Im zweiten Buch Mosis heißt es: »Wenn du Geld leihst meinem Volke, das arm ist bei dir, sollst du ihm nicht zu Schaden bringen und keinen Wucher auf ihm treiben.« Und im dritten Buche: »Wenn dein Bruder verarmt und neben dir abnimmt, so sollst du ihn aufnehmen als einen Fremdling oder Gast, dass er lebe neben dir. Und sollst nicht Wucher von ihm nehmen noch Übersatz, sondern sollst dich vor deinem Gott fürchten, auf dass dein Bruder neben dir leben könne. Denn du sollst ihm dein Geld nicht auf Wucher tun noch deine Speise auf Übersatz.« Schließlich im fünften Buche Mosis: »Du sollst an deinem Bruder nicht wuchern, weder mit Geld noch mit Speise noch mit allem, damit man wuchern kann.« Mehr aber noch als auf die Stellen im mosaischen Gesetz beriefen sich die Päpste beim Zinsverbot auf den 15. Psalm, der auf die Frage: »Herr, wer wird wohnen in deiner Hütte, und wer wird bleiben auf deinem heiligen Berge?« im letzten Verse antwortet: »Wer sein Geld nicht auf Wucher gibt und nimmt nicht Geschenke über dem Unschuldigen.«
Man weiß, dass alle Völker auf früher Stufe, welche sich noch als eine einzige Familie betrachten, deren Glieder eins für das andere auf Tod und Leben einstehen müssen, den Zins verbieten. Was die Wucherverbote der Bibel auszeichnet gegenüber denen anderer Stämme und Völker ist die stete Beziehung auf die Erhabenheit Gottes, der seinem Volke die Liebe des Bruders als vornehmstes Gebot empfiehlt. Wie alle Lehren und Vorschriften des Buches der Bücher sind auch diese nicht aus der Erfahrung oder der Betrachtung des Nutzens, sondern aus einer übermenschlichen Quelle abgeleitet, die alle in den Zusammenhang einer übermenschlichen Idee bringt und ihnen das Gepräge der Ewigkeit und Allgültigkeit verleiht. Es war nur natürlich, dass die ersten Christengemeinden das Wucherverbot des Alten Testamentes übernahmen und dass sie es in ihrem kleinen Kreise und ihren einfachen Verhältnissen durchführen konnten. Man sah in dem Entlehner einen Bedürftigen, dessen Notlage der bessergestellte Leiher in unsittlicherweise ausgenützt hätte, wenn er sich etwas über die geliehene Summe oder die geliehenen Lebensmittel hinaus hätte zurückgeben lassen. Von derselben Voraussetzung gingen die Kirchenväter aus; wie die Kirche überhaupt den Schutz der Armen und Schwachen als ihren hauptsächlichen Beruf auffasste, so wollten sie sie auch in dieser Beziehung vor Ausbeutung bewahren. Als wissenschaftlichen Unterbau des biblischen Gebotes nahmen sie den Grundsatz an, den Aristoteles vertreten hatte, dass das Geld unfruchtbar sei. Als Karl der Große das Zinsverbot aus den Gesetzessammlungen der Päpste in seine Gesetze hinübernahm, waren die Verhältnisse im Reich noch einfach; doch wurden bereits Geldgeschäfte gemacht, und zwar gerade von Seiten der Geistlichen, gegen die das Zinsverbot sich hauptsächlich richtete; erst später wurde es auch auf die Laien bezogen.
Den strengen, von der Kirche festgesetzten Standpunkt durchzuführen war möglich, solange die Christen eine kleine, abseits im Dunkel lebende Sekte waren; es wurde schwieriger im Maße, als das Christentum die herrschende Religion geworden war, als in den Städten Handel und Gewerbe zu blühen anfingen und sich nicht nur mehr Reiche und Arme im privaten Verhältnis gegenüberstanden, sondern Menschen verschiedenster Lebensbedingungen, die um ihre Nahrung kämpften. Trotzdem blieb die Kirche dabei, alles als Wucher zu bezeichnen, was der Gläubiger außer der geliehenen Sache oder dem geliehenen Kapital vom Schuldner empfange. Papst Urban III. erklärte sogar Kaufhandel und Wucher für gleichbedeutend, weil der Kaufmann teurer verkauft, als er eingekauft hat, überhaupt auf Gewinn hofft. Die Strenge der Wuchergesetze wurde nur durch einige Ausnahmen ein wenig gemildert: der Kaufmann sollte die Transportkosten in Anwendung bringen dürfen, und der Gläubiger konnte durch eine Vergütung entschädigt werden, wenn der Termin der Rückgabe des geliehenen Geldes versäumt wurde. Man unterschied das dammum emergens, den entstehenden Schaden, und das lukrum cessans, den entgangenen Gewinn, als Bedingungen einer Entschädigung. Bei vorhergehender Verständigung zwischen Gläubiger und Schuldner ließ sich auf diese Weise das Gesetz bis zu einem gewissen Grade umgehen. Übrigens aber bestand das Zinsverbot, von Friedrich I. und Friedrich II. übernommen, in aller Strenge fort. Laien wurden wegen Wuchers exkommuniziert, ebenso Fürsten, die Wucherer in ihrem Gebiet duldeten, Kleriker, die Wucherer bestatteten, streng bestraft. Da am Ende des 13. Jahrhunderts die päpstlichen Dekretalen in Deutschland Eingang fanden, und da auf den Universitäten zuerst mehr das kanonische als das römische Recht studiert wurde, verbreitete sich die kirchliche Auffassung eher mehr als weniger. Der Sachsenspiegel allerdings, nach dem sich das nördliche Deutschland richtete, kannte das Zinsverbot nicht. Nach altgermanischem Recht musste der Schuldner dem Gläubiger seine Schuld abdienen; er verfiel entweder auf Zeit oder lebenslänglich in Schuldknechtschaft. Allein die sächsische Rechtsmeinung wurde in den später dem Sachsenspiegel beigefügten Glossen zugunsten der kirchlichen zurückgestellt; auch drang der Schwabenspiegel, der von vornherein das kanonische Recht vertrat, allmählich nach dem Norden vor.
Dem kirchlichen Gesetz standen die Gesetze des wirtschaftlichen Verkehrs mit solcher Gewaltsamkeit entgegen, den Klerus selbst in den Strom hineinreißend, dass, wenn nicht eine Lösung des Widerspruchs, doch ein Ausweg gefunden werden musste; er fand sich darin, dass die Handhabung der Geldgeschäfte den Juden übertragen wurde, die dem christlichen Gesetz nicht unterstanden. Eine gewisse Neigung und Begabung der Juden für das Geldgeschäft kam dieser Regelung entgegen, die aber, wenn nicht hervorgebracht, doch dadurch unterstützt wurde, dass sie auf das Wohnen in den Städten und Erwerb durch Handel angewiesen waren. Im vermehrten Sachsenspiegel heißt es, von Gottes Recht solle kein Jude Wucher nehmen, doch sei ihre Ordnung anders als bei den Christen, weil sie hierzulande nichts Eigenes haben könnten, darum seien sie von Kaisern und Königen begnadet, dass sie sonderliches Recht hätten. Sie müssten wuchern, weil sie erblich Land und Boden nicht haben dürften und weil die Handwerker sie nicht in ihre Zünfte einließen. Man sagte auch geradezu, Juden müssten wuchern, weil die Christen es nicht dürften.
Die Übernahme der Geldgeschäfte durch die Juden hatte für Juden und Christen verhängnisvolle Folgen. Indem die Juden zu Gläubigern, die Christen zu Schuldnern wurden, entstand ein gespanntes Verhältnis mit der Neigung zu gewaltsamen Entladungen. Während der Glaubenshass eigentlich nur von der Kirche ausging, betraf der Schuldnerhass fast alle Kreise des Volkes, und der letztere war viel grimmiger, weil er auf der Not des Ausgepressten zu seinem Dränger beruhte. Die Klage der Christen, dass die Juden hohe Wucherzinsen forderten und sie dadurch erdrückten, war nicht unberechtigt. Es war üblich, Geld auf kurze Frist und zu erstaunlich hohen Zinsen auszuleihen. Die Höhe des Zinsfußes betrug im Jahre sechzig und siebzig Prozent; in Österreich stieg der Zins infolge besonderer Verhältnisse auf 174, sogar auf 304 Prozent im Jahr. Wenn nun aber die Juden gelegentlich auch über den gesetzlich erlaubten Zins hinaus ihre Schuldner auspressten, so waren sie dazu fast gezwungen durch die Forderungen, die an sie selbst gestellt wurden. Je spärlicher die regelmäßigen Einkünfte der Kaiser wurden, desto mehr nützten sie die Quellen aus, die ihnen zur Verfügung standen, und das waren außer den Abgaben der Reichsstädte die der Juden, die für die Gewährung des kaiserlichen Schutzes gewisse Zahlungen zu leisten hatten. Zu den regelmäßigen Leistungen kamen außergewöhnliche, wenn sich eine Gelegenheit bot. Waren die Judenerträgnisse vom Kaiser den Fürsten oder Städten übertragen, die Ansprüche an sie hatten, so wurden sie von diesen ausgesogen. Je mehr die Juden zu zahlen hatten, je mehr sie selbst ausgebeutet wurden, desto mehr mussten sie ihre Schuldner ausbeuten: es war ein hässlicher, unheilvoller Kreislauf. Bei dem ungeheuren Geldbedürfnis und Geldmangel des Mittelalters, hervorgerufen durch die steigenden Ansprüche auf der einen und den noch unentwickelten Verkehr auf der anderen Seite, waren alle Stände den Juden verschuldet: die Kaiser, die Päpste, der hohe und niedere Adel, die Handwerker. Wenn die Verschuldung einen bestimmten Grad erreicht hatte, so suchten die Schuldner sich aus der Schlinge, die sie erwürgte, gewaltsam zu befreien.
Es leuchtet ein, dass Hochgestellte eher die Möglichkeit hatten, sich Einnahmequellen zu verschaffen oder den Ansprüchen der Gläubiger sich zu entziehen, als das niedere Volk. Daraus erklärt es sich, dass dies die gerechte Handhabung des Judenschutzes durch Kaiser, Fürsten und Stadträte so beurteilte, als wären sie von den Juden bestochen. Sie waren es, insofern sie auf die hohen Gebühren, die sie von den Juden erzielten, nicht verzichten wollten; trotzdem geschah es auch aus Bildung, Einsicht und Pflichtgefühl, dass sie bei Judenverfolgungen durch den Pöbel hindernd und strafend einschritten. In dieser erhitzten Stimmung verschärfte sich teils der Glaubenshass, teils wurde er Vorwand. Ohnehin nahm im 13. Jahrhundert der Fanatismus der Kurie zu, sowohl in Bezug auf die Ketzer als auf die Juden. Innocenz III. erließ ein Gesetz, das den Juden eine bestimmte Tracht vorschrieb, die sie kenntlich und zugleich lächerlich machte. Die spitzen gelben Hüte gaben sie dem Hohn der Gasse preis.
Die Judenverfolgungen des 14. Jahrhunderts wühlten auf, was an bestialischen Trieben in den Untiefen des deutschen Volkes sich verbarg, und offenbarten den Heroismus, dessen die Juden fähig waren. So pflegt die ewige Gerechtigkeit Gewinn und Verlust zwischen Verfolgern und Verfolgten zu verteilen. Die Einsicht, dass die Deutschen in Bezug auf das Geldgeschäft oft schlechter als die Juden handelten, ohne dieselben Entschuldigungen zu haben, machte niemanden in seiner Wut wankend. Der Mönch von Winterthur, der um die Mitte des 14. Jahrhunderts die Geschichte seiner Zeit niederschrieb, erzählt einmal, in Lindau sei bei den meisten Menschen Gottesfurcht und Nächstenliebe so verschwunden, dass sie gegen das ausdrückliche kanonische Gebot, verworfener als die Juden, hohen Zins verlangten. Sie wären in der Gewissenlosigkeit so verhärtet, dass sie den Minoriten Schuld gäben, weil sie, wie sie behaupteten, ihnen bei der Beichte keine Sünde daraus machten. Da sei ein wohlhabender Jude gekommen, habe um Aufnahme gebeten und versprochen, gegen geringen Zins wöchentlich Geld auszuleihen. Die Bürger hätten sich gefreut, und der Rat habe beschlossen, dass Christen künftighin keinen Wucher treiben dürften. Derselbe Mönch erzählt, dass in Überlingen Unwille gegen die Juden entstanden sei, weil sie einen Knaben ermordet hätten. Das Volk von Überlingen wünschte nun die Juden zu vernichten, ohne dass Kaiser Ludwig, von dem man wusste, dass er die Juden schützte, die Stadt bestrafte; man glaubte das zu erreichen, indem man die Juden überredete, zu ihrem Schutz in ein hohes steinernes Haus zu flüchten. Nachdem sie das getan hatten und alle darin eingeschlossen waren, zündete man das Haus unten an. Da sie nicht herauskonnten, flohen die Betrogenen immer höher hinauf, bis sie zuletzt auf dem Dach erschienen. In ihrem Zorn und ihrer Verzweiflung warfen sie Steine und Balken auf die Volksmenge, die sich gaffend unten angesammelt hatte. Dann versanken sie unter Gesängen in das in eine Flammenpyramide verwandelte Haus.
Ketzer waren einzelne, die es besser wissen wollten, und Völker, die als Sonderwesen ihre besondere Beziehung zu Gott und den göttlichen Dingen zum Ausdruck bringen wollten.
Das Christentum ist keine Religion wie die übrigen. Es ist der Glaube, in dem sich die Menschheit vollendet, es bezeichnet den Augenblick, wo sie, in Christus, mit Gott eins wird, wo sie in Christus ihres göttlichen Ursprungs und Zieles innewird. Der Gottmensch ist die Wahrheit, der Weg und das Leben. Was diese Religion lehrt und spendet, ist, so voll von Übersinnlichkeit sie auch sein mag, doch nichts der Menschheit Wesensfremdes, sondern eine Entfaltung, ein Erstrahlenlassen des Menschheitsgedankens. Eine Religion, die über sie hinausgehn kann, ist so wenig denkbar wie ein Zurückgehn auf das Heidentum, das im Christentum mündete, in ihm enthalten ist; die einmal christlich gewordene Menschheit kann, wenn sie nicht christlich bleibt, nur zerfallen, verwildern und in einem entgötterten und naturfernen Zustand ihr Dasein weiterschleppen. Innerhalb des Christentums aber sind unzählige Besonderheiten der Auffassung möglich entsprechend den unzähligen Völkern und einzelnen innerhalb der Menschheit. Die Kirche erfasste ihre Aufgabe, die Weltreligion zu verkünden, den großen Gedanken, die ganze Menschheit, zunächst wenigstens das Abendland, in einem Glauben zu vereinen, mit Ernst und Klugheit. Es schien selbstverständlich und auch leicht, solange das Christentum im Kampfe gegen den römisch-heidnischen Staat alle seine Kräfte im Namen des Erlösers zusammenfasste; kaum aber war es herrschend geworden, als die unendliche Mannigfaltigkeit der Menschen die Schlichtheit des Bekenntnisses durchbrach und über den großen Symbolen und Worten des Herrn der einzelne ein verwickeltes Gedankengebäude auftürmte. So wie jeder Mensch unter Millionen sein eigenes Antlitz trägt, das ihn von allen anderen unterscheidet, sein eigenes Schicksal erlebt, das keinem anderen gleicht, so gehen auch seine Gedanken eigene Wege, und unüberwindlich ist die Lust eines jeden, die Welt mit eigenen Augen zu betrachten und ihre Rätsel mit eigenem Scharfsinn zu durchdringen. Diesem Drange nach eigener Erkenntnis steht der kindliche Hang gegenüber, sich den Anschauungen der Väter, dem Zeugnis Ehrwürdiger anzuschließen, und das unmittelbare Einströmen der großen Geister in die göttlichen Offenbarungen der Vorzeit. Wäre das nicht, die geistige Welt der Menschen und damit die Welt überhaupt wäre längst zerfallen. Dennoch greifen die auflösenden Kräfte so zahlreich und so kräftig an, dass außerordentliche Gewalt am Werk sein muss, um ihnen den sinnvoll gestalteten Kosmos zu entreißen. Als die Juden in der Wüste das Goldene Kalb anbeteten, erschlug Moses dreitausend Mann; da das wandernde Volk durch kein anderes Band zusammengehalten wurde, als durch den Glauben an seinen Gott, zog er es vor, einen Teil zu opfern, um das Ganze zu erhalten. Das Gebot »Die Zauberer sollst du nicht leben lassen«, das später die Aufschrift über einer düsteren Periode der abendländischen Geschichte wurde, will die Anwendung magischer Mittel zur Erreichung eines Zweckes durchaus, auch mit den schärfsten Mitteln ausschließen. Immer brandete unterirdisch ein titanischer Strom gegen die herrschende Ordnung, die auf unantastbaren Grundwahrheiten beruht.
Innerhalb der christlichen Kirche wurde in den ersten Jahrhunderten die Grundlage des Glaubens nicht angegriffen; wohl aber tauchten allmählich verschiedene Auffassungen über die einzelnen Punkte des Bekenntnisses und die daraus zu ziehenden Folgerungen auf, wie etwa über das Wesen der Dreieinigkeit, über das Abendmahl, über die Gnadenwahl, über die Auferstehung. Den voneinander abweichenden Meinungen gegenüber sah sich die Kirche genötigt, eine Auffassung als die richtige, eine andere als unrichtig zu bezeichnen, was unter Zuziehung der führenden Männer auf allgemeinen Versammlungen geschah. So wurden aus Mysterien, die den Eingang zu den Abgründen des Übersinnlichen bezeichneten, die die ahnungsvolle Seele anbetend erfasste, Dogmen, unanfechtbare, erlernbare Sätze. Aus dem Fließenden wurde etwas Starres, das mit seinem Anspruch auf unfehlbare Richtigkeit den Zweifel des widerspruchslüsternen Menschen umso mehr herausforderte. Nicht als ob die Kirche dem Volke die Mysterien in ihrer eindrucksvollen Bildlichkeit vorenthalten hätte. Durch Unterricht und Predigt wurde die Kenntnis der biblischen Geschichte verbreitet, und von den Wänden der Kirche konnte das Volk die große Tragödie vom Sündenfall und der Erlösung der Menschheit ablesen. Papst Gregor hatte sich gegen die Abschaffung der Bilder ausgesprochen, weil das des Lesens unkundige Volk sich durch das Anschauen der Bilder die Heilsgeschichte einprägen könne. An den Portalen der Dome empfingen den Eintretenden die Propheten und Apostel, die klugen und die törichten Jungfrauen, der Weltenrichter; aus den halbdunklen Gewölben glühten im vertrauten Umriss die wunderbaren Taten Gottes hervor und die geheimnisvollen Berührungen des menschlichen Daseins mit dem göttlichen: die Verkündigung des Engels, die Geburt im Stalle, die Auferweckung des Lazarus, der Tod des Gottes am Kreuz. Von diesen Bildern aber, sofern sich nicht durch den täglichen Anblick ihre Bedeutung abstumpfte, führte niemand den Gedanken weiter. Predigten wurden wohl im Allgemeinen regelmäßig und reichlich gehalten, aber sie beschränkten sich auf leere Formeln und spitzfindige Allegorien. Wenn einer aus der Menge rege genug war, um sich eigene Gedankengänge zu graben, versperrten ihm die Dogmen wie eiserne Vorhänge despotisch starr den Weg. Immer brandet die Eigenart und der Freiheitswille des Individuums gegen die Fesseln, die der Wille zum Ganzen ihm anlegt, wenn sie seinen Geist zu ersticken beginnen. Die heidnischen Germanen öffneten sich im Allgemeinen dem christlichen Gedanken leicht, weil sich der Übergang von der gotterfüllten Natur zu Gott leicht vollziehen kann. Andererseits ließ die Kirche das Heidnische, soweit das möglich war, ohne das Wesentliche zu zerstören, in sich einfließen, voll Weisheit bedenkend, dass die Weltkirche wohl alles Menschliche bilden, aber nichts Menschliches verleugnen soll. Nachdem aber einmal die Christianisierung vollzogen war, machte sich die Verschiedenheit der einzelnen und der Völkerschaften geltend, letzteres im selben Maße wie die Eigenart der Nation sich auswirkte. Wie weit und elastisch die Kirche ihren Umfang auch gezogen hatte, die Besonderheit der Germanen machte sich doch allmählich geltend und strebte nach einem germanisierten Christentum hin. Berechtigtes und Unberechtigtes pochte an die Pforten Roms.
Bewundernswert der Römergeist, der das gewaltige Gebäude der Kirche errichtete, bewundernswert aber auch der germanische Geist, dem es nicht Genüge gab, der es mit seiner eigenen Frömmigkeit erfüllen wollte. An den Gegensätzen entbrennt das Feuer der Geschichte. Sicherlich nicht alle, die sich der Kirche widersetzten, wurden dazu von einem schöpferisch gläubigen, fruchtbar zweifelnden Drang bewogen. Viele nahmen Anstoß an der weltlichen Herrschaft, dem weltlichen Wesen der Kirche. Es war leicht, der Armut des Herrn, der nicht hatte, wohin er sein Haupt legen konnte, den weltlichen Pomp der Kirchenfürsten mit dem Papst an der Spitze entgegenzusetzen und damit den ganzen Charakter der Kirche zu verwerfen. Sicherlich war das keine Nachfolge Christi; aber es war ein über dem Grabe Christi aufgerichtetes Reich, das wachsen und einst die Welt beherrschen sollte, alle Stufen und Sphären des Lebens der Völker umfassend. Wäre ohne ein solches machtvolles Reich das Wort Christi erhalten worden? Wie berechtigt auch derartige Angriffe einzelner waren, wie etwa eines Arnold von Brescia, sie konnten zunächst die herrschende Kirche nicht erschüttern. Andere scheinen von dem weitverbreiteten Hang beseelt gewesen zu sein, sich durch irgendwelche Absonderlichkeiten hervorzutun, wie jene Ketzer, die Heinrich III. unter allgemeiner Zustimmung aufhängen ließ, die den Fleischgenuss verwarfen. Überhaupt war das niedere Volk mehr für gewaltsames Verfahren gegen Ketzer als der Klerus, obwohl die Ketzer meist aus den unteren Volksschichten stammten. Der Klerus ging ohne Untersuchung und genaue Feststellung häretischer Irrtümer nicht vor, während der Pöbel bereitwillig umbrachte oder Hinrichtung forderte. Hundert Jahre später traten in Köln Ketzer auf, die im Gegensatz zur katholischen Priesterschaft, deren bequeme Weltlichkeit sie als unchristlich verurteilten, arm lebten. Der hohe Klerus war ihnen gegenüber zur Milde geneigt, erlaubte ihrem Bischof sogar, mit einem Geistlichen zu disputieren; dagegen verlangte das aufgebrachte Volk, dass die übliche Strafe des Feuertodes gegen sie angewendet werde. Der Mut, mit dem sie, ihrer Überzeugung getreu, in den Tod gingen, erregte Bewunderung. Ein Bürger bat ein schönes Mädchen frei; aber als sie den Führer der Ketzer in den Flammen zusammenbrechen sah, verhüllte sie das Gesicht und warf sich über ihn, um mit ihm zu sterben. Eine neue Welle von Ketzerei erhob sich am Ende des 12. Jahrhunderts im Gefolge des Petrus Waldus, eines Bürgers von Lyon, der besonders in der Lombardei, aber auch in Deutschland viel Anhänger hatte. Die Waldenser waren die ersten Ketzer, die dem Dogmenlehrgebäude der Kirche mit Bewusstsein die Bibel entgegenstellten. Deutsche Übersetzungen einzelner Teile der Bibel gab es damals schon; sie waren aber, wie alle Bücher, nur den Geistlichen bekannt. Es gab kein Verbot der Bibel von Seiten der Kirche; aber es machte sich fühlbar, dass die Bibel zwar als Heiliges Buch der Christen galt, aber nur deshalb, weil die Kirche sie als solches anerkannte. Die Kirche betrachtete sich als unmittelbar von Gott gestiftet, als Inhaberin der Wahrheit und der Macht von Gott berufen, die Völker zu lehren. Die Meinung, dass es eine Quelle göttlicher Offenbarung gebe, die einem jeden mit Umgehung der Kirche zugänglich sei, war neu und unerhört. Aus der Heiligen Schrift hauchte das Wort Gottes den Hörer unmittelbar an. Der Deutsche vernahm es wie das Rauschen seiner Wälder und seiner Meere, einen wunderbaren Gesang voll geahnter Bedeutung. Hier handelte es sich nicht um Gebetsformeln, Fasten, Zehnten, sondern um sittliche Gebote, die im Herzen widerklangen, um Einsichten, die als goldene Frucht vom Baum des Lebens fielen. Man fühlte den Unterschied zwischen Menschenwort und Gotteswort und fühlte sich mit dem Gotteswort frei und unbesiegbar. Das Menschenwort, ob man es verstand oder nicht verstand, reizte zum Widerspruch, das Gotteswort in seinem unergründlichen Dunkel riss hin, erschütterte, überzeugte. Diejenigen Waldenser, die nicht lesen konnten, wussten große Stücke aus der deutschen Bibel auswendig; die Schönheit der Lieder, die sie sangen, fiel auch den Gegnern auf. Die Musik verband sich mit dem religiösen Aufschwung und drang auch in die Kirche ein; meistens wurde der Gottesdienst mit einem gemeinsam gesungenen deutschen Liede beendigt. Das niedere Volk, von dem man so wenig vernimmt, tritt in dieser ersten großen Ketzerbewegung aus seinen mühsalvollen Hütten hervor: hingebungsvoll, redlichen Sinnes, bereit den göttlichen Geboten zu folgen und dafür zu sterben, vielleicht zuweilen gehoben in der stolzen Zuversicht, dass Gott die Armen und Verachteten zu Jüngern der Vollkommenheit erwählt habe. Von dem Propst Heinrich Minneke von Goslar, dem viele Nonnen anhingen, und der auf einer Synode als Häretiker verurteilt und dann verbrannt wurde, weiß man nichts Näheres. Sicherlich gab es neben aufrichtiger Frömmigkeit mancherlei unordentliche, abgeschmackte und auch unsaubere Schwärmerei. Es gab Ketzer, die Materie für sündhaft erklärten und deshalb für jedermann übertriebene Askese verlangten, andere, die, weil sie glaubten, ohne priesterliche Vermittlung mit Gott eins und heilig werden zu können, sich alles, auch jede Ausschweifung erlaubten. Gute und Böse, Gescheite und Dumme schlossen sich der Bewegung an, und es wäre nicht zu verwundern, wenn die Fanatiker und die Toren in der Überzahl gewesen wären.
Die Päpste sahen mit Entrüstung Feinde den festgefügten Bau der Kirche unterwühlen. Es war der Bau, der die europäische Welt überwölbte, in ihren Augen eins mit dem Kosmos. Durch die Sakramente band sie den sterblichen Menschen an die unsterbliche Gottheit, hielt sie ihn eingeschaltet im Umschwung der Sphären. Riss das Band, so stürzte er wie ein erlöschendes Licht in das Nichts. Dass ein unmittelbares Band göttlicher Strömungen erwählte Geister zu einer unsichtbaren Kirche zusammenfassen könne, kam für die kirchliche Auffassung nicht in Betracht. Neben dem selbstsüchtigen Gefühl einer Macht, die sich im Genuss ihrer Herrschaft bedroht sieht, mögen solche Betrachtungen Papst Lucius III. bewegt haben, als er den Beschluss fasste, die Ketzer auszurotten, und Friedrich I. aufforderte, sich mit seinen Machtmitteln der Kirche zur Verfügung zu stellen. Der Kaiser war dazu durchaus bereit. Es wird ihn kaum ein Zweifel angewandelt haben, ob das, was die Ketzer lehrten, verdammenswert sei: weil sie sich gegen die Kirche auflehnten, waren sie Rebellen und musste er, als Schutzherr der Kirche, sie strafen. Schon vor hundert Jahren hatte Gerhoh von Reichersperg gesagt: haereticum esse constat qui a Romana ecclesia discordat – Ketzer ist, wer von der Römischen Kirche abweicht. Auch Friedrich II., obwohl er selbst der Ketzerei verdächtigt wurde, erklärte sich mit seinem großen Gegner Gregor IX. einverstanden, als dieser im Jahre 1231 ein neues Gesetz zur Ausrottung der Ketzer erließ. Das Neue und Bedenkliche dieses Gesetzes war, dass künftig nicht nur der offenbare, gewissermaßen angreifende Ketzer zu verurteilen war, sondern dass der Ketzerei nachgespürt werden sollte, wodurch die gemeinen Instinkte der Menschen, insbesondere die Angeberei, aufgeregt wurden. Mit dieser peinlichen Aufgabe betraute der Papst den neugegründeten Orden der Dominikaner, der sich wegen seiner gelehrten Bildung dazu zu eignen schien. Die Zahl der häretischen Irrtümer, die sie austüftelten, überstieg sicherlich oft die Zahl der Heilswahrheiten, die den Beschuldigten selbst bekannt waren. Das Jahr des neuen Gesetzerlasses war das Jahr, in welchem die heilige Elisabeth starb. Ob der Tod der jungen Fürstin das düstere Gemüt ihres Beichtvaters trübte? Konrad von Marburg übernahm die seinem Orden zugewiesene Aufgabe mit einem Eifer, als bereite es ihm eine schreckliche Genugtuung, Menschen dem Feuertode zu überliefern. Wie eine Krankheit fraß der Verdacht der Ketzerei um sich; selbst Geistlichen kam Konrads Vorgehen wie ein blindes Wüten vor. Ein bisher unbekanntes Grauen beschlich die Menschen. Vielleicht hätte die Verfolgung sich ungehemmt ausbreiten können, wenn sie sich auf die unteren Volksklassen beschränkt hätte; aber gemäß einer ausdrücklichen Bestimmung des Papstes griff sie gerade die Hochgestellten an. Das reizbare Ehrgefühl des hohen Adels empörte sich gegen die Vergewaltigung durch ein geistliches Gericht. Graf Heinrich von Sayn wurde wegen Ketzerei angeklagt und erschien auf einer großen Kirchenversammlung in Mainz, bei der König Heinrich, Friedrichs II. Sohn, anwesend war. Sowohl er wie der Erzbischof von Mainz missbilligten das Verhalten Konrads; der Erzbischof hatte ihn sogar ermahnt, sich zu mäßigen, aber ohne etwas auszurichten. So viel bewirkte der Erzbischof, dass dem Grafen von Sayn eine Frist gegeben wurde, um sich zu rechtfertigen; die Gefahr blieb trotzdem groß, denn das Inquisitionsverfahren war so eingerichtet, dass es sehr schwer war, die einmal angezweifelte Rechtgläubigkeit zu erweisen. Am 30. Juli 1233 wurde Konrad von Marburg ermordet; man schrieb die Tat allgemein dem Grafen von Sayn zu. Er lebte noch 14 Jahre, ohne deswegen angegriffen zu werden; seine Witwe machte später große Schenkungen zum Heil für seine und ihre sündigen Seelen. Beinah gleichzeitig wurde in Straßburg der Dominikanermönch Droso, der durch sein Aufspüren von Ketzern die Stadt beunruhigte, von Heinrich von Mülnstein, einem, der sich bedroht fühlte, ermordet. Johannes Guldein, einer der angesehensten Straßburger Bürger, war im Jahre 1230 verbrannt worden. Nicht nur der Papst, sondern auch der Kaiser war entrüstet über die Mordtaten; es war einer der Vorwürfe, die Friedrich gegen seinen Sohn erhob, dass er die Ketzerverfolgung nicht unterstützt habe. Trotzdem ist anzunehmen, dass die Kaiser diese Pflicht ihres Amtes nur wie eine herkömmliche Formel zuweilen zu betonen für nötig hielten; denn wenn sie sich mit eigenem Willen dafür eingesetzt hätten, würde die Inquisition sich mehr ausgebreitet und festgesetzt haben, als tatsächlich geschah. Allerdings, wenn auch die scharfe Verfolgung, wie sie Konrad von Marburg eingeleitet hatte, sich nicht erneuerte, so wurden doch die Ketzergesetze weiterhin angewendet, und dass von Zeit zu Zeit die Flammen einen Irrgläubigen verzehrten, war nichts Auffallendes.