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Montag, 17. Februar, bis Mittwoch, 19. Februar
+ + + »EINE PANDEMIE IST MÖGLICH« + + + DIE SCHWEIZ ALTERT GESUND + + + DANIEL KOCH HAT KEINE ZEIT + + + »DAS SPIEL WAR EINE BIOLOGISCHE BOMBE« + + +

Während sich Laura und Moritz Futscher am Montag nach dem Hochzeitswochenende langsam nach Madrid und dann mit dem Flugzeug nach Teneriffa aufmachen, beginnt im elsässischen Mülhausen, nahe Basel, eine Fastenwoche der Freikirche »La porte ouverte chrétienne«.

Die evangelikale Glaubensgemeinschaft verfügt im Stadtteil Bourtzwiller über 7000 Quadratmeter Fläche. Mit ihren Aktivitäten, von Gottesdiensten über Gesangskurse bis zu Programmen für Kinder und Jugendliche, zieht sie – weit über das Dreiländereck hinaus – viele Menschen an. An der Fastenwoche nehmen 2000 Personen teil, 30 davon aus der Schweiz.

In Frankreich ist die Warnstufe wegen Corona noch auf dem tiefsten Niveau, auf 1 von 3. Die Fastenden in Mülhausen-Bourtzwiller umarmen sich und halten sich die Hände.

Nur eine halbe Autostunde südlich erforscht Richard Neher, wie sich Viren verbreiten. »Wir wissen nicht, ob #nCov #SARSCoV2 eine Pandemie verursachen wird, aber es verbreitet sich schnell und es hat Cluster an vielen Orten gebildet – eine Pandemie ist möglich«, schreibt der Forschungsleiter am Biozentrum der Universität Basel just zu Beginn der Fastenwoche, am 17. Februar, auf Twitter. »Gesundheitssysteme und Versorgungsketten müssen für diesen Fall so gut wie möglich vorbereitet werden.« Nehers Tweet findet nur in Fachkreisen Beachtung.

EBENFALLS AM MONTAG, 17. Februar, fühlt sich der 70-jährige Tessiner, der zwei Tage zuvor an einer Veranstaltung in Mailand war, erstmals krank.

Am selben Tag sitzt BAG-Direktor Pascal Strupler sichtlich entspannt neben einem ebenfalls locker wirkenden Alain Berset im Kursaal Bern. Der Amtschef und sein Vorgesetzter sind Gastgeber an der Nationalen Konferenz »Gesundheit 2030«. Das Thema: »Gesund altern«. Gegen 250 Personen sitzen eng beieinander, darunter viele ältere. Strupler und Berset schütteln viele Hände. Die Bilder vom Anlass wirken schon wenige Wochen später wie aus einer anderen Zeit, die Eröffnungsansprache des Gesundheitsministers auch.

»Wir werden älter, und das ist erfreulich«, sagt Alain Berset. »Und vielen geht es im Alter gut: Nach ihrer Gesundheit und Schmerzen befragt, bezeichnet die ältere Bevölkerung ihren Zustand als mehrheitlich gut und schmerzfrei.«

Und dann fragt Berset: »Ist das nicht erstaunlich?«

AM TAG DARAUF, am 18. Februar, passiert etwas ebenfalls Erstaunliches: Christian Althaus darf im Bundesamt für Gesundheit einen Vortrag halten. Ausgerechnet Althaus, der den Umgang des BAG mit der neuen Gefahr aus China als einer der Ersten öffentlich scharf kritisiert hat.

Doch hinter den Kulissen hat der Berner Epidemiologe bereits ab Ende Januar den Kontakt zu den Gesundheitsbeamten gesucht. Er hat seine Hilfe angeboten. Jetzt, nach mehreren Anläufen, hat es geklappt. Das Amt will ihm zuhören. »Ich freute mich, dass es endlich zu diesem wissenschaftlichen Austausch kam«, erinnert sich Althaus. »Im Vortrag zeigte ich auf, dass Covid-19 hohe Übertragungs- und Sterblichkeitsraten aufweist und dass bald mit grösseren Ausbrüchen ausserhalb Chinas zu rechnen sei. Wir hatten damals ein produktives Gespräch, aber ich war besorgt, dass weder Herr Koch noch Herr Mathys es für nötig hielten, am Vortrag teilzunehmen.«

Das Bundesamt für Gesundheit schreibt in einer Stellungnahme: »Der Informationsfluss innerhalb des BAG ist jederzeit gesichert.« Althaus’ Erkenntnisse seien in Entscheide des Amts eingeflossen. »Hierzu mussten weder Herr Koch noch Herr Mathys persönlich anwesend sein.«

Koch selber sagt, er wisse nicht mehr, warum er nicht teilgenommen habe: »Wahrscheinlich stand der Termin nicht zuoberst auf der To-do-Liste.«

Zeit gefunden hat Daniel Koch hingegen für ein Gespräch mit einem Journalisten. Am Tag nach Althaus’ Vortrag darf Koch in der NZZ seine »Botschaft« an die Bevölkerung vermitteln: »Das Coronavirus stellt derzeit für die Schweiz keine Bedrohung dar – aber dies könnte sich in drei Wochen oder sechs Monaten ändern.«

WIEDERUM EINEN TAG SPÄTER, am 19. Februar, passiert erneut Ungewöhnliches – das aber kaum öffentliches Echo auslöst. Bersets Innendepartement verschiebt den »Patient Safety Summit« auf unbestimmte Zeit. Das Treffen von Experten für Patientensicherheit aus der ganzen Welt hätte am 27. und 28. Februar in Montreux stattfinden sollen.

Die Warnungen werden nun entweder ernster genommen, oder der Bund passt von sich aus besser auf, als es von aussen den Anschein macht. Jedenfalls ist die frühe Verschiebung ein weiser Entscheid – wie sich am Beispiel Italien zeigt, das gerade in seine grösste Gesundheitskrise schlittert.

AM ABEND DES 19. FEBRUAR wird in Mailand Fussball gespielt, Champions League, Atalanta Bergamo gegen Valencia, 44 000 Zuschauer, die meisten reisen aus dem Städtchen und der Umgebung des Heimvereins nahe der Schweizer Grenze an, über 2000 Valencia-Fans aus Spanien. Im Stadion San Siro sehen die Zuschauer am 19. Februar eine mitreissende Partie, die in die Geschichte eingehen wird. In die lokale Sportgeschichte, weil der kleine Bergamasker Klub 4 : 1 gewinnt. In die Medizingeschichte, weil sich das Coronavirus im Stadion und im Umfeld des Spiels ungemein stark verbreitet. Und in die Geschichte Italiens, weil die Begegnung zu einer der grössten Katastrophen im Land seit dem Zweiten Weltkrieg beiträgt. »Das Spiel war eine biologische Bombe«, wird der Bürgermeister Bergamos sagen.

Freitag, 21. Februar, bis Samstag, 22. Februar
+ + + HIOBSBOTSCHAFT AM FRÜHEN MORGEN + + + ROTE ZONEN IN DER NACHBARSCHAFT + + + FASNÄCHTLER FEIERN EINEN REKORD + + +

Am 21. Februar, gegen halb sieben morgens, liest Christian Camponovo zu Hause auf der Toilette Nachrichten. Er ist der Direktor der vornehmen Privatklinik Moncucco in Lugano, die knapp einen Monat später zum zweiten Corona-Spezialspital in der Schweiz umgerüstet wird. »Ich las auf meinem Handy, was gerade in Codogno passierte«, erinnert er sich. »Mir wurde sofort klar: Es wird ernst fürs Tessin.«

In Codogno, 30 Kilometer südöstlich von Mailand, sind – im Spital des Städtchens – fünf Mitglieder des Pflegepersonals und drei Patienten mit dem Coronavirus angesteckt worden. Das Spital wird abgeriegelt. Die Carabinieri errichten eine »zona rossa«, eine rote Sperrzone. Weitere Gebiete in der Lombardei und in Venetien werden unter Quarantäne gestellt und abgeriegelt. Was das für das Tessin bedeutet, das mit Norditalien aufs Engste verflochten ist, kann sich jeder ausmalen.

Christian Camponovo bereitet grosse Sorgen, dass Italien am selben Tag auf einen Schlag 16 Corona-Ansteckungen meldet. Keine davon ist in China passiert.

Das Tessin und die Schweiz, das ist Camponovo und vielen anderen nun klar, werden nicht verschont bleiben. Diese Erkenntnis kommt allerdings zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt: Erstens findet in den meisten Kantonen die Fasnacht statt. Zweitens beginnen in vielen Kantonen gerade die Sportferien. In den Skiorten kommen Menschen aus allen Himmelsrichtungen zusammen, und dies auf engem Raum.

DIE DRAMATISCHE ENTWICKLUNG in Norditalien beschäftigt auch die Familie Fleury in Zürich. Die älteste Tochter des Ehepaars Céline* und Pascal Fleury steht bei einer Modelagentur unter Vertrag und reist für Shootings nach Mailand. Verwandte erkundigen sich per Telefon bei den Eltern, wo die 19-Jährige sei. Ob es ihr gut gehe. Céline Fleury beruhigt sie – der letzte Mailandbesuch ihrer Tochter war im Dezember, und momentan steht kein weiterer an.

Die Diskussion über das Coronavirus bleibt entsprechend abstrakt. Das Virus scheint weit weg. Genau wie die überstandene Krebserkrankung von Céline Fleurys Mutter. Die 68-jährige Anne-Lise Cornu hat Anfang Februar die Nachricht erhalten, dass keine Krebszellen mehr vorhanden seien. Sie sei so weit gesund und könne mit der Physiotherapie starten. Alle sind erleichtert, besonders Céline, die sich auch um ihren Vater sorgt: Der 71-jährige Henri-Paul Cornu ist seit Jahren lungenkrank. Der Kontakt ist eng und innig. Allzu oft sieht sich die Familie dennoch nicht: Céline Fleurys Eltern und auch ihre beiden Brüder wohnen im Kanton Freiburg.

ALAIN BERSET IST BEUNRUHIGT, wie rasch die Fallzahlen in Norditalien ab dem 22. Februar in die Höhe schnellen – auf über 130. Das Land meldet am Wochenende auch die ersten beiden Toten. Dem Bundesrat bereitet vor allem die Meldung Sorge, dass sich das Virus dort auch in einem Krankenhaus ausgebreitet habe, ohne dass es jemand merkte. »Die Alarmstufe war gestiegen«, erinnert sich der Freiburger. »Bis dahin gingen wir davon aus, dass Italien in der Lage sein würde, die Krankheit in den Griff zu bekommen. Aber die Spitäler in der Lombardei, die zu den bestbewerteten in Europa gehören, waren überfordert. Seit diesem Wochenende wussten wir, dass sich ein potenziell katastrophales Szenario abzeichnet.«

Die Tessiner Regierung mag sich nicht zu einer Absage der Fasnacht durchringen, obwohl eine solche Veranstaltung aus epidemiologischer Sicht viel kritischer ist als ein Kongress zur Patientensicherheit, wie ihn der Bund gerade verschoben hat. Aus allen Kantonsteilen strömen die Menschen an den Rabadan nach Bellinzona. Dort wird am Samstag, den 22. Februar, um 18 Uhr die Città del Carnevale eröffnet, um 19 Uhr steht dann das Concerto delle Guggen auf dem Programm, danach feiern die Menschen bis in den Morgen hinein.

Sonntag, 23. Februar, bis Montag, 24. Februar
+ + + FERIEN WIE IM HORRORFILM + + + MIRJAM MÄUSEZAHL SCHLÄGT ALARM + + + KOCH HOFFT, BERSET HANDELT + + +

Am Fasnachtswochenende beherrscht die Spionageaffäre um die Geheimdienst-Tarnfirma Crypto AG noch die Schlagzeilen. Am Sonntag, 23. Februar, fährt Alain Berset mit seiner Familie in Saint-Luc im Wallis Ski. Es ist keines dieser Mega-Skigebiete wie Ischgl im Tirol, wo sich just an diesem Wochenende ein Corona-Superherd bildet, vielleicht der verhängnisvollste in Europa. Es ist auch nichts im Vergleich zum gigantischen Skigebiet 4 Vallées gleich um die Ecke. In dessen Hauptort Verbier werden die kommenden Tage dramatisch.

Das Skigebiet Saint-Luc im Val d’Anniviers, wo die Bersets jetzt sind, ist klein, elf teilweise ältere Lifte aus den Siebziger- und Achtzigerjahren. Das Hotel Weisshorn, Ende des 19. Jahrhunderts erbaut, versprüht Charme. Alain Berset postet auf Instagram ein Bild aus einem Flur mit schwerem Teppich, knarrig aussehenden Holzdielen, Waschkrügen und schummriger Beleuchtung. Offensichtlich fühlt er sich an den Horrorfilm »Shining« erinnert, in dem Jack Nicholson in einem historischen Aussichtshotel sein Unwesen treibt. Jedenfalls setzt Berset in einem Hashtag den Namen des Regisseurs dieses Films dazu: #stanleykubrick.

Dem Gesundheitsminister gefällt es in Saint-Luc. Doch richtig abschalten kann er diesmal nicht. Als Vorteil erweist sich für einmal, dass die Skilifte Bella Tola und Pas de Bœuf Tellerlifte sind, bei denen man allein gemächlich den Berg hochfährt. Bei jeder Fahrt, so erzählt Berset, habe er ungestört einen Anruf erledigen können. Um 15 Uhr habe er, angesichts der Entwicklung in Italien, seinen familiären Skitag abgebrochen. Vor der Talstation wartet sein Chauffeur und fährt ihn die Serpentinen runter. Um Zeit zu gewinnen, zieht sich der Bundesrat im Auto um. Unten im Rhonetal erwischt er kurz vor 16 Uhr den Zug Richtung Bern. Die Skisachen lässt er im Auto, der Fahrer gibt sie ihm später zurück. Um 18 Uhr leitet Alain Berset die erste Krisen-Telefonkonferenz seines Teams in Sachen Coronavirus.

Fortan bleibt der Gesundheitsminister in seinem »pied-à-terre« in Bern. Nun arbeitet er nahezu pausenlos, oft 14 Stunden am Tag, Wochenenden gibt es nicht mehr. Seine Familie, mit der er eigentlich in Belfaux bei Freiburg lebt, nur eine halbe Autostunde entfernt, wird er erst anderthalb Monate später wiedersehen. Zu Ostern.

»Das war natürlich nicht geplant«, sagt Alain Berset im Rückblick. »Ich dachte, es wäre bequemer, die Coronavirus-Lage von Bern aus zu überwachen und die am 2. März beginnende Frühjahrssession zu begleiten.«

Absehbar ist nämlich: Es wird für Berset, selbst wenn es an der Viren-Front eher ruhig bleibt, eine seiner strengsten Sessionen in mittlerweile acht Jahren als Bundesrat. Von seinen Geschäften kommen wichtige in die Räte, darunter die Überbrückungsrente für ältere Arbeitslose. Es wird erwartet, dass er jeden Tag im Parlament sitzt. »Es machte keinen Sinn, nach Hause zu gehen«, sagt Berset. »Es wäre für meine Familie schlimmer gewesen, wenn ich physisch dort gewesen wäre, ohne wirklich präsent zu sein.«

TATSÄCHLICH ÜBERSCHLAGEN SICH nun die Ereignisse. Zuerst in Italien. Am Montag wird der Karneval von Venedig abgebrochen. Venetien verbietet alle Sportveranstaltungen; Museen und Schulen in der Region müssen schliessen. Die Nachbarregion Lombardei handelt ebenfalls.

In der Schweiz geht das närrische Treiben weiter, in der Fasnachtshochburg Luzern und auch im Tessin. Wie fahrlässig das ist, wird erst im Rückblick deutlich. »Klar«, sagt der Luganeser Klinikdirektor Christian Camponovo später, »die Fasnacht hätte man auch in der Schweiz absagen müssen, wie alle anderen Grossanlässe im ganzen Land.« Aber er findet auch: »Im Nachhinein ist man immer gescheiter. Niemand glaubte damals, dass es in wenigen Wochen so schlimm werden würde. Viele waren in den Ferien, viele gerade in Italien. Als alle zurückkehrten, konnte sich das Virus überall verbreiten. Das ist heute sehr klar zu sehen.«

IN BERN FEIERN DIE FASNÄCHTLER traditionell erst nach dem Aschermittwoch. Der Fasnachtsmontag ist dort daher ein normaler Arbeitstag. An diesem 24. Februar kommt um 8 Uhr 30 in Liebefeld die BAG-Corona-Taskforce zusammen. Mit dabei sind Amtsdirektor Strupler und Bersets Generalsekretär Lukas Bruhin, was den Ernst der Lage unterstreicht. Daniel Koch beruhigt: Die Situation im Norden Italiens, das Schliessung um Schliessung verkündet, sei zwar »etwas chaotisch« und die Zahl der Fälle »sprunghaft angestiegen«. Aber die Sache sei trotzdem »zurzeit noch als lokaler Ausbruch zu behandeln«. Er vermittelt falsche Sicherheit, wie ein weiterer, verkürzt protokollierter Satz zeigt: »Virus wird nicht so leicht übertragen wie Grippevirus, darum gute Aussichten, die Situation unter Kontrolle zu bringen.«

Eine Mitarbeiterin aus einer Hierarchiestufe unter Koch jedoch schlägt Alarm – trotz den relativierenden Worten ihres Chefs, die sie gerade vernommen hat. Die Co-Leiterin der Sektion Epidemiologische Überwachung und Beurteilung, Mirjam Mäusezahl, stellt – wie das Protokoll verrät – einen besonderen Antrag: Der Bundesrat solle sofort die besondere Lage ausrufen. So heisst die sanftere Form des Gesundheitsnotstands in der Schweiz, die dem Bundesrat mehr Macht und Kompetenzen verleiht. Die härtere Variante wäre die ausserordentliche Lage. »Das neuartige Coronavirus stellt eine besondere Gefährdung der öffentlichen Gesundheit dar«, sagt Mäusezahl.

Doch BAG-Direktor Strupler entgegnet, dieses Vorgehen sei am Wochenende mit Departementschef Berset »intensiv besprochen« worden und zurzeit nicht möglich. Generalsekretär Bruhin setzt die BAG-Epidemiologin daraufhin ins Bild, dass eine besondere Lage nur zusammen mit »konkreten Massnahmen« ausgesprochen werden könne. Dazu ist die Politik offenbar noch nicht bereit. Die Lage bleibt – so die offizielle Bezeichnung – »normal«.

ÜBER EINE VERSCHÄRFUNG ENTSCHEIDEN muss, samt entsprechenden Massnahmen, der Bundesrat. Doch erfährt die Regierung auch wirklich, dass die für die Lagebeurteilung zuständige Epidemiologin im Bundesamt für Gesundheit eine rasche Reaktion beantragt hat? »Das BAG-Team ist stark, stabil und gut aufgestellt«, sagt der Gesundheitsminister im Rückblick. »Ich habe gebeten, mich über alle Differenzen zu informieren. Damit ich irgendwie an ihren Debatten teilnehmen kann, bevor ich mir eine Meinung bilde.«

Nun aber steht – an diesem Montag – die erste Pressekonferenz zum Coronavirus in Anwesenheit eines Bundesrates überhaupt an. Die Strategie ist klar: Berset will »aufzeigen, dass die Lage ernst genommen wird«, wie sein Generalsekretär Lukas Bruhin erklärt. »Es ist wichtig«, heisst es im Protokoll weiter, auf die Öffentlichkeit »beruhigend zu wirken«.

Um 13 Uhr 30 tritt Berset vor die Bundeshausjournalisten. Um jeglichen Anflug von Panik zu vermeiden, spricht er nicht vom »Pandemieplan«, sondern bezeichnet diesen als »Aktionsplan«. Das klingt mehr nach: Wir sind bereit. Was die allgemeine Lage betrifft, ist Bersets Tonfall aber eher alarmierend. »Wir sind sehr aufmerksam«, sagt er am Rande seiner ersten Covid-19-Medienkonferenz. »Wir beobachten die Situation Stunde um Stunde.«

Die SVP fordert bereits strenge Einreisekontrollen, inklusive medizinischer Schnelltests. Erkrankte Personen will sie zurückweisen. Der Bund aber lässt die Grenzen offen.

DER TESSINER GESUNDHEITSMINISTER Raffaele De Rosa ruft Berset direkt an. Der Staatsrat macht sich, das wird sofort deutlich, grosse Sorgen. Die Forderung, die Grenzen zu schliessen, wird immer lauter, nun erheben sie sogar Regierungsräte. »Das Coronavirus und die extremen Spannungen, die es erzeugt, offenbaren den Charakter von Menschen«, sagt Berset rückblickend. »Für einige war es nicht einfach, rational zu bleiben. Während der gesamten Krise stand ich in Kontakt mit Gesprächspartnern, die in Panik geraten waren. Aber es ist sehr menschlich, es ist eine Feuerprobe.«

Gesundheitsminister De Rosa sagt über seinen Kontakt zu Berset: »Zu Beginn der Pandemie hatten die Bundesbehörden verständlicherweise Schwierigkeiten, unsere Bedenken zu verstehen. Die Situation im Zusammenhang mit der Verbreitung des Coronavirus wurde südlich und nördlich der Alpen sehr unterschiedlich wahrgenommen. Wir konnten unsere Argumente aber darlegen, und der Bundesrat hat sie verstanden.« De Rosa beschreibt die Beziehungen zu Bern als »intensiv und konstruktiv«.

DANIEL KOCH WIEDERUM eilt im Campus Liebefeld in die nächste Sitzung. Am Abend des Fasnachtsmontags, am 24. Februar um 17 Uhr, kommt im Sitzungszimmer K2 der Bundesstab Bevölkerungsschutz zusammen, zum ersten Mal seit Ende Januar. In dem zu diesem Zeitpunkt zumindest auf dem Papier wichtigsten Krisengremium des Bundes schickt Koch voraus, dass »aus Zeitgründen keine Präsentation erstellt werden konnte, zumal sich die Zahlen stündlich verändern«. Dann spricht er von einem »dritten Hotspot in Norditalien mit fünf Todesfällen, was für die Schweiz ziemlich unangenehm ist«.

Für Koch gilt weiterhin das Prinzip Hoffnung: »Aufgrund der heutigen Informationen zur Situation in Norditalien ist es zu früh, um von einer epidemischen Welle zu sprechen, hoffentlich befindet sich die Lage nach wie vor unter Kontrolle.«

Doch die Kontrolle ist nicht nur in Italien entglitten, sondern auch in der Schweiz. Das Virus ist bereits im Land. Rückkehrer aus dem Elsass, aus dem Tiroler Ischgl, aus Italien verbreiten den Erreger ungehindert. In und um Basel, in der Westschweiz, im Tessin. Überall. Unbemerkt. Um die Schweiz zu überwältigen, braucht Sars-CoV-2 nur ein paar Tage.

Dienstag, 25. Februar
+ + + PATIENT EINS + + + BERSETS OFFENBARUNG IN ROM + + + DAHEIM WARTET EIN WARNBRIEF + + +

»Er war eigentlich nicht sonderlich krank, wir hätten ihn auch wieder heimschicken können.« Maria Pia Pollizzi hat in ihren 25 Jahren als Pflegefachfrau schon viele Patienten kommen und zum Teil auch gleich wieder gehen sehen. Aber natürlich erinnert sich die Leiterin Pflege der Intensivstation in der Luganeser Privatklinik Moncucco an den Rentner, den seine Frau mit dem Auto brachte. Und den man an anderen Tagen wohl kaum stationär aufgenommen hätte.

Doch jetzt wäre das fahrlässig angesichts der Nachrichten aus Pollizzis Herkunftsland Italien. Es handelt sich bei dem Patienten um den 70-jährigen Mann, der eineinhalb Wochen zuvor an einer Veranstaltung in Mailand war. Nun fühlt er sich leicht kränklich. Ist es Covid-19? Oder wieder Fehlalarm?

Die Klinik Moncucco hat bereits zwei Personen auf Sars-CoV-2 testen lassen. Beide Male war das Resultat negativ. Wie bisher auch alle anderen Tests in der Schweiz.

Die 46-jährige Pollizzi stammt aus dem norditalienischen Varese. Seit gut 20 Jahren arbeitet die zupackende Pflegefachfrau im Privatspital Moncucco. Am Sonnenhang von Lugano gelegen, gehört es mit seinen 200 Betten zu den grossen medizinischen Einrichtungen des Tessins.

Pollizzis Gelassenheit auch in den schwierigsten Momenten ist bei der Belegschaft legendär. Wer Sorgen hat, wendet sich gern an sie.

Die Pflegefachfrau macht sich nun aber selber Sorgen. Kommt die »onda«, die Welle, auch ins Tessin? Und wenn ja, wann? Maria Pia Pollizzi und ihr Team sind vor ein paar Tagen jedenfalls das Notfallprotokoll durchgegangen, es war eine Art kleine Übung. Aber genügt das?

Die Sorgen sind nicht nur beruflicher, sondern auch privater Natur. Das italienische Varese, wo ihre Eltern leben, liegt nur knapp 40 Kilometer von Lugano entfernt und wurde zwar nicht als »zona rossa«, als Sperrzone, deklariert, aber sie geht die Eltern trotzdem nicht mehr besuchen. Und diese verlassen ihr Haus nicht mehr – denn sie gehören zur Risikogruppe.

Ältere Menschen trifft das neue Virus besonders hart. Das zeigt sich immer deutlicher. Erst vier Tage alt ist eine Auswertung von 44 672 bestätigten Fällen aus China. Von den über 80-Jährigen überlebte jeder siebte Angesteckte nicht. Auch acht Prozent der Infizierten zwischen 70 und 79 Jahren sind gestorben. Maria Pia Pollizzis Eltern sind beide etwas über 70.

AM 25. FEBRUAR um den Mittag herum überfliegt Alain Berset im Bundesratsjet die Südschweiz und Norditalien mit seinen Sperrzonen. Gegen halb vier befindet er sich im Ministero della Salute in Rom. Gleich beginnt das Treffen mit seinen Amtskollegen aus Deutschland, Österreich, Frankreich, Slowenien, Kroatien sowie Italien. Roberto Speranza, der italienische Gesundheitsminister, hat geladen. »Der Raum war viel zu klein für uns und unsere Teams«, sagt Berset. Fotos zeigen, wie der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn ihm kollegial die Hand auf die Schulter legt. Man steht und sitzt eng beieinander. Hände werden geschüttelt, auch die von Berset.

Bevor es losgeht mit dem formellen Teil, kommt die schlechte, aber nicht unerwartete Nachricht aus der Heimat. Alain Berset erfährt: Es gibt einen ersten Fall. Es ist der 70-jährige Tessiner Rentner. Sein Test ist positiv. Nun hat also auch die Schweiz ihren Patienten eins.

Im Ministero della Salute sind sich die sieben Gesundheitsminister schnell einig, dass die bisherigen Massnahmen zur Eindämmung des Virus nicht mehr reichen. Es braucht auch in Europa einschneidende Massnahmen. Vorerst gibt es aber nur einen gemeinsamen Willen, jedoch keinen gemeinsamen Weg. Man weiss, was man nicht möchte: Grenzen schliessen.

Alain Berset realisiert, dass die Schweiz handeln muss. Dass er, der Bundesrat, handeln muss. Der 25. Februar in Rom ist für Berset »ein grundlegender und entscheidender Moment«, so erzählt er es später mehrfach: »An diesem Tag wurde mir klar, dass die Situation in Italien ausser Kontrolle geraten ist. Und dies trotz all dem guten Willen im Land.«

Was Berset erstaunt und beunruhigt: Die Italiener versuchen verzweifelt, von Hand und auf kleinen Zetteln die Anzahl der Kranken im Land zu berechnen. Es wirkt wie eine ungewollte Warnung an die Gäste.

Nicht gerade hilfreich für die Bewältigung der Krise scheint zudem, dass die italienische Regierung wieder einmal geschwächt ist. Und der Gesundheitsminister neu im Amt.

WÄHREND SICH BERSET IN ROM AUFHÄLT, beginnt in Bern eine Medienkonferenz, die von langer Hand geplant ist und jetzt, da der erste Fall aufgetaucht ist, stattfindet. Der Zeitpunkt, um 17 Uhr an diesem 25. Februar, hat sich kurzfristig ergeben.

»Pascal Strupler kennen Sie«, sagt Gregor Lüthy, der Kommunikationschef des Bundesamts für Gesundheit, zu den Bundeshausjournalisten. Den hageren Mann mit der Glatze neben ihm stellt Lüthy noch vor, obwohl dessen Medienpräsenz in den vergangenen Tagen bereits gewachsen ist: »Daniel Koch ist der Leiter Übertragbare Krankheiten im BAG.«

Amtsdirektor Strupler übernimmt und informiert »über den ersten positiv getesteten Fall in der Schweiz«. Für die Bevölkerung, so betont er, bestehe allgemein »zurzeit ein moderates Ansteckungsrisiko«.

Schnell ist man bei der Fragerunde – und damit bei Daniel Koch.

Ob die Basler Fasnacht, die bald ansteht, abgesagt werden müsse, will ein Journalist wissen. Koch antwortet: »Im Moment ist nicht vorgesehen, dass man die Massnahmen nun verschärft.«

Ob man denn davon abrate, nach Norditalien zu reisen? Koch verneint.

Der Auftritt untermauert den Eindruck: Daniel Koch gehört zu den immer weniger werdenden Fachleuten, die das Virus nicht fürchten. Jedenfalls ist er keiner, der Panik schürt. Er verwendet sogar Argumente, die nicht belegt sind. Bereits am Vortag hat er mit einer Aussage im Medienzentrum des Bundes Aufsehen unter Epidemiologen erregt: Koch behauptete, dass die Sterblichkeitsrate aufgrund des neuen Virus vergleichbar sei mit jener einer saisonalen Grippe.

Die Aussage verleitet die Vertreter einer neuen Wissenschaftler-Generation zu einem für sie ungewöhnlichen Schritt. Sie verfassen einen Warnbrief, eindringlich im Ton, aber durchaus wissenschaftlich in der Sache. Sechs Fussnoten verweisen auf eigene und auf fremde Forschung. »Gefährlichkeit von Covid-19« lautet der Betreff.

»Sehr geehrter Herr Bundesrat Berset, sehr geehrter Herr Strupler, sehr geehrter Herr Koch«, schreiben sie, »als Wissenschaftler und Professoren an verschiedenen Universitäten der Schweiz beschäftigen wir uns intensiv mit der Epidemie des neuen Coronavirus (Covid-19). Aufgrund der Übertragungseigenschaften von Covid-19, und der aktuellen Lage in der Schweiz und Europa, muss man in den kommenden Wochen und Monaten mit einer grösseren Epidemie in der Schweiz rechnen.

Im Einklang mit internationalen Experten und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzen wir die Gefahr, die von Covid-19 für die öffentliche Gesundheit ausgeht, als hoch ein.

Wir waren deshalb erstaunt, an der Pressekonferenz vom 24. Februar 2020 von Herrn Dr. Koch zu vernehmen, dass die Sterblichkeit von Covid-19 wahrscheinlich im Bereich einer saisonalen Grippe liegt. Diese Aussage beruht nicht auf den aktuellen epidemiologischen Informationen, und wir verfassen diesen Brief im Interesse, dass das Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Gefahrenlage für die Schweiz richtig interpretiert.«

Die Forscher rechnen vor, dass es gerade umgekehrt ist: »Wir müssen davon ausgehen, dass die Sterblichkeit bei Covid-19 um mindestens den Faktor 10 höher ist.«

Sie enden mit einem Angebot: »Wir stehen Ihnen für weitere Informationen und Unterstützung natürlich gerne zur Verfügung.«

Es unterzeichnen: Christian Althaus von der Universität Bern, Marcel Salathé von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne sowie Emma Hodcroft und Richard Neher von der Universität Basel.

Die vier und bald auch weitere Wissenschaftler tauschen sich auf Salathés Initiative hin auf der Kommunikationssoftware Slack aus. Das tun sie künftig fast ununterbrochen, sie sprechen sich ab, auch über öffentliche Auftritte und Kritik an Behörden – natürlich meist schlanker und schneller als das BAG oder das Innendepartement von Alain Berset, die oft traditionell kommunizieren, per E-Mail oder sogar auf Papier.

IN EINEM INTERVIEW greift Christian Althaus Daniel Koch und das BAG frontal an: »Die Aussage, die Gefährlichkeit sei etwa so hoch wie bei einer saisonalen Grippe, ist absurd und basiert nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. (…) Ich kann mir vorstellen, dass das Bundesamt zu wenige Experten hat, die diese komplexen epidemiologischen Fragen beurteilen könnten.«

Der Journalist fragt nach: »Sie sehen Technokraten am Werk?« Althaus antwortet: »Oder eher Beamte.« Der Forschungsleiter an der Universität Bern sagt auch noch: »Die meisten Fachleute gehen wie ich davon aus, dass die Sterblichkeit bei rund einem Prozent liegt. Das wären etwa zehnmal so viele Todesfälle wie bei einer normalen Grippe.« Der Interviewer hakt nach: »Es könnte also drei Millionen Infizierte in der Schweiz geben. Bei einer Sterblichkeit von einem Prozent sprechen wir von 30 000 Toten.« Althaus antwortet: »Ja. Ein solches Worst-Case-Szenario ist nicht ausgeschlossen.«

Vier Monate später – die erste Welle ist verebbt – wird es in der Schweiz rund 2000 Covid-19-Todesfälle geben. Der Worst Case tritt nicht ein, denn ab Ende Februar werden Massnahmen ergriffen. Initiieren muss sie einer, der im Bundesratsjet sitzt.

AM ABEND DES 25. FEBRUAR fliegt Alain Berset heim in ein Land, das nun offiziell nicht mehr verschont ist vom Coronavirus. Mit sich bringt er, so sagt er, die Vorahnung, dass »die Sache schlecht ausgehen könnte, auch in der Schweiz«.

Der Schweizer Gesundheitsminister hat einen halben Tag Rom hinter sich, »an dem alle Alarme losgingen«. Und er weiss: »Die Schweiz ist wegen der Inkubationszeit zwischen 7 und 14 Tagen im Rückstand.« Ein bis zwei Wochen verstreichen in der Regel zwischen Ansteckung und Ausbruch der Krankheit. Umgekehrt hat die Schweiz auf Italien einen kleinen Vorsprung. Um das Virus abwehren zu können, ist nun schnelles Handeln gefragt.

Als der Bundesratsjet auf der Landebahn des Flughafens Bern-Belp aufsetzt, weiss Berset noch nicht genau, welche Massnahmen getroffen werden müssen. Nur, dass es schnell gehen muss.

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