein Alkoholproblem«, schreibt die Regierung an alle Mitarbeitenden der Verwaltung. »Auch wenn in Krisenzeiten mehr zu Hause getrunken wird, habt ihr vielleicht noch ein paar Flaschen Schnaps im Keller, die ihr nicht einmal in der schlimmsten Krise trinken würdet.« Diesen »Fusel« sollen die Staatsangestellten doch bitte abgeben, damit die Regierung ihn zu Desinfektionsmittel verarbeiten kann. »Wie das Zeug riechen wird, kann man noch nicht sagen, aber seinen Zweck wird es erfüllen: Es killt die Viren.« Das originelle Schreiben schlägt ein, viele Beamte leeren ihre Vorräte.

IN DER KATHEDRALE im nordspanischen Burgos, Teil des Weltkulturerbes, wurden bereits im 14. Jahrhundert Opfer der grössten Seuche der Menschheit betrauert: der Pest.

Am Ende des Ersten Weltkriegs weinte man um all die Frauen und Männer, die an der Spanischen Grippe starben, der grössten Seuche der Neuzeit.

Und in ein paar Wochen, an Ostern 2020, wird der Erzbischof allein, aber in Live-Übertragung mit Gläubigen in Ausgangssperre, um die Corona-Toten trauern. Die Stadt Burgos, die Autonome Region Castilla y León, zu der sie gehört, und ganz Spanien zählen zu den am meisten betroffenen Gebieten.

Jetzt aber, am 15. Februar 2020, wird im gotischen Gotteshaus eine Hochzeit gefeiert. Für solch ein Fest eine ungewöhnliche Jahreszeit, etwas kalt, aber nicht weniger schön.

Für die Feier in der Kathedrale und die anschliessende Fiesta in einem Hotel sind Angehörige und Freunde aus ganz Spanien und auch aus Österreich angereist. Von dort stammt der Bräutigam. Auch sein Cousin Moritz Futscher* ist gekommen, zusammen mit seiner deutschen Frau Laura*. Aus Amsterdam. Dort leben die beiden seit vier Jahren, dort hat der Physiker Anfang Januar seine Doktorarbeit über neue Solarzellen verteidigt. Mit Auszeichnung. Laura ist selbständige Texterin – und im fünften Monat schwanger.

Das Paar freut sich auf alles, was kommt. Auf den baldigen Umzug von Amsterdam nach Zürich, vor allem aber auf ihr erstes Kind. Am 1. April hat Moritz seinen ersten Arbeitstag bei der renommierten Schweizer Forschungsanstalt Empa in Dübendorf.

Für die Hochzeit in Nordspanien haben die Futschers den holländischen Winter gern hinter sich gelassen. Das neue Virus hält noch kaum jemanden von Reisen auf die iberische Halbinsel ab. In Spanien gibt es Mitte Februar zwar zwei bestätigte Corona-Infizierungen, aber keine in Burgos und Umgebung.

INZWISCHEN IST CORONA vielerorts in Europa angekommen. In Deutschland, Italien oder Österreich werden politische Kundgebungen, Feiern, Gottesdienste, aber auch Sportanlässe zu Virusfallen. Der Erreger geht manchmal, aber längst nicht immer von Teilnehmer zu Teilnehmer über. Wieso an einem Ort alles glimpflich verläuft und sich an anderen Katastrophen anbahnen – darüber wird die Wissenschaft noch lange rätseln.

Am Tag der Hochzeit in Nordspanien steckt sich in Mailand ein 70-jähriger Tessiner an, der für eine Veranstaltung angereist ist. Und am Abend feiert das deutsche Örtchen Gangelt, nahe der niederländischen Grenze, Karneval, worauf wenige Tage später Hunderte Personen an Covid-19 erkranken. Bald wird es erste Tote geben. Am Samstagabend aber wird an der »Kappensitzung« geschunkelt, getrunken – und unbemerkt das Virus weitergegeben.

Laura und Moritz Futscher geniessen am selben Abend in Burgos eine etwas ruhigere, aber umso bewegendere Feier inmitten der 200 Hochzeitsgäste. Direkt nach der Hochzeit geht es für die beiden 30-Jährigen nach Teneriffa weiter. Elf Tage nur zu zweit, Sonne, Strand und Meer – so stellen sie sich ihre letzten längeren Ferien vor der Geburt ihres Kindes vor. Sie haben eine Finca im Norden der kanarischen Insel gemietet, danach verbringen sie noch ein paar Tage in einer Wohnung im Süden.

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