Kitabı oku: «Freud und das Vermächtnis des Moses», sayfa 4

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Historisches Zwischenspiel: Von Wien nach London

Im ersten Absatz der zweiten Abhandlung, „Wenn Moses ein Ägypter war…“, verwendet Freud die Metapher vom „ehernen Bild auf tönernen Füßen“, die etwas abgewandelt auch in seinem Briefwechsel wiederkehrt. Yerushalmi hat recht, wenn er das „erschreckend großartige Bild“, von dem im Briefwechsel mit Arnold Zweig die Rede ist, auf Freuds dritte Abhandlung bezieht.74 Bevor ich mich deren Diskussion zuwende, möchte ich aber noch die historischen Umstände beleuchten, die Freuds tiefes Nachdenken über den ägyptischen Ursprung Moses’ und des jüdischen Monotheismus begleitet haben. Freud berichtet in seiner Korrespondenz der dreißiger Jahre freimütig vom Gang der Untersuchungen. Insofern ist der Briefwechsel eine reiche Quelle für Material, das genaueren Einblick in Freuds Planung, Motivation und auch das Zurückschrecken vor der Veröffentlichung seiner Ergebnisse gewährt.

Die ersten beiden Abhandlungen wurden 1937 in der Zeitschrift Imago veröffentlicht, zu einem Zeitpunkt also, als Freud noch in Wien lebte. In beiden Abhandlungen macht er Andeutungen, welche Schlußfolgerungen er aus dem „Faktum“, daß Moses ein ägyptischer Aristokrat gewesen sei, der das jüdische Volk zu Anhängern des Monotheismus Echnatons auserkor, ziehen wird. Er tut aber so, als seien diese Schlußfolgerungen einer zukünftigen Arbeit aufgegeben, die möglicherweise nie abgeschlossen würde. Freud war 1937 einundachtzig Jahre alt, er litt unter einer schmerzhaften und kräftezehrenden Krebskrankheit, fühlte seinen Tod nahen. Er verschloß sich noch immer den Bitten seiner Familie und Freunde, Wien zu verlassen. Gleichwohl wissen wir, daß Freud bereits 1934 „seine Gedanken über Moses und die Religion zum größten Teil entworfen und geschrieben hatte – Gedanken, in die er sich für den Rest seines Lebens vertiefen würde.“75 Schon in Freuds Manuskript des ersten Entwurfs finden wir die zentralen Thesen der dritten Abhandlung – eben jenes Material, auf das er sich bezieht, wenn er am Ende der zweiten Abhandlung „Wenn Moses ein Ägypter war…“ von der zukünftigen, noch zu schreibenden Fortsetzung spricht. Am 6. November 1934, drei Jahre vor der Veröffentlichung der ersten beiden Abhandlungen, schreibt Freud an Arnold Zweig: „Ich verlange doch mehr Sicherheit und mag nicht, daß mir die wertvolle Schlußformel des Ganzen durch die Montierung auf eine Basis gefährdet wird.“76 Am 16. Dezember 1934 schreibt Freud erneut, diesmal von seinen Publikationsbedenken:

„Mit dem Moses lassen Sie mich in Ruhe. Daß dieser wahrscheinlich letzte Versuch, etwas zu schaffen, gescheitert ist, deprimiert mich genug. Nicht daß ich davon losgekommen wäre. Der Mann, und was ich aus ihm machen wollte, verfolgt mich unablässig. Aber es geht nicht, die äußeren Gefahren und die inneren Bedenken erlauben keinen anderen Ausgang des Versuchs. Ich glaube, mein Gedächtnis für rezente Vorgänge ist nicht mehr verläßlich. Daß ich Ihnen in einem früheren Brief genug darüber geschrieben habe, daß Moses ein Ägypter ist, ist nicht das Wesentliche, obwohl der Ausgangspunkt dafür. Es ist auch nicht die innere Schwierigkeit, denn es ist so gut wie gesichert. Sondern die Tatsache, daß ich genötigt war, ein erschreckend großartiges Bild auf einen tönernen Fuß zu stellen, so daß jeder Narr es umstürzen kann.“77

Dieses offene Eingeständnis bestätigt, was wir bereits am Text der beiden ersten Abhandlungen herausgearbeitet hatten. Ungeachtet der wiederholten Versicherungen über das schwache Fundament seiner historischen Behauptungen ist Freud ganz offensichtlich davon überzeugt, mit seinen Vermutungen über das Schicksal des Moses richtig zu liegen. Noch nach dem Abschluß seines ersten Entwurfs, Der Mann Moses: Ein historischer Roman betitelt, suchte er nach Beweisen für die Schlüssigkeit seiner historischen Behauptungen. Am 2. Mai 1935 schreibt Freud an Arnold Zweig, er habe in einem Bericht über die Ausgrabungen bei Tell-el Amarna die Erwähnung eines Prinzen Thotmes gefunden, „von dem sonst nichts bekannt ist“, und fährt fort: „Wäre ich ein Pfund-Millionär, so würde ich die Fortsetzung der Ausgrabungen finanzieren. Dieser Thotmes könnte mein Moses sein, und ich dürfte mich rühmen, daß ich ihn erraten habe.“78

Ungeachtet also der Sorge um die wenigen objektiven Beweise für seine historischen Behauptungen bleibt die Moses-Studie Freuds alles beherrschendes Interesse. Er bekennt in der schließlich 1939 veröffentlichten Fassung: „In Wirklichkeit ist sie zweimal geschrieben worden. Zuerst vor einigen Jahren in Wien, wo ich nicht an die Möglichkeit glaubte, sie veröffentlichen zu können. Ich beschloß, sie liegenzulassen, aber sie quälte mich wie ein unerlöster Geist […].“79 Freud hatte der Öffentlichkeit kein ehernes Bild auf tönernen Füßen präsentieren, sich nicht der Lächerlichkeit preisgeben wollen. Doch ist dies nicht der Hauptgrund für den Aufschub der Publikation jener „gefährlichen“ dritten Abhandlung. In der ersten Vorbemerkung zu ihr, geschrieben vor dem 12. März 1938, dem deutschen Einmarsch in Österreich, sagt er ausdrücklich: „Ich werde diese Arbeit also nicht bekanntmachen, aber das braucht mich nicht abzuhalten, sie zu schreiben. […] Sie mag dann in der Verborgenheit aufbewahrt bleiben, bis einmal die Zeit kommt, wann sie sich gefahrlos ans Licht wagen darf, oder bis man einem, der sich zu denselben Schlüssen und Meinungen bekennt, sagen kann, es war schon einmal in dunkleren Zeiten jemand da, der sich das nämliche wie du gedacht hat.“80 Es stellt sich die Frage, warum Freud vor der Veröffentlichung dieses dritten Teils, von dem er sagt, er enthalte „das eigentlich Anstößige und Gefährliche […], die Anwendung auf die Genese des Monotheismus und die Auffassung der Religion überhaupt […]“81, zurückschreckte. Man möchte meinen, Freud habe unter dem Eindruck der Verfolgung der europäischen Juden seine jüdischen Mitbürger nicht beleidigen wollen. Dies war aber offenbar nicht sein primärer Beweggrund. Freuds Vorsicht bezog sich eher auf die Reaktion, die er von den katholischen Autoritäten erwartete. In der bereits zitierten Vorbemerkung schreibt er:

„Wir leben hier in einem katholischen Land unter dem Schutz dieser Kirche, unsicher, wie lange er vorhalten wird. Solange er aber besteht, haben wir natürlich Bedenken, etwas zu tun, was die Feindschaft der Kirche erwecken muß. Es ist nicht Feigheit, sondern Vorsicht; der neue Feind, dem zu Dienst zu sein wir uns hüten wollen, ist gefährlicher als der alte, mit dem uns zu vertragen wir bereits gelernt haben. Die psychoanalytische Forschung, die wir pflegen, ist ohnedies der Gegenstand mißtrauischer Aufmerksamkeit von seiten des Katholizismus. Wir werden nicht behaupten, es sei so mit Unrecht. Wenn unsere Arbeit uns zu einem Ergebnis führt, das die Religion auf eine Menschheitsneurose reduziert und ihre großartige Macht in der gleichen Weise aufklärt wie den neurotischen Zwang bei den einzelnen unserer Patienten, so sind wir sicher, den stärksten Unwillen der bei uns herrschenden Mächte auf uns zu ziehen. […] Es würde wahrscheinlich dazu führen, daß uns die Betätigung in der Psychoanalyse verboten wird. Jene gewalttätigen Methoden der Unterdrückung sind der Kirche ja keineswegs fremd, sie empfindet es vielmehr als Einbruch in ihre Vorrechte, wenn auch andere sich ihrer bedienen. Die Psychoanalyse aber, die im Laufe meines langen Lebens überallhin gekommen ist, hat noch immer kein Heim, das wertvoller für sie wäre als eben die Stadt, wo sie geboren und herangewachsen ist.“82

Was immer wir über die Gültigkeit der Argumentation, über die politische Einschätzung der katholischen Kirche oder über die Frage, ob Freuds Vorsicht eine angemessene Reaktion auf die geschilderte Situation sei, denken mögen – Freud läßt keinen Zweifel daran, daß dies sein Hauptmotiv ist. Er drückt dieselbe Sorge in seiner Korrespondenz aus, wo es in einem Brief an Arnold Zweig vom 30. September 1934 heißt:

„Angesichts der neuen Verfolgungen fragt man sich wieder, wie der Jude geworden ist und warum er sich diesen unsterblichen Haß zugezogen hat. Ich hatte bald die Formel heraus. Moses hat den Juden geschaffen, und meine Arbeit bekam den Titel: Der Mann Moses, ein historischer Roman. […] Das Zeug gliederte sich in drei Abschnitte, der erste romanhaft interessant, der zweite mühselig und langwierig, der dritte gehalt- und anspruchsvoll. An dem dritten scheiterte das Unternehmen, denn er brachte eine Theorie der Religion, nichts Neues zwar für mich nach Totem und Tabu, aber doch eher etwas Neues und Fundamentales für Fremde. Die Rücksicht auf diese Fremden heißt mich dann den fertigen Essay sekretieren. Denn wir leben hier in einer Atmosphäre katholischer Strenggläubigkeit. Man sagt, daß die Politik unseres Landes von einem Pater Schmidt gemacht wird […], der Vertrauensmann des Papstes ist und zum Unglück selbst ein Ethnolog und Religionsforscher, der in seinen Büchern aus seinem Abscheu vor der Analyse und besonders meiner Totemtheorie kein Geheimnis macht. […] Nun darf man wohl erwarten, daß eine Publikation von mir ein gewisses Aufsehen machen und der Aufmerksamkeit des feindlichen Paters nicht entgehen wird. Damit würde man ein Verbot der Analyse in Wien und die Einstellung aller unserer Arbeiten riskieren. Beträfe die Gefahr nur mich, so würde sie mir wenig Eindruck machen, aber alle unsere Mitglieder in Wien erwerbslos zu machen, ist mir eine zu große Verantwortlichkeit.“83

Und einen Brief an Lou Andreas-Salomé vom 6. Januar 1935, in dem er eine knappe Darstellung seiner Hauptthesen über Moses und den Monotheismus gibt, beschließt er mit den Worten:

„Und nun sehen Sie, Lou, diese Formel, die mich ganz fasziniert hat, kann man heute in Österreich nicht aussprechen, ohne von der uns beherrschenden katholischen Übermacht ein staatliches Verbot der Analyse zu erzielen. Und nur dieser Katholizismus schützt uns gegen das Nazitum. Und überdies sind die historischen Grundlagen der Mosesgeschichte nicht solid genug, um als Postament meine unschätzbare Einsicht zu tragen. Ich schweige also. Es genügt mir, daß ich selbst an die Lösung des Problems glauben kann. Es hat mich mein ganzes Leben hindurch verfolgt.“84

Wir haben es heute leicht, im nachhinein über Freuds politische Naivität in bezug auf die wirklichen Verhältnisse in Deutschland und Österreich zu urteilen, doch zu fragen ist hier nach etwas anderem. Warum war Freud von seiner Studie über Moses so in den Bann gezogen; welches Problem glaubte er gelöst zu haben? Jenes, von dem er sagt, es habe ihn sein „ganzes Leben hindurch verfolgt“? Dieser Ausspruch kann sich jedenfalls nicht auf die Thesen über Moses’ ägyptische Herkunft, seine „Erfindung“ der Juden und seine Ermordung durch sie beziehen. Denn nichts läßt darauf schließen, daß Freud diese Hypothesen bereits vor den 1930er Jahren formuliert haben sollte, wenngleich seine lebenslange Faszination für den Mann Moses unstrittig ist.85 Was Freud mit seiner Studie zu leisten glaubte, war: eine tiefgreifende Darstellung des wesentlichen Charakters des jüdischen Volkes und ihrer von Moses’ monotheistischen Idealen inspirierten Tradition gegeben zu haben. Er glaubte auch, einen Schlüssel zum Verständnis des „unauslöschlichen Hasses“ und des virulenten Antisemitismus gegeben zu haben, dessen Objekt die Juden, ihre gesamte Geschichte hindurch, stets waren. Wir werden den ganzen Gehalt der von Freud gegebenen Antwort (die zugleich die in dem Vorwort zur hebräischen Ausgabe von Totem und Tabu aufgeworfene Frage beantwortet) allerdings erst zureichend verstehen können, wenn wir die dritte Abhandlung von Der Mann Moses und die monotheistische Religion analysieren.

Im Juni 1938 – nach bedrückenden Erlebnissen: Durchsuchung des Hauses durch die Gestapo, Verhaftung (und schließlich Freilassung) der Tochter Anna – wurde Freud die Ausreise aus Wien nach England gestattet. Einen Monat nach Ankunft schrieb er eine zweite Vorbemerkung für den dritten Teil der Moses-Studie. Er war nun entschlossen, das ganze Buch so bald wie möglich zu veröffentlichen. Er begründete seine Entscheidung mit den Worten:

„Die ganz besonderen Schwierigkeiten, die mich während der Abfassung dieser an die Person des Moses anknüpfenden Studie belastet haben – innere Bedenken sowie äußere Abhaltungen –, bringen es mit sich, daß dieser dritte, abschließende Aufsatz von zwei verschiedenen Vorreden eingeleitet wird, die einander widersprechen, ja einander aufheben. Denn in dem kurzen Zeitraum zwischen beiden haben sich die äußeren Verhältnisse des Schreibers gründlich geändert. Ich lebte damals unter dem Schutz der katholischen Kirche und stand unter der Angst, daß ich durch meine Publikation diesen Schutz verlieren und ein Arbeitsverbot für die Anhänger und Schüler der Psychoanalyse in Österreich heraufbeschwören würde. Und dann kam plötzlich die deutsche Invasion; der Katholizismus erwies sich, mit biblischen Worten zu reden, als ein ‚schwankes Rohr‘. In der Gewißheit, jetzt nicht nur meiner Denkweise, sondern auch meiner ‚Rasse‘ wegen verfolgt zu werden, verließ ich mit vielen Freunden die Stadt, die mir von früher Kindheit an, durch 78 Jahre, Heimat gewesen war.

Ich fand die freundlichste Aufnahme in dem schönen, freien, großherzigen England. Hier lebe ich nun, ein gern gesehener Gast, atme auf, daß jener Druck von mir genommen ist und daß ich wieder reden und schreiben – bald hätte ich gesagt: denken darf, wie ich will oder muß. Ich wage es, das letzte Stück meiner Arbeit vor die Öffentlichkeit zu bringen.“86

Freud versperrte sich allen Ratgebern, die ihn zum Verzicht auf die Publikation oder zumindest die Abmilderung seiner Thesen zu bewegen suchten. Das Buch wurde schließlich 1939 in Amsterdam veröffentlicht. Im gleichen Jahr erschien auch eine englische Übersetzung aus der Hand von Katherine Jones (der Ehefrau von Ernest Jones). Es war das letzte Buch, das Freud veröffentlichte, wenngleich nicht das letzte Manuskript, das er schrieb; Freud verstarb am 23. September 1939.

Kapitel 2
Tradition, Trauma und die Wiederkehr des Verdrängten
„Das wichtigste Stück des Ganzen“

Der Aufbau und die innere Architektonik der letzten Fassung von Der Mann Moses mutet zunächst unbeholfen und verworren an. Der auf Fragen des literarischen Stils äußerst bedachte und ehrgeizige Freud räumt auch sogleich die „unkünstlerisch[e] […] Art der Darstellung“ ein; beklagt, nicht imstande gewesen zu sein, „die Spuren der immerhin ungewöhnlichen Entstehungsgeschichte dieser Arbeit zu verwischen.“1 Die ersten beiden Teile versammeln, ohne Textrevision, die bereits in Imago veröffentlichten Abhandlungen. Die dritte Abhandlung, mehr als doppelt so lang wie die beiden anderen zusammen, setzt ein mit den zwei „einander widersprechenden“ Vorbemerkungen, von denen die erste vor dem „Anschluß“ Österreichs, im März 1938, die zweite kurz nach Ankunft in London, im Juni 1938, geschrieben wurde. Der Hauptteil dieser dritten Abhandlung zerfällt wiederum in zwei Teile, von denen der erste aus fünf Abschnitten besteht, die wie folgt betitelt sind: A) Die historische Voraussetzung; B) Latenzzeit und Tradition; C) Die Analogie; D) Anwendung; E) Schwierigkeiten. Der zweite Teil beginnt mit einem Abschnitt, „Zusammenfassung und Wiederholung“ überschrieben, der sich wie eine weitere (nunmehr dritte) Vorbemerkung liest. Es folgen neun weitere Abschnitte: A) Das Volk Israel; B) Der große Mann; C) Der Fortschritt in der Geistigkeit; D) Triebverzicht; E) Der Wahrheitsgehalt der Religion; F) Die Wiederkehr des Verdrängten; G) Die historische Wahrheit; H) Die geschichtliche Entwicklung.2

Dieser schematische Überblick nennt die Vielzahl der Themen, denen sich Freud zuwendet, zugleich aber auch die Art und Weise, in der seine Darstellung zwischen den historischen und den psychoanalytischen Problemen pendelt. Gibt es also eine Einheit des Textes? Und wenn nicht Einheit, so doch wenigstens einige rote Fäden, die durch das Dickicht der zahlreichen von Freud diskutierten Themen geleiten? Ich meine ja, möchte aber, um dies genauer herausarbeiten zu können, zu dem Punkt zurückkehren, an dem Freud (und wir) mit den beiden 1937 veröffentlichten Abhandlungen stehengeblieben war(en).

Freud, so läßt sich zusammenfassen, war zu folgenden Ergebnissen gekommen: Moses, Sproß einer ägyptischen Adelsfamilie, war ein Anhänger der monotheistischen Aton-Religion. Angesichts der Aussichtslosigkeit, eine Fortsetzung dieser Religion im Ägypten nach Echnatons Tod zu erwirken, wählte Moses die in Ägypten lebenden „rückständigen“ Semiten, um sie zu Anhängern seines neuen Monotheismus zu machen. Er führte das Ritual der Beschneidung ein (eine, so Freud, ägyptische Praxis), um ihr Selbstgefühl gegenüber den Ägyptern zu heben. Während die Ägypter in der Folge in ihren alten Polytheismus zurückfielen, führte Moses die Juden aus Ägypten in die Wüste, um ein neues Königreich zu begründen. Indes kam den Juden schnell zu Bewußtsein, daß für sie der Monotheismus, den Moses ihnen auferlegt hatte, zu streng und anspruchsvoll war. Sie rebellierten und mordeten ihren Anführer. Zunächst kehrten auch sie zu der polytheistischen Religionsform zurück, der sie angehangen hatten, bevor der „Fremde“, Moses, sie aus Ägypten führte. Etwas später, an einem unter dem Namen Kadesch überlieferten Ort, vereinigten sich die ägyptischen Semiten schließlich mit anderen Stämmen, die einem vulkanischen Gott namens Jahve dienten. Ein neuer Priester wurde eingesetzt, kein Ägypter, sondern ein Midianiter, der aber ebenfalls Moses hieß. Es kam also zu einer Vermischung des ursprünglichen ägyptischen Monotheismus und der midianitischen Religion, die dem Vulkangott Jahve huldigte.

Man nehme einmal an, all dies (und auch die anderen historischen Details, die Freud in den Raum stellt) hätten exakt in der Weise stattgefunden, wie Freud es darstellt. Könnten wir, diese „historische“ Darstellung aus heuristischen Gründen für den Moment akzeptierend, aus ihr irgendwelche Schlußfolgerungen für den Charakter des jüdischen Volkes heute ableiten? Könnte dies über den „eigentümliche[n] Charakter des jüdischen Volkes“ aufklären, der „wahrscheinlich auch seine Erhaltung bis auf den heutigen Tag ermöglicht hat“3? Auch unter der großzügigsten Beurteilung dessen, was Freud uns bis hierher dargelegt hat, wäre die Antwort ein klares Nein! Was sollen diese „historischen“, vermutlich auf das vierzehnte vorchristliche Jahrhundert zurückdatierenden Begebenheiten mit dem zu tun haben, was sich seither innerhalb der jüdischen Geschichte ereignet oder ihre Tradition geformt hat? In der Tat steht jedoch eben diese Verbindung – und ihre psychoanalytische Deutung – im Zentrum des Freudschen Argumentationsgangs, der allerdings erst in der dritten und abschließenden Abhandlung voll entwickelt wird. Doch schon aus der sorgfältigen Lektüre der ersten beiden Abhandlungen wird klar, daß Freud diese Verbindung im Blick hat. Nur verhüllt Freud sein Hauptargument in eine zunächst ganz unscheinbare Bemerkung, wenn er – im Anschluß an seine „kürzeste Formel“ jener „Zweiheiten“, die die jüdische Geschichte beherrschen – sagt: „Darüber hinaus gäbe es noch sehr viel zu erörtern, zu erklären und zu behaupten. Erst dann ließe sich eigentlich das Interesse an unserer rein historischen Studie rechtfertigen.“4 Es folgt dann unmittelbar ein Überblick über die zentralen Themen, die Gegenstand der dritten Abhandlung sind, aber bereits im ersten Entwurf von 1934 ausgearbeitet waren! Ich kehre noch einmal zu dem bereits zitierten Absatz zurück, der aber im Licht dieser Ausführungen eine weitere Dimension erhält:

„Worin die eigentliche Natur einer Tradition besteht und worauf ihre besondere Macht beruht, wie unmöglich es ist, den persönlichen Einfluß einzelner großer Männer auf die Weltgeschichte zu leugnen, welchen Frevel an der großartigen Mannigfaltigkeit des Menschenlebens man begeht, wenn man nur Motive aus materiellen Bedürfnissen anerkennen will, aus welchen Quellen manche, besonders die religiösen Ideen die Kraft schöpfen, mit der sie Menschen wie Völker unterjochen – all dies am Spezialfall der jüdischen Geschichte zu studieren wäre eine verlockende Aufgabe. Eine solche Fortsetzung meiner Arbeit würde den Anschluß finden an Ausführungen, die ich vor 25 Jahren in Totem und Tabu [1912-13] niedergelegt habe. Aber ich traue mir nicht mehr die Kraft zu, dies zu leisten.“5

Diese Textpassage antizipiert nicht nur die dritte Abhandlung. Sie ist zugleich auch ein Résumé der Thesen, die Freud bereits im Entwurf von 1934 festgelegt (und Lou Andreas-Salomé in dem Brief vom 1. Januar 1935 mitgeteilt) hatte. Zweifellos ist sie ein Schlüssel zum „wichtigsten Stück des Ganzen“. Denn der rote Faden, der die dritte Abhandlung durchzieht, ist die Reflexion über die „wahre Natur“ und die „besondere Kraft“ der Tradition. Zu den wenigen Lesern des Moses-Buchs, die dies erkannt haben, zählen Yerushalmi, Derrida und Assmann. Yerushalmi schreibt:

„Die Leser von Der Mann Moses haben bisher überhaupt nicht erkannt – vielleicht weil sie zu sehr im Banne der sensationelleren Aspekte standen: Moses als Ägypter, von den Juden ermordet –, daß der eigentliche Dreh- und Angelpunkt des Buches, insbesondere der des dritten Teils, das Problem der Tradition ist, und zwar nicht nur die Frage nach deren Ursprung, sondern vor allem die nach ihrer Dynamik.“6

Was aber versteht Freud unter Tradition? Worin besteht ihre Dynamik? Wie läßt sich die Kraft der Tradition, insbesondere die der jüdischen, begrifflich fassen? Und wie ist Tradition mit dem verknüpft, was Freud „historische Wahrheit“ nennt? Um diese Fragen geht es in dem „wichtigsten Stück des Ganzen“. Freuds Antworten sind subtil und komplex, und sie führen uns auf die Fundamente der Psychoanalyse. Sie bedürfen allerdings einer Reihe genauer Untersuchungen, die zuweilen auch über Umwege führen können. Doch erst von diesen Umwegen her scheint mir das nötige Licht auf die These zu fallen, die ich aufgestellt habe: daß Freuds Der Mann Moses auf die Fragen antwortet, die im Vorwort zur hebräischen Ausgabe von Totem und Tabu aufgeworfen wurden.

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