Kitabı oku: «Mauerspechte», sayfa 2

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„Tu’s mir zuliebe“, baggerte das Mädchen Anton an, ohne sich um den Einwurf des Kleinen zu kümmern. „Es ist ja nur eine Bitte. Du weißt doch, Big Boss, dass wir Frauen von Natur aus ein bisschen neugierig sind.“

„Sagtest du Frauen?“

„Hallo?“

„Ich kann keine sehen.“

„Du kriegst gleich eine geklebt!“

„Na schön“, lenkte der Junge ein, „klettere auf meine Schultern, wenn es unbedingt sein muss. Aber klopf dir vorher die Stiefel ab und trample mir nicht auf den Kopf.“

Eine halbe Minute später blickte Willem, der von dem Big-Boss- und Mauer-Power-Gerede kein Wort verstanden hatte, in zwei grüne Augen, die unter einer roten Mähne hervorlugten. Ein weißes Stirnband hielt die Pracht zusammen, geziert von einem in ein „M“ verschlungenes „P“.

„Tach, Grünfrosch.“

„Grüß dich, Feuerlocke.“

„Ich bin Jasmin. – Jasmin Shiva Neumann aus Charlottenburg.“

„Ich heiße Willem und wohne in Prenzlauer Berg.“

„Angenehm“, behauptete Jasmin.

„Danke, gleichfalls.“

„Was soll der Scheiß?“, presste Anton mit gequetschter Stimme hervor. „Kannst du mal auf den Punkt kommen, Jasmin, oder willst du warten, bis mir das Rückgrat durch die Kimme rutscht?“

„Du wirst doch nicht jetzt schon schlappmachen?!“

„Sag dem Ossi, er soll uns den Meißel geben. Wir müssen noch was reißen, bevor es dunkel wird.“

„Du hast gehört, was Toni gesagt hat?“, fragte Jasmin und schnalzte respektvoll mit der Zunge. „Er kann ganz schön wütend werden, wenn einer nicht spurt.“

„Da mache ich mir ja gleich vor Angst in die Hose.“

Jasmin grinste Willem an. Es schien ihr zu gefallen, dass er sich nicht einschüchtern ließ. „Sei fair und rück das Eisen raus.“

„Das Teil hätte mich um ein Haar erschlagen“, beschwerte sich Willem, lupfte seine Wollmütze und zeigte dem Mädchen die Beule.

„Sieht nach Körperverletzung aus.“

„Du sagst es.“

„Das tut mir leid, ehrlich! Toni stellt sich manchmal ziemlich blöd an. Aber den Meißel müssen wir trotzdem wieder haben. Wir brauchen ihn dringend. Wir haben nur den einen.“

„Dann will ich mal nicht so sein.“ Willem wog das ramponierte Werkzeug prüfend in der Hand. „Unter einer Bedingung: Ich schmeiße das Ding nur über die Mauer, wenn du mir verrätst, was ihr da drüben treibt.“

„Der Typ kriegt gleich was auf die Zwölf!“, mischte sich Anton keuchend in das Gespräch ein.

„Halt die Klappe und steh still!“, befahl Jasmin. „Sonst kann ich nicht nachdenken.“

„Hauen ist fies“, meldete sich der kleine Warkentin zu Wort. „Außerdem habe ich Hunger. Bruder Boris will nach Hause.“

„Okay“, entschied Jasmin, „ich steck dir, was läuft.“

„Das lässt du schön bleiben!“, fuhr Anton dazwischen. „Das fehlt gerade noch, dass wir unsere Idee jedem Zonendödel auf die Nase schnallen. – Sagt man so?“

„Man sagt:, Auf die Nase binden‘“, verbesserte Willem, dem schon klar war, dass die Frage nicht ihm gegolten hatte. Den Zonendödel schluckte er tapfer hinunter.

„Das ist verdammt noch mal ein Geschäftsgeheimnis!“

Tonis Einwand zeigte Wirkung, Jasmin rieb sich abwägend die Stirn und bedachte Willem durch den Spalt hindurch mit einem Röntgenblick. „Kannst du schweigen?“

„Wie ein Grab.“

„Kann man dir trauen?“

„Deine Sache, Feuerlocke!“ Willem blickte gleichmütig zu Jasmin auf. Mit dem Werkzeug in der Hand und der Mauer vor Augen hatte er in jedem Fall die besseren Karten. „Riskier es oder lass es bleiben!“

„Tu’s nicht!“, wütete der große Warkentin.

„Wir sind Mauerspechte“, erklärte Jasmin halblaut, als könnte jemand ihre Mitteilung belauschen. „Wir hämmern Steine aus der Wand und verkaufen sie am Brandenburger Tor.“

„Aha.“

„Die Touristen sind ganz heiß drauf. Wichtig ist, dass die Teile schön bunt sind. Deshalb holen wir sie uns aus der zweiten Etage. Da, wo jeder rankommt, ist schon alles weggeklopft.“

„Und was kommt dabei rum?“

„Der Preis richtet sich nach der Größe. Die kleinen bringen einen Fünfziger, die größeren eine Mark.“

„Nächstes Jahr um die Zeit“, behauptete Bruder Boris, „sind wir alle Millionäre.“

„Genug gelabert!“, stöhnte Anton. „Mir geht die Puste aus. Hör zu, Ossikowski, wir haben uns an die Verabredung gehalten. Jetzt bist du dran. Den Meißel her, aber ’n bisschen dalli!“

„Nicht dalli – bitte“, korrigierte Jasmin.

Sie hatte längst erfasst, dass mit markigen Worten bei Willem kein Blumentopf zu gewinnen war. „Nun gib dir schon ’nen Ruck!“ Ihr Kopf verschwand. Nach Lage der Dinge ging Anton auf der anderen Seite der Mauer in die Knie. „Wenn du nichts Besseres zu tun hast, kannst du uns ja mal am Tor besuchen. Nächstes Wochenende wird wieder verkauft.“

„Bist du wahnsinnig?!“, ätzte Anton.

„Ich rede, wann es mir passt!“, fauchte sie ihn trotzig an. „Oder meinst du, ich frag dich vorher um Erlaubnis?“

„Immerhin bin ich der Boss!“

Die Empörung bewirkte, dass Antons Körper sich straffte. Das hatte zur Folge, dass Jasmins Gesicht noch einmal im Mauerspalt erschien. Sie zwinkerte Willem verschwörerisch zu.

„Okay, ich werfe das Teil jetzt rüber“, sagte Willem und zwinkerte zurück. „Dann bring mal dein Team in Sicherheit, Häuptling Taucherbrille. Volle Deckung, wenn ich bitten darf.“

„Mit Karacho!“, forderte Jasmin. „Dann kann nichts passieren. Wir stehen alle drei mit dem Rücken zur Wand.“

„Und tschüss!“ Willem holte aus und schleuderte das Werkzeug im hohen Bogen über den Beton. Kurz darauf vernahm er abermals das vertraute Klickern, übertönt von Jasmins heller Stimme: „Na dann bis dann, Willem. Man sieht sich am Brandenburger Tor.“

Drittes Kapitel

Am Abendbrottisch der Familie Kaiser herrschte seit geraumer Zeit eine merkwürdige Stimmung. Willems Vater hatte den Fernseher nach dem 9. November aus dem Wohnzimmer in die Küche geschleppt, um parallel zur Nahrungsaufnahme das Programm verfolgen zu können. Von Essen konnte dieser Tage bei ihm ohnehin kaum die Rede sein, er stopfte achtlos in sich hinein, was seine Frau auf den Teller tat. Kürzlich hatte er den Salznapf verfehlt und eine Prise Zucker auf die fettige Haut des Goldbroilers gestreut. Und den Hähnchenschenkel anschließend hinuntergeschlungen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

Auch an diesem Abend flimmerte der Bildschirm, als Willem in die Wohnküche trat. Mama hatte Wiener Würstchen warm gemacht und Brote belegt, dazu Gurken, Paprikaschoten und Radieschen geschnippelt. Jetzt saß sie an Papas Seite, beide hatten die TV-Grundstellung eingenommen: Rechts neben dem abgegessenen Teller jeweils ein Glas Bier, in der Mitte des Tisches eine Schale mit gerösteten Erdnüssen und Brezeln, die Augen Richtung Kühlschrank ausgerichtet, auf dessen Arbeitsplatte das Gerät seinen provisorischen Platz gefunden hatte. In Erwartung der Nachrichtensendung aus Adlershof, deren Fanfare jetzt häufiger durch das Treppenhaus schallte als in all den Jahren zuvor.

Das hinderte Cornelia Kaiser allerdings nicht, sich nebenher um die Lösung eines Kreuzworträtsels zu bemühen. „Zwei waagerecht – sozialistisches Bruderland? Zweiter Buchstabe ein, O‘.“

„Polen“, schlug ihr Mann vor.

„Mit acht Buchstaben.“

„Mongolei!“, rief Willem, während er die Schuhe von den Füßen streifte.

„Danke! Neun senkrecht – anderes Wort für Heimat?“

„Wo kommst denn du jetzt her?“, fragte Papa, nachdem er sich mit einem Blick auf die Küchenuhr vergewissert hatte, dass bis zum Start der Aktuellen Kamera noch genügend Zeit für eine Befragung blieb.

„Ich hab mich mit Kumpels getroffen“, erklärte Willem, was weder ganz wahr noch komplett gelogen war. „Und auf dem Rückweg noch ein bisschen den Rednern am Roten Rathaus zugehört. Es soll da einen Aufruf geben, hat einer gesagt, der setzt sich dafür ein, dass die DDR noch mal von vorn anfangen kann. Er heißt, Für unser Land‘ und soll von irgendwelchen Promis angeschoben worden sein.“ Willem setzte sich an den Tisch und stibitzte Mama mit flinken Fingern das angebissene Würstchen von der Gabel.

Lächelnd langte die Mutter ins Küchenbuffet und balancierte einen Teller auf den Tisch, beladen mit Käse- und Wurstbroten, garniert mit Tomatenscheiben und Apfelschnitzen. „Stimmt, den Appell habe ich heute unterschrieben.“

„Du?“

„Sag bloß, du noch nicht?“

Willems Vater murmelte etwas Unverständliches in seinen nicht vorhandenen Bart.

„Wie viele Wiener möchtest du, Willem?“

„Zwei.“

„Wie lief’s heute in der Schule?“, wollte der Vater wissen, während Willems Mama die Würstchen aus dem Topf angelte und einen Klecks Senf auf den Teller tat.

„Keine besonderen Vorkommnisse“, stotterte Willem und bekam vor Aufregung einen Schwaps Bitter Lemon in die falsche Kehle, sodass er den Hustenanfall nicht einmal spielen musste. „’ne Zwei in Deutsch, ’ne Drei in Mathe.“

„Eine Drei in Mathematik ist inakzeptabel“, schulmeisterte der Vater und pochte mit dem Fingernagel auf den Tellerrand. „Du solltest dich gründlicher auf den Unterricht vorbereiten, statt stundenlang durch die Stadt zu jachtern.“

Willem ärgerte sich, dass ihm die blöde Drei so flott über die Lippen gehüpft war. Der Stress wäre vermeidbar gewesen. Schon wollte er Besserung geloben, da kam ihm unerwartet die Mutter zu Hilfe. „Du hast dich also nach der Schule mit Mädchen und Jungen aus deiner Klasse getroffen?“

„Nein“, antwortete Willem erleichtert, „mit Russen.“

„Du meinst mit sowjetischen Kindern, Pionieren, Komsomolzen“, korrigierte der Vater streng: „Du meinst – die Freunde?“

„Ja, Freunde“, wiederholte Willem, wohl wissend, dass sein Papa gern zu dieser Vokabel griff, wenn von Russen, insbesondere von Soldaten der Roten Armee die Rede war. „Anton, Boris und Jasmin.“

„Jasmin klingt nicht sehr russisch“, stellte die Mutter fest.

„Das macht nichts“, urteilte der Vater, noch bevor Willem eine Erklärung nachreichen konnte. „Solche Spielgefährten sind immer willkommen. Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen! Man vervollkommnet bei der Gelegenheit auch seine Sprachkenntnisse.“

Dieser Befund verwunderte Willem ein wenig, wusste er doch, dass sein Vater, abgesehen von „Druschba!“ und dem Trinkspruch „Na sdarowje!“ nicht ein Wort Russisch sprach. Und das, obwohl er die Sprache einst als Pflichtfach an der Abendschule gebüffelt hatte. Musste er allerdings auch nicht, denn als Abteilungsleiter des Transformatorenwerks stand ihm immer ein Dolmetscher zur Seite, wenn er auf der Leipziger Messe unterwegs war, sowjetische Handelspartner durch die Fabrik führte oder mit den Offizieren der Patengarnison am letzten Tag des Jahres das Jolkafest feierte.

In seinem Betrieb wurde auch gern nach sowjetischem Vorbild gearbeitet. Ausführlich hatte er seiner Familie einmal den Sinn der Bassow-Methode erläutert, die noch vor Willems Geburt in Mode gekommen war: Man legte nach Schichtschluss alle Werkzeuge so zurecht, dass am nächsten Tag kein Unfall das Arbeitsleben trüben konnte. Wie es der Genosse Juri Bassow im Bruderland vorexerziert hatte. Zu Papas Verdruss hatten die Kollegen seinerzeit allerdings nur spöttisch von der „Passuff!“-Methode geredet und Hammer und Feile nach wie vor dort fallen lassen, wo der Ton der Feierabendsirene sie gerade antraf.

„Bring sie doch einmal mit, deine neuen Freunde“, forderte ihn die Mutter auf. „Papa und ich würden sie gern kennenlernen, nicht wahr Waldemar?“

„Vielleicht später“, wich Willem aus. „Und wie lief es heute in der Stadtinformation?“, fragte er seine Mama, um sicherzugehen, dass nicht er nebst Schulgeschichten und Russenbrüdern ein zweites Mal auf die Rolle kam.

„Deutlich mehr Publikumsverkehr als sonst um die Jahreszeit“, tappte Mama in die Falle. „Weniger Tschechen und Bulgaren allerdings und kaum noch Besucher aus Rumänen.“

„Die haben dieser Tage weiß Gott mit sich zu tun“, befand der Vater und nagte geräuschvoll an einem Salzstängelchen.

„Dafür Amerikaner, Franzosen, Koreaner. Und natürlich jede Menge Bürger aus der Bundesrepublik. Es sieht ganz so aus, als wäre Berlin in diesem Herbst die spannendste Stadt der Welt.“

„Vielleicht hebst du dir den ausführlichen Bericht für später auf, Conny?“, bat Willems Vater, denn soeben war der Vorspann abgelaufen und eine Moderatorin gab die Themen der Aktuellen Kamera bekannt.

Aber Cornelia Kaiser dachte gar nicht daran, der Nachrichtensprecherin kampflos das Feld zu überlassen. „Wenn wir gerade so schön beisammensitzen, sollten wir die Gelegenheit beim Schopfe packen und einmal über unsere Urlaubspläne für den nächsten Sommer reden. Ich könnte mir Italien vorstellen. Oder wollt ihr lieber nach Spanien?“, fragte sie und wedelte mit einer Zeitung, deren Titelseite, im Unterschied zu den einheimischen Erzeugnissen der Marke grau in grau, grellbunt bedruckt war.

„Wie wär’s mit Griechenland?“, fragte Willem hoffnungsfroh. Das Land übte auf ihn eine magische Anziehungskraft aus, seit er den griechischen Göttern und den von ihnen ferngesteuerten Helden, Fräuleins und Kraftprotzen zum ersten Mal in der Bibliothek begegnet war.

„Warum nicht?! Athen ist immer eine Reise wert“, behauptete die Mama und blinzelte ihm schalkhaft zu.

„Mann, Mann, Mann! Ich glaub, mein Hamster bohnert! Das wäre ja der Hammer!“

„Wie bitte?“ Wie von der Tarantel gestochen fuhr Willems Papa aus seinem Küchenstuhl auf. „Wo hast du das Wurstblatt her?“

„Die Zeitung hat ein Mann aus Tempelhof bei uns im Büro verteilt, die hat mich nicht einen Pfennig gekostet“, verteidigte Cornelia Kaiser das Freiexemplar vor dem Zugriff ihres Mannes. „Ein Schnupperangebot zum Kennenlernen.“

„Schnupperangebot!“, höhnte der Vater und machte halb im Spaß, halb im Ernst Jagd auf seine Frau. „Das ist ein ganz übler Trick. Im Westen sind seit Jahr und Tag Drückerkolonnen unterwegs, die ahnungslosen Leuten Abonnements aufschwatzen. Lauter so kriminelle Elemente! Die wittern jetzt auch bei uns Morgenluft. Hast du etwa was unterschrieben?“

„Nein“, sagte die Mutter und verdrehte die Augen. „Der Mann war die Freundlichkeit in Person. Er hat gesagt, wir sollen uns einmal die Reiseseite anschauen. In Kürze werde es jede Menge günstige Angebote geben, die auch für Interessenten aus dem Ostteil in Betracht kommen. Die ganze Welt zum Schnäppchenpreis.“

„Ich glaub’s nicht!“ Angewidert legte Waldemar Kaiser die Stirn in Falten. „Das ist nichts als Propaganda! Und du gehst denen auf den Leim.“

In diesem Moment klingelte es.

Willems Mama schaute zunächst durch den Spion in den Hausflur und erklärte anschließend durch den mit einem Patentverschluss gesicherten Türspalt: „Nein danke, gute Frau, wir möchten keinen Teppich kaufen. Bei den Nachbarn werden Sie auch nicht viel Glück haben, Sie sind in dieser Woche schon die Dritte.“

„Das hast du’s!“, triumphierte der Vater. „Alles auf Kommerz und Profit ausgerichtet.“

„Akropolis bei Nacht klingt für mich eher nach Kultur.“

„In den Mülleimer mit dem Blatt!“

„Ich denk ja nicht dran.“

Waldemar Kaiser versuchte ein letztes Mal, die Zeitung zu erwischen, aber Cornelia zog sie ihm reaktionsschnell vor der Nase weg. Da er weder das Blatt noch seine Frau zu fassen bekam, schlug Willems Vater erbost mit der Faust auf den Fernseher. Das hätte er besser nicht tun sollen. Ein greller Blitz schoss über den Schirm, das Bild fiel in sich zusammen, das Gerät verstummte.

„Nein, bitte nicht auch noch das!“, jammerte er, rüttelte schuldbewusst an dem Gerät, prüfte den Sitz des Antennenkabels, zog den Netzstecker aus der Wand, stöpselte ihn in die Dose zurück, betätigte mehrmals erfolglos den Schalter.

„Was ist bloß mit dir los, Waldi?“ Willems Mama hatte die Zeitung abgelegt und streichelte ihrem Mann, der kraftlos in seinen Stuhl gesunken war und, obwohl er sich vor einem halben Jahr das Rauchen abgewöhnt hatte, mit zitterigen Fingern eine zerknautschte Zigarettenschachtel nach einem übrig gebliebenen Glimmstängel absuchte, mitfühlend die Stirn. „Du bist in letzter Zeit so anders.“

„Wie anders?“

„Eben anders.“

„Probleme“, stöhnte Willems Vater, schnipste die leere Zigarettenpackung über die Tischplatte und langte nach seinem Bier. „Probleme ohne Ende. Die Zulieferer lassen uns hängen, keine Spulen, kein Draht. Die Stimmung ist auf dem Nullpunkt. Die Partei hat nichts mehr zu sagen. Die Belegschaft meutert. ‚Freie Wahlen!‘, heißt es. Und: ‚Die Hälfte vom Lohn in West!‘ Eine Parole jagt die andere. Alle naselang will einer eine Freistellung, weil er sich bei diesem oder jenem Bürgerverein eingeschrieben hat. Der Chef der Lehrwerkstatt ist vergangene Woche nach Wattenscheid gezogen, von einem Tag auf den anderen. Geht ja jetzt auf direktem Wege, man muss ja nicht mehr bei Nacht und Nebel über Ungarn, wie es der feine Kollege Paul noch im Sommer praktiziert hat. Sich in der DDR zum Meister ausbilden lassen und dann in den Westen verduften!“ Er stützte das Kinn in die Hände und schüttelte den Kopf. „Und weißt du schon das Neueste? Man will mich aus dem Verkehr ziehen. An der Wandzeitung klebte gestern ein Artikel mit Forderungen. Die Abteilungsleiter, der Chefingenieur und der Betriebsdirektor sollen sich einer Vertrauensabstimmung stellen.“

„Aber du hast dir doch nichts vorzuwerfen“, redete Willems Mutter beruhigend auf ihren Mann ein. „Du hast immer anständig deine Arbeit erledigt. Zuerst in der Halle als Werkzeugmacher, später als Obermeister und jetzt schon sieben Jahre lang im Büro.“

„Vergiss es“, sagte der Vater matt. „Das zählt heutzutage nicht mehr. Wirst sehen, nicht mehr lange hin, dann ist die Sache abgegessen. Es sei denn, die Freunde reden ein Machtwort.“

„Wie meinst du das?“, wollte Willem wissen.

Waldemar Kaiser schien erst jetzt zu bemerken, dass sein Sohn noch in der Küche war. „Ich glaube, dass wir auf verlorenem Posten stehen. Dass unser Land dem Untergang geweiht ist. Mit Aufruf und ohne. Wenn nicht die sowjetischen Genossen einschreiten oder ein Wunder geschieht.“


„Wie – einschreiten?“ Ratlos sah Willem seinen Vater an. Der ließ die Schultern sinken, formte die rechte Hand zur Faust und ließ sie kraftlos in die linke klatschen.

„Indem sie die notwendigen Maßnahmen ergreifen.“

„Bleib mir vom Halse mit deinen Sprechblasen!“, rief die Mutter empört und schleuderte den Abwaschlappen so schwungvoll in das Spülwasser, dass eine Welle über den Rand schwappte. „Sowjetische Panzer gegen friedliche Demonstranten? Du hast ja nicht mehr alle Latten am Zaun!“

„Wie redest du denn mit mir?!“

„Wenn du weiter solchen Stuss erzählst, werde ich noch ganz anders mit dir reden!“

„Aber man kann doch nicht tatenlos zusehen, wie alles den Bach runter geht.“

„Unsinn“, wandte Cornelia Kaiser burschikos ein. „Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Warum sollten dir deine Kollegen das Vertrauen entziehen? Da würde ich mal ganz gelassen sein. Und falls diese Abstimmung wirklich schiefläuft, du klebst doch nicht an deinem Stuhl?! Für einen, der zwei gesunde Hände hat, findet sich immer was zu tun. Wichtig ist nur, dass wir zueinanderhalten.“ Sie pustete ihm eine Locke aus der Stirn und drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel. „Du solltest mal ein paar Tage ausspannen, Großer. Mit dem nächsten Urlaub müssen wir ja nicht bis zum Sommer warten. Ich habe zwar schon als junges Mädchen von Italien geträumt. Und eines Tages werde ich hinfahren, da kannst du Gift drauf nehmen. Aber ein verlängertes Wochenende im Thüringer Wald wäre fürs Erste vielleicht auch gar keine so schlechte Idee.“

„Im Gegenteil!“, stimmte ihr Waldemar Kaiser unerwartet lebhaft zu. „Wann waren wir eigentlich das letzte Mal in Friedrichroda?“

„Vor zwei Jahren, im Herbst. Erinnerst du dich noch an die Ausflüge nach Weimar und Eisenach?“ Sie verdrehte vor Wonne die Augen. „Ich habe seither nie wieder so gute Wurst gegessen.“ „Der Gothaer Kranz war auch nicht von schlechten Eltern.“

„Und der schöne Zwiebelzopf! – Aber den haben wir ja gleich nach unserer Heimkehr dem Klempner gegeben, damit er ihn beim Polsterer gegen eine Mischbatterie eintauschen kann.“

„Davon weiß ich ja gar nichts.“

„Du musst auch nicht alles wissen, mein Schatz! Jedenfalls können wir seither das Badewasser wieder auf die gewünschte Temperatur einstellen und mein Waldemar kann stundenlang duschen, ohne sich dabei den Popo zu verbrühen.“

„Was hat denn ein Polsterer mit Mischbatterien zu tun?“, wunderte sich Willem.

„Gar nichts“, erwiderte seine Mama. „Aber er suchte ein Verlobungsgeschenk für seine Nichte und hatte ein paar Tage vorher bei seinem Zahnarzt einen Satz Sprungfedern gegen eine Kiste Installationsmaterial eingetauscht, da war wohl eine dabei.“

Willem verkniff sich die Frage, woher der Zahnarzt das Klempnerzubehör bezog und wozu er wohl die Sprungfedern benötigte. Allerdings hatte ihm Mike Legenstein kürzlich anvertraut, dass es in den Tauschanzeigen der DDR-Tageszeitungen schon seit Jahr und Tag eine Geheimsprache gab. Wenn jemand etwas suchte und im Gegenzug blaue Fliesen anbot, hieß das üblicherweise: Zahle in West.

„Ohne den Zwiebelzopf würden wir vermutlich heute noch auf das Teil warten“, schloss Cornelia Kaiser das Thema ab. „Mischbatterien waren nämlich nur unter dem Ladentisch zu haben, die absolute Bückware.“

„Ein Zimmer privat würde genügen“, träumte ihr Mann halblaut vor sich hin. „Aber ob das auf die Schnelle noch klappt?“

„Über Heiligabend und Silvester vermutlich nicht.“

„Im Moment kann ich auch gar nicht weg.“

„Mit ein bisschen Glück müsste zu Ostern etwas zu machen sein. Ich werde gleich morgen früh mit den Kollegen von der Thüringen-Information telefonieren.“

„Conny, du bist eine Perle!“, erklärte Willems Vater, packte seine Frau bei der Hüfte, wirbelte sie durch die Luft und setzte sie mit Schwung neben dem Fernseher ab.

Für alle unerwartet meldete sich der Empfänger zurück.

Die Nachrichtensendung lag in den letzten Zügen. „Die Stimmung der Demonstranten hat sich spürbar geändert“, sagte ein Reporter, der mit dem Mikrofon in der Hand aus der Messestadt Leipzig berichtete. „Neuerdings heißt es auf dem Ring nicht mehr ‚Wir sind das Volk!‘, sondern ‚Deutschland, einig Vaterland!‘“

„Neun senkrecht – anderes Wort für Heimat.“ Strahlend trug Cornelia Kaiser die Lösung in ihr Troll-Rätselheft ein: „Vaterland“.

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23 aralık 2023
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9783944575049
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