Kitabı oku: «Mauerspechte», sayfa 3
Viertes Kapitel
Am Sonnabend war Willem in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett gesprungen, hatte den Meerschweinkäfig gesäubert und seinem Liebling Rosetta frische Sägespäne spendiert, dann in seinem Zimmer flüchtig Staub gewischt, die Silber- und die Bronzemedaille poliert, seine Schulbücher zu den Comic-Heften ins Regal sortiert und die Mappe ausgeräumt, wobei ihm zwei vergammelte Pausenbrote zwischen die Finger geraten waren. Diese hatte er eilends entsorgt und, um die verräterische Spur zu beseitigen, unaufgefordert den Abfalleimer zum Müllhaus getragen.
„Nichts für Kaisers Willem dabei!“, hatte ihm Mutter Marotzke im Treppenhaus entgegengeschmettert und einen Versandhauskatalog, auf dessen Titelseite, wie Willem mit einem Seitenblick feststellen konnte, leicht bekleidete Mädchen posierten, mit einem tiefen Seufzer in Spritti Karsuppkes Briefkasten versenkt.
„Schweinskram?“
„Komm mir ja nicht auf den Einfall, das Heft aus dem Kasten zu klauen!“
Sicherheitshalber hatte die Briefbotin ihre Finger in den Schlitz eingefädelt, das Journal tief ins Innere des Postkastens gedrückt und es anschließend mit einem Freiexemplar der Berliner Morgenpost gegen unbefugten Zugriff gesichert.
Auf die Straßenbahn musste Willem nicht lange warten, sie würde ihn in die Nähe jenes Grenzabschnitts befördern, an dem er durch sein geheimes Schlupfloch in den anderen Teil der Stadt wechseln konnte. Er fütterte die Zahlbox mit einem Zehnpfennigstück und setzte sich Paulas Sonnenbrille auf.
Kaum hatte er die Tram verlassen und das Gedränge am Grenzübergang in Augenschein genommen, stellte sich ihm ein Zweimetermann in den Weg, der wenigstens ebenso viel Bauch durch die Welt schleppte wie Bulle Baumann. „Stattlich“, würde Großmutter Grete sagen. Willem dachte: Fett!
Am Kinn des Kolosses baumelte ein ausgefranster Ziegenbart, grau mit gelben Einsprengseln. Auf seiner Brust schaukelte ein Fotoapparat. Der Mann trug einen breitkrempigen Hut zum eleganten schwarzen Mantel, ein weißer Schal komplettierte sein Äußeres so aufsehenerregend, dass man ihn auf den ersten Blick für einen Operettenstar halten konnte.
„Wie viele Finger?“, fragte er unvermittelt und hielt Willem beide Daumen so dicht vor die Nase, dass sie beinahe die verspiegelten Gläser berührten.
„Zwei“, erwiderte der Junge verdutzt.
„Na prima! Ich hatte schon befürchtet, du hättest einen Augenfehler. Wegen der Brille.“ Nachdem der Sehtest zu seiner Zufriedenheit ausgefallen war, kam der Schrankmann auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen. „Sag mal Kleiner, wie finde ich von hier zum 17. Juni?“ Und wedelte zu seiner Frage mit einem Stadtplan, der so idiotisch gefaltet war, dass alle wichtigen Punkte auf dem Knick lagen und man kaum die eigene Position ausfindig machen konnte.
„Kleiner?“, klingelte es in Willems Kopf. Na, hallo! Mit dieser Anrede war die Stimmung schon mal gründlich vergeigt.
„Keine Ahnung!“
„Aber ein Berliner bist du schon?“
„Klar!“
Der Mann schüttelte verwundert den Kopf. „Du wohnst in Berlin und weißt nicht, wie man zum Brandenburger Tor kommt?“
„Ach, da wollen Sie hin“, antwortete Willem und musste sich eingestehen, dass es die Straßenbezeichnung gewesen war, mit der er nichts hatte anfangen können. „Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“ Schon wollte er hinzufügen:, So ein Zufall, das ist genau meine Richtung‘, da faltete der ziegenbärtige Riese die Karte zusammen und unterbreitete ihm ein verlockendes Angebot. „Wenn du mich hinbringst, kriegst du eine Mark.“
„West?“
„Was denn sonst?!“
Nicht schlecht, dachte Willem, hatte aber plötzlich das Gefühl, dass in diesem Fall mit etwas Verhandlungsgeschick eine Zulage herauszuholen sein könnte. „Klingt gut, geht aber nicht“, behauptete er und zuckte bedauernd die Schultern.
„Und warum nicht?“
„Keine Zeit.“
„Was gibt es denn am Sonnabend so Dringendes zu tun?“
„Muss Altstoffe sammeln.“
Der richtige Einfall zur passenden Zeit! Der ratlose Blick des Fremden verriet Willem, dass der nicht die Spur einer Ahnung hatte, wovon die Rede war. „Ich klingele die Haustüren ab und frage die Leute, ob sie leere Flaschen, Gläser oder alte Zeitungen haben. Die schleppe ich zum Rumpelmännchen, ich meine, zur Sammelstelle. Dafür gibt es Bares. Man erwirtschaftet zwar kein Vermögen, aber lohnen tut es sich schon.“ Er genehmigte sich eine kleine Pause, um die Worte besser wirken zu lassen. „In jedem Fall kommt dabei mehr rum als eine mickrige Mark.“
„Du hast es ja faustdick hinter den Ohren!“, erwiderte der voluminöse Mann in einem Tonfall zwischen Tadel und Respekt.
„Ich?“
„Du sitzt am längeren Hebel und nutzt das schamlos aus!“
Und wieder: „Ich?“
„Verstehe, Herrschaftswissen hat seinen Preis. Ich erhöhe auf eins fünfzig.“ Mit einer Hand kramte er in seiner Manteltasche, in der es verdächtig klimperte. „Nun gib dir schon ’nen Ruck. Mehr ist nicht zu holen. Das heißt, ich leg noch eine Handvoll Spielgeld drauf. Als Vorschuss. Mit den Aluchips aus dem Osten kann ich drüben sowieso nichts anfangen.“
Willem erkannte einheimische Groschen und Pfennige, auch ein paar matt glänzende Zwanziger waren dabei. „Na schön, dann will ich mal nicht so sein!“, sagte er und ließ das Geld in der Hosentasche verschwinden. „Geben Sie mir fünf Minuten Vorsprung. Ich hole Sie auf der anderen Seite vom Übergang ab.“
„Warum gehen wir nicht gemeinsam?“
„Ich kenne eine Abkürzung.“ Willem dachte an das Loch in der Mauer und musste grinsen. „Da passen Sie nicht durch.“
„Aber du kratzt nicht etwa die Kurve?“
„Erst, wenn ich Sie am Brandenburger Tor abgeliefert habe.“ Er hielt einen Augenblick inne. „Dürfen Sie hier eigentlich rüber?“
„Das lass mal meine Sorge sein“, wimmelte der Goliath ab. „Ein ausgefuchster Kaufmann, der mit den Genossen gerade eine Lieferung von zigtausend Tonnen Apfelsinen, Bananen und Nüssen ausgehandelt hat, damit die Brüder und Schwestern zu Weihnachten was Feines auf dem bunten Teller haben, wird ja wohl nicht an einem lächerlichen Schlagbaum scheitern.“
„Na, dann bis gleich.“
Wie erwartet bereitete es Willem keine Mühe, die Grenze ungesehen zu passieren. Irgendwer war der Mauer in diesem Sektor mit einem Vorschlaghammer zu Leibe gerückt, und niemand hatte sich der Mühe unterzogen, den Durchschlupf, der sich hinter einem Forsythienstrauchgerippe, einem ausgedienten Sofa und einem Stapel leerer Kisten verbarg, zu verschließen.
Auf der Westberliner Seite angelangt, musste Willem nicht lange auf seinen neuen Bekannten warten. Aus sicherer Entfernung konnte er beobachten, wie der Mann mit einem Papier wedelte und daraufhin von den DDR-Grenzsoldaten mit ausgesuchter Höflichkeit abgefertigt wurde.
„Fahren wir mit dem Bus“, schnaufte der Fleischberg angestrengt, „oder gehen wir zu Fuß?“
„Wie wär’s mit einem Taxi?“, fragte Willem und warf einem unmittelbar hinter den Baracken wartenden Mercedes einen sehnsuchtsvollen Blick zu; in solch einer Nobelkarosse hätte er sich allzu gern einmal durch die Stadt kutschieren lassen. Außerdem verspürte er wenig Lust, ein Ticket zu lösen, für das man hier deutlich tiefer in die Tasche greifen musste, als dies in Prenzlauer Berg, Weißensee oder Mitte der Fall war.
„Ja meinst du, ich habe mein Geld auf der Straße gefunden?“, wies ihn sein Begleiter frostig zurecht. „Wenn ich das gewollt hätte, hätte ich gleich einen Chauffeur herangewunken und nicht dich engagiert. Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert!“ Orientierungslos wedelte er mit seinem Faltplan. „Wie weit ist es denn?“
„Zu Fuß mindestens ’ne halbe Stunde. Sie haben sich so ziemlich den ungünstigsten Übergang ausgesucht. Vom Bahnhof Friedrichstraße aus wäre es für Sie viel bequemer gewesen.“
„Ach was, das ist ja ein Katzensprung“, entschied der Mann, wobei er vor Willems Augen mehrere Hundertmarkscheine Ost aus dem Mantelfutter zog, diese zu einer Rolle drehte, mit einem Gummi umschlag, und in der Brusttasche verschwinden ließ. „Aber nicht so hastig, wenn ich bitten darf, sonst kriege ich Probleme mit meiner Schwungmasse.“ Bei schönstem Grün blieb er an der Fußgängerampel stehen und verbeugte sich förmlich: „Wir haben uns noch gar nicht bekannt gemacht, Johannes Schwanz von Brettschuss!“
„Was ist denn das für ein komischer Name?“
„Rotzlöffel!“ Beleidigt stapfte der Dicke seinem Bauch hinterdrein.
„Ich heiße Willem, Willem Kaiser.“
„Noch einmal!“
Verdrießlich tat Willem ihm den Gefallen.
„Na, das ist ja ein dicker Hund! Sitzt im Glashaus und schmeißt munter mit Steinen.“ Der Mann, der Schwanz von Brettschuss hieß, schüttelte sich vor Lachen. „Kaiser Wilhelm also?“
„Nein, Willem Kaiser.“
„Die guten alten Hohenzollern!“ Freudentränen glitzerten in Goliaths Augen. „Jetzt fehlt bloß noch, dass du verwandt bist mit Seiner Majestät.“
„Klar, der Typ mit der Pickelhaube ist mein Doppelquadrat-Opa“, motzte Willem, der schon so oft auf die Nummer angesprochen worden war, dass er die ganze Angelegenheit kein bisschen spaßig finden konnte. „Witz komm raus, du bist umzingelt!“
An manchen Tagen hasste er Großmutter Grete dafür, dass sie sich bei der Bestimmung des Vornamens durchgesetzt hatte. Ja nun, was sollte man von einer Frau erwarten, die ihren eigenen Sohn Waldemar genannt hatte? Aber Willem, kombiniert mit dem Familiennamen Kaiser, war so ziemlich das Hinterletzte. Schade, dass Mama nicht zum Zuge gekommen war. Obwohl ihr Favorit, sie hatte wahlweise Jacqueline oder Mike ins Rennen geschickt, auch nicht gerade das Gelbe vom Ei gewesen wäre; allein in seiner Klasse gab es drei Jacquelines, und der Name Mike war sogar fünfmal besetzt, zählte man die beiden ai-Maiks mit.
„Wo kommen Sie eigentlich her, Herr Schwanz? Und was genau machen Sie in Berlin?“
„Geschäfte“, entgegnete der beleibte Riese ausweichend. „Ich bin der Inhaber der Schwanz von Brettschuss Export & Import GmbH. Spezialisiert auf Lieferungen von und nach Südafrika, Nahost und in die Vereinigten Staaten.“ Theatralisch warf er sich die Schalenden über die Schulter. „Als ich vom Fall der Mauer hörte, war mir auf der Stelle klar, dass wir unseren Firmensitz so schnell wie möglich von Stuttgart nach Berlin verlegen müssen. Hier steppt der Bär. Hier werden in nächster Zukunft die ganz schweren Kaliber auf die Schiene gehoben! Das kannst du mir glauben. Dafür hat von Brettschuss den richtigen Riecher.“ In Vorfreude auf den zu erwartenden Gewinn rieb er sich die behandschuhten Hände. „Ich hab schon mal in Ostberlin Witterung aufgenommen, ob sich da nicht über kurz oder lang ein paar preiswerte Büroräume finden lassen. Wohnen werde ich natürlich im Westen. Man gönnt sich ja sonst nichts! Hab in Wilmersdorf eine bescheidene Villa aufgetan, die wird gerade auf Vordermann gebracht, so weit die Witterungsverhältnisse dies zulassen. Das Haus soll zwischen Weihnachten und Neujahr bezugsfertig sein.“ Da ein frischer Wind um die Ecke pfiff, klappte er den Mantelkragen hoch und spannte vorsorglich einen Schirm auf, der so groß war wie ein kleines Zirkuszelt. „Bis dahin reise ich noch zwischen dem Ländle und Berlin hin und her.“ Gönnerhaft zog er Willem unter sein langstieliges Regenschutzmöbel. „Heutzutage darf man nicht zimperlich sein. Wer jetzt nicht die Ärmel aufkrempelt und in die Hände spuckt, verpasst das Geschäft seines Lebens.“
„Sie schulden mir eins fünfzig“, sagte Willem.
„Wie bitte?“
„Wir sind da.“ Und er bestaunte ebenso ungläubig, wie der Hüne im feinen Zwirn es durch den Sucher seiner Fotokamera tat, die zahllosen Buden und Stände, die seit Mitte November zwischen dem Reichstagsgebäude und dem Brandenburger Tor wie Pilze aus dem Boden geschossen waren.
„Dann werde ich mich mal ein umsehen, ob ich nicht ein paar hübsche Mitbringsel entdecke“, erklärte Schwanz von Brettschuss, nachdem er Willem ein Markstück, vier Groschen und zehn einzelne Pfennige in die Hand gezählt hatte. „Danke für den Service, Kaiser Willem.“
„Nichts zu danken.“
„Vielleicht laufen wir uns ja mal wieder über den Weg!“, rief der gewichtige Mensch und wälzte sich mit einem Abschiedsgruß, der an Erich Honeckers Scheibenwischer-Winke-Winke vom Tag der Republik erinnerte, in die Menge.
Willem tat es ihm gleich. Und fühlte sich dabei, als hätte er ein Freibillett für einen Abenteuerspielplatz geschenkt bekommen. Sah man einmal von zwei, drei Wurstbuden, einer Gulaschkanone und einer fahrbaren Teeküche ab, war die Szene von Handelsmännern bestimmt, deren Sortiment aus Militärkram aller Art bestand – Feldstecher, Gasmasken, Kartentaschen, Dolche, dazu Orden, Medaillen, Rangabzeichen, Mützen, Koppel der Volkspolizei, Uniformjacken der DDR-Grenztruppen und der Nationalen Volksarmee. Die windigen Geschäftsleute trugen Pelzkappen mit Ohrenklappen, waren in Wattejoppen eingemummelt und versuchten vorüberschlendernde Guckkunden in gebrochenem Deutsch mit Sonderangeboten zu ködern: „Jacke wie Hose von Major Zollgenosse plus Abzeichen ‚Banner der Arbeit‘ heute nur fünfzig Mark!“
Gleich nebenan wurden Mauerstücke verhökert, das kleinste so groß wie ein Daumennagel, der größte Brocken so schwer, dass ihn ein Junge wie er allein kaum hätte anheben können. Sie wurden auf einklappbaren Campingtischen, auf dem Erdboden ausgebreiteten Decken oder in um den Leib geschnallten Bauchläden an den Mann oder die Frau gebracht. Ein verwitterter Verkäufer, der über seiner Lederjacke einen versifften Morgenrock trug, hatte seine Steinchen in Streichholzschachteln verpackt und auf einem Leierkasten abgelegt, aus dem unentwegt Das ist die Berliner Luft! dudelte, womit er das Geschäft im wahrsten Sinne des Wortes kräftig ankurbelte.
„Hallo, Grünfrosch!“, hörte Willem plötzlich eine vertraute Stimme sagen. „Da bist du ja.“
Er drehte sich um und erblickte Jasmin, die mit Anton und einem flachsblonden Knaben, bei dem es sich nur um dessen Bruder Boris handeln konnte, hinter einer ausrangierten Bananenkiste fröstelte. Auf der Pappe waren fein säuberlich ihre knopfgroßen Mauerfindlinge aufgereiht.
„Grüß dich, Feuerlocke. Hallo Jungs!“
„Scharfe Brille, Alter.“
„Findest du?“
„Nicht wirklich.“
„Hätte mich auch gewundert.“ Mit fachmännischem Blick begutachtete Willem die Auslage. „Wie läuft das Geschäft?“
„So lala.“ Anton langte sich mit einem Routinehandgriff in den Nacken und brachte mit einer Hundertachtziggrad-Drehung den Schirm seiner Baseballmütze über der Nase in Stellung.
„Könnte besser sein“, sagte Jasmin.
„Wir haben heute noch nicht eine einzige Klamotte verkauft“, verriet Boris treuherzig und fing sich dafür den Ordnungsruf „Halt die Klappe, Schwatzbacke!“ nebst einer Kopfnuss ein.
„Das sag ich Mamotschka!“, greinte der Kleine und musste sich mit einem Bocksprung hinter Willems Rücken in Sicherheit bringen, um nicht von seinem Bruder einen Nachschlag zu kassieren.
„Keine Gewalt“, beschwichtigte Willem.
„Die Sache schleift ein bisschen“, beklagte Jasmin ihr gemeinsames Ärgernis, „seit hier jeder Schnuffti und Puffti mit Mauerstücken um sich wirft.“ Während sie redeten, war aus der Ferne das vertraute Klickern zu hören.
„Ach was, das ist nur vorübergehend“, behauptete Anton. „Kein Grund zur Panik. Es kommen auch wieder bessere Zeiten.
Die Nachfrage wird vor Weihnachten steigen. Wir dürfen nur nicht gleich die Kanone ins Feld werfen. – Sagt man so?“
„Die Flinte ins Korn“, korrigierte Jasmin frei von Ehrgeiz.
Willem schnappte sich ein Mauersteinchen und kniff prüfend die Augen zusammen. „Die Qualität stimmt.“
„Darauf kannst du einen lassen“, schnaubte Toni.
„Daran liegt’s also nicht.“
„Wer hätte das gedacht?!“
„Der Preis ist auch okay.“
„Ostbrot, du gehst mir auf die Ketten!“
Behutsam tat Willem den Brösel zurück in den Pappkarton und nahm das Umfeld in Augenschein. Jasmin und die beiden Jungs waren tatsächlich von Mauerverkäufern jeden Alters umstellt. Ein findiger Unternehmer hatte sogar eine Bude installiert, an der man gegen ein saftiges Entgelt Hammer, Meißel und Schutzbrille stundenweise ausleihen konnte.
Nachdem er sich im Zeitlupentempo einmal um die eigene Achse gedreht hatte, zog Willem nachdenklich die Kapuze seines Anoraks über die Ohren und sagte: „Ich würde mal meinen, da muss eine Idee her.“
„Und zwar was für eine, du Klugscheißer?“
„Keine Ahnung!“
„Dann halt gefälligst die Klappe.“
Willem dachte gar nicht daran, Antons Aufforderung Folge zu leisten. Er konterte mit zwei Sätzen, die er seinem Vater kurz vor der Frühjahrsmesse abgelauscht hatte. „Der Weltmarkt fragt nicht nur nach Preis und Qualität. Man muss die Ware auch ansprechend präsentieren, wenn man der Konkurrenz die Hacken zeigen will!“
„Hä?“
„Willem hat recht“, hängte sich Jasmin in den Schlagabtausch. „Irgendwas muss passieren, sonst können wir den Laden früher oder später dichtmachen.“ Sie massierte angestrengt ihre Ohrläppchen. „Männer, das ist eindeutig ein Fall für den Mauer-Power-Kriegsrat. Wie wär’s mit übermorgen? So gegen drei?“
„Mauer – … was?“, fragte Willem.
„Mauer Power! So heißt unsere Bande“, sprudelte es aus dem kleinen Warkentin heraus. „Toscha und Jasmin sind die Häuptlinge und Bruder Boris ist das Kollektiv.“ Er deutete auf seine Pudelmütze, die mit einem akkurat gestickten „M“ und einem etwas verunglückten „P“ dekoriert war. „Hat Bruder Boris selbst drauf genäht. Bloß das ‚M‘ ist von Mamotschka.“
„Der Hirni verplappert auch alles“, stöhnte Toni.
„Gar nicht, nur das Meiste!“, widersprach sein Bruder. „Und Hirni sagt man nicht.“
„Wir treffen uns nach der Schule in meinem Tipi“, bestimmte Jasmin. „Wenn du willst, kannst du gern dabei sein, Willi. Fasanenstraße, gleich um die Ecke vom Bahnhof Zoo.“ Sie nannte die Hausnummer. „Vorderhaus links, Dachgeschoss.“
„Ist Willi jetzt auch ein Mauer Power?“, wollte Boris wissen.
Anton lachte heiser: „Da müssen schon Maschinen kommen und keine Ersatzteile!“
Willem zeigte ihm wütend den Finger und erntete dafür einen höhnischen Blick.
Ohne dass die Vier seine Annäherung bemerkt hätten, stand plötzlich wie aus dem Erdboden gewachsen ein hünenhafter Mann vor der Bananenkiste. „Hallo, Bärenführer, so schnell sieht man sich wieder.“ Der Ankömmling stocherte mit der Spitze seines zusammengefalteten Regenschirms in den Mauerstücken herum. „Das also nennst du Altstoffe sammeln?“
„Wer ist ’n der?“, flüsterte Jasmin.
„Alter Bekannter“, wisperte Willem zurück.
„Prima Mütze“, sagte der Dicke mit Blick auf Antons Basecap.
„Danke, Sir!“
„Gibt’s die auch in deiner Größe?“ Sein selbstgefälliges Lachen erinnerte an das Wiehern eines Kutschpferdes.
Glücklicherweise hatte der große Warkentin den Scherz nicht verstanden.
„Was soll denn der Kram kosten, mal so unter Freunden gefragt?“, wollte Schwanz von Brettschuss wissen.
„Sie meinen – alle?“, vergewisserte sich Jasmin.
„Warum nicht?“, schwadronierte der Dicke. „Wenn schon, denn schon! Sind ja ein paar ganz hübsche Exemplare dabei. Ich hoffe, ihr wisst mein Interesse zu schätzen.“
Noch bevor Anton den Stückpreis nennen konnte, den Jasmin zu Wochenbeginn am Mauerloch erwähnt hatte, entgegnete Willem wie aus der Pistole geschossen: „Zwei Mark pro Stein. Wenn Sie alle nehmen, gibt es Mengenrabatt, das Stück zu eins fünfzig.“
Anton schaute Willem ungläubig an. Auch Jasmin hatte es angesichts der großspurigen Forderung die Sprache verschlagen. Und Bruder Boris hielt sich erschrocken eine Hand vor den Mund.
„Dafür krieg ich bei jedem anderen Mauerspecht die dreifache Menge“, beschwerte sich Schwanz von Brettschuss.
„Bloß nicht von der Sorte“, widersprach Willem nassforsch. „Das ist nämlich Güteklasse eins.“
„Aber sonst geht’s noch?“
„Wofür brauchen Sie eigentlich so viele?“
„Mir ist da beim Spaziergang ein Gedanke gekommen. Ich könnte mir vorstellen, dass ich meinen engsten Freunden und Geschäftspartnern jeweils ein Steinchen als Glücksbringer ins Kuvert mit der Neujahrskarte lege.“
„Fabelhafte Idee!“, lobte Willem.
„Es sind neunzehn Teile“, hatte der Dicke inzwischen festgestellt. „Ich gebe euch zehn Mark und wir sind quitt.“
„Was?“, protestierte Jasmin. „Für ’nen Appel und ein Ei verkaufen wir nicht. Da können wir die ganze Ladung ja gleich in die Spree werfen.“
„Wenn ihr meint, dass ihr dabei besser wegkommt!“
„Wissen Sie, was das für ’ne Schinderei ist?!“ Anton zog die Handschuhe aus und zeigte seine linke Hand vor, die an den Knöcheln von frischem Schorf überzogen war. Der Daumennagel glänzte blau, der kleine Finger und der Ringfinger waren mit Heftpflaster beklebt.
„Soll ich vielleicht für deine Ungeschicklichkeit zahlen?“ Unbeeindruckt winkte Schwanz von Brettschuss ab. „Überlegt euch die Sache, ich habe meine Zeit nicht gestohlen.“
„Sagen Sie zwanzig“, schaltete sich Willem vermittelnd ein, „und die Sache ist geritzt.“
„Keine Chance, Kaiser Willem“, antwortete von Brettschuss schroff und wies mit seinem Regenschirm wie mit einem Zeigestock zu den benachbarten Ständen, an denen die Händler bereits lange Hälse machten. „Das Angebot übersteigt bei Weitem die Nachfrage. Diesmal habe ich die besseren Karten. Und deshalb bestimme ich den Preis.“ Er grinste überlegen. „Aber man ist ja kein Unmensch. Weil du es bist – fünfzehn Mark. Mein letztes Wort!“
„Okay“, willigte Jasmin bekümmert ein, während Anton auf das Pflaster spuckte und halblaut, und zudem sicherheitshalber auf Russisch, eine Verwünschung in den Dezemberhimmel schickte.
„Dann noch einen schönen Tag, die Herrschaften“, verabschiedete sich von Brettschuss, strich Bart und Schal glatt und trug seinen Erwerb in einer zerknautschten Tchibo-Tüte, die er am Nebentisch geschnorrt hatte, davon.
„Scheiß Kapitalist!“, rief Anton ihm hinterher, als er sicher war, dass der aufgebrezelte Ziegenbart ihn nicht mehr hören konnte. „Mensch, Alter, du kennst vielleicht Leute! Schlepp uns ja nicht noch einmal so einen Kotzbrocken an!“ Als er sich halbwegs beruhigt hatte, fing er laut zu dividieren an. „Fünfzehn durch drei – macht …“
„Falsch!“, fuhr ihm Jasmin in die Mathematik.
„ … für jeden fünf“, brachte der große Warkentin sein Rechenstück zu Ende. „Was soll daran falsch sein?“
„Du hast Willem vergessen.“
„Das ist jetzt nicht dein Ernst?!“
„Selber denken macht schlau!“ Jasmin warf herausfordernd die Lippen auf. „Das moppelige Riesentier hat uns zwar voll fett über den Nuckel gezogen, aber ohne Willi wäre das Geschäft gar nicht zustande gekommen“, stellte sie trocken fest. „Wenigstens sind wir alle Steine los. Jeder kriegt zwei Mark fünfzig, der Rest kommt in die Gemeinschaftskasse.“
„Darüber müssen wir abstimmen!“, forderte Anton.
„Müssen wir nicht!“ Jasmin tippte spitzbübisch mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf ihr „M“-und-„P“-Stirnband und mit dem Daumen der linken auf ihren Bauch. „Schon vergessen, wer heute im Team Mauer Power die Ansagen macht?“
Während Boris und sein großer Bruder zweisprachig murrten, verteilte Jasmin die Beute und reichte, an Willem gewandt, die Begründung nach. „Wir sparen nämlich auf einen neuen Meißel.“
Willem rieb sich verstohlen die Beule, die er sich beim Sturz von der Mauer eingehandelt hatte und die noch immer an seinem Hinterkopf blühte. „Der alte ist wirklich Schrott.“
„Borja und ich, wir hauen jetzt ab“, erklärte Anton. „Unser Papa hat uns nur einen halben Tag Ausgang genehmigt. Ich soll nachher beim Umzugskistenpacken helfen.“
Der kleine Warkentin zog geräuschvoll Schnodder durch die Nase und nickte bekümmert. „Bruder Boris auch.“
„Wo zieht ihr überhaupt hin?“, wollte Jasmin wissen. „Ich würde ja nie im Leben aus Charlottenburg abhauen.“
Boris und Anton klappten synchron die Unterlippe aus, stiegen aber nicht auf die Frage ein. „Wir sehen uns am Montag um drei?“
„Mauer Power!“, bestätigte Jasmin und hielt den beiden die Handflächen entgegen.
„Mauer Power!“, ratschten die Brüder wie aus einer Kehle, klatschten Jasmins Linke und ihre Rechte ab, wiederholten dabei den Schlachtruf und schlenkerten anschließend, die Hände in die ausgebeulten Hosentaschen vergraben, lässig davon.
„Bei welcher Gelegenheit seid ihr euch eigentlich über den Weg gelaufen?“, wollte Willem wissen.
„Ich gehe mit Toni in eine Klasse. Hoffentlich bleibt es dabei. Falls sie aus Klamottenburg wegziehen, könnte es eng werden. Was machen wir mit dem Rest vom Tag? Hast du Lust auf was Warmes?“
Willem blätterte beiläufig in einem Briefmarkenalbum, das neben einem Stapel Postkarten und unzähligen Sammelbüchern, die historische Zigarettenbilder enthielten, auf einem ausgeklappten Tapeziertisch lag. „Wenn das mein Vater sehen könnte. Briefmarken sind sein Ein und Alles.“
„Ich hab dich was gefragt, Grünfrosch. Wenn du magst, schmeiße ich eine Runde Tee.“
„Super Idee!“
Willem hatte mit einem Mal das Gefühl, dass er beobachtet wurde. Er drehte sich verunsichert um und schaute hinüber zum Tiergarten, wo auf der Lehne einer Parkbank ein Mädchen saß, die Beine baumeln ließ und ihm einen abschätzenden Blick zuwarf.
„Dazu gibt’s einen Muffin.“
„Einen was?“
„Oder von mir aus auch ’nen Hotdog.“
Ja aber, das ist doch! Mit einem Ruck riss er sich die Sonnenbrille von der Nase und atmete tief durch. Mann, Mann, Mann! Das kann ja wohl nicht wahr sein! Das gibt es doch gar nicht!
„Erde an Willem! Bist du noch da?“
Willem spürte, wie sein Herz bis zum Halse schlug. „Paula?“, flüsterte er ungläubig. „Paula Paul!“ Wie elektrisiert drängelte er sich durch die Spaziergänger und Wurstesser, tauchte unter einem Stehtisch durch, jagte über die Straße, wäre beinahe lang hingeschlagen. Als er jedoch die Bank erreicht hatte, war das Mädchen verschwunden. Und als Willem zwei Minuten später wieder vor der Bananenkiste stand, hatte sich auch Jasmin in Luft aufgelöst.
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