Kitabı oku: «Mulaule», sayfa 3
Mittwoch / 10:35 Uhr
Zu Mittag sollte es Schnüsch geben, nach dem Rezept von Helenes Großmutter. Ein Stück geräucherter Speck köchelte bereits in verlässlicher Harmonie mit Lauch und Möhren, in einem Gemisch von Milch und Wasser, in einem Topf. Jetzt schälte sie die Kartoffeln.
Eigentlich galt Schnüsch in Norddeutschland als ein sommerlicher Gemüseeintopf. Aber bei ihr kam das Gericht auch schon mal im Herbst oder sogar im Winter auf den Tisch, dann natürlich mit Gemüse aus dem Tiefkühlfach.
Nicole und Andy waren ebenfalls nie abgeneigt, einen ordentlichen Rest des Eintopfs abends auf der Terrasse vorzufinden; wussten sie doch, dass das Gemüse, jedenfalls im Sommer, aus Herberts Garten kam und deshalb aus rein biologischem Anbau.
Seit er letztes Jahr den beiden, für eine geringe Miete, sein Haus überlassen hatte, kümmerte sich Andy auch um den Gemüsegarten. Somit war für Herbert, gerade in den warmen Monaten, nicht gezwungen täglich mit der Gießkanne bewaffnet nach dem Rechten zu sehen.
Nicole hatte eher weniger mit der Gartenarbeit am Hut. Sie genoss lieber bei einem Glas Rotwein die Sonne auf der Terrasse oder lag im angrenzenden Zengarten.
Sie nannte es: Mit Genuss die innere Mitte finden und war damit ganz bei Herbert, der den Garten vor einigen Jahren, nachdem er von seiner Weltreise zurückgekehrt war, angelegt hatte. Die kleine Oase der Ruhe diente außerdem zu Übungsstunden in Thai Chi oder Yoga, unter seiner fachkundigen Leitung.
Auch Elfi, die Tochter von Josef Richter, nahm oft daran teil. Nicht zuletzt deshalb, weil sie Kraft tanken musste und eine Auszeit brauchte von ihrem betagten, zwar noch rüstigen, aber manchmal anstrengendem Vater, den alle nur Sepp nannten.
Während Helene die Kartoffeln in den Topf legte, gingen ihre Gedanken auf Reisen.
Vor zwei Jahren hätte sie nicht geahnt, dass ihr Leben noch einmal derart ereignisreich und glücklich werden könnte.
Nach dem Tod ihres Ehemanns, eines Polizeibeamten, vor jetzt mehr als 10 Jahren, fühlte sie sich in ihrem Haus ein wenig einsam und beschloss, die oberen Räume zu vermieten. Allerdings wollte sie eine Mieterin, mit der sie sich auch privat verstehen würde, und dachte dabei eher an eine Dame in ihrer Altersgruppe. Doch kaum, dass sie eine Anzeige in die Zeitung gesetzt hatte, meldete sich eine junge Frau, etwa um die 30 Jahre, die ihr sofort sympathisch gewesen war. Als sich dann noch herausstellte, dass es sich um eine Kriminalbeamtin handelte, gab es für Helene keine Zweifel mehr. Sie erfasste es als einen Wink des Schicksals oder sogar wie ein Zeichen von Friedel selbst, der, davon war sie felsenfest überzeugt, wo immer er auch war, auf sie aufpasste.
In den folgenden Jahren entwickelte sich zwischen den beiden Frauen eine innige Verbundenheit – ähnlich einer Mutter-Tochter-Beziehung. Hinzu kam, dass Helene leidenschaftlich gerne Krimis las, und schaute und für sich selbst versuchte, den Täter zu ermitteln.
Freilich sollte Nicole Wegener, von Amts wegen, nicht über ihre Arbeit in einem Mordfall reden. Dennoch fiel die eine oder andere Bemerkung, bei einem köstlichen Abendessen, mit dem Helene fast immer auf sie wartete, oder bei einem Glas Rotwein oder auch einem Whisky. In den meisten Fällen erwies sich ein solcher Gedankenaustausch als fruchtbar und förderte bei Nicole die entsprechende Intuition zur Lösung ihrer aktuellen Ermittlungen.
Und dann trat Herbert Walter in Helenes Leben. Zwar kannten sie sich seit Jahrzehnten, doch wäre keiner von ihnen auf den Gedanken gekommen, dass sie in ihrer zweiten Lebensphase ein Paar würden. Es stellte sich heraus, dass er die gleiche Neugier an den Tag legte, den Dingen auf den Grund zu gehen. Und ebenso gehörte Nervenkitzel zu seinem zweiten Vornamen. Zudem besaß er enorme Kenntnisse im Computer-Bereich und war immer auf dem neuesten Stand, wenn es um Technik und Elektronik ging.
Als die seit Jahrzehnten vergrabenen Leichen auf dem Grundstück gegenüber seinem Haus der Polizei Rätsel aufgaben, konnten sie beide mithelfen, die Tötungsumstände zu klären.
Das Klingeln des Telefons riss Helene aus ihren Träumereien.
Hoffentlich keine schlimmen Nachrichten, bahnte sich der Gedanke seinen Weg durch ihren Kopf, wie stets, wenn Herbert mit dem Auto alleine unterwegs war. Ihrer Meinung nach fuhr er zu schnell; nach seinem Empfinden – die anderen zu langsam. Noch mehr Sorgen machte sie sich, wenn Sepp auf dem Beifahrersitz saß.
Der mittlerweile 92-jährige Josef Richter – von jedem nur Sepp genannt – hatte sich bei einem Sturz auf der Terrasse eine starke Verstauchung im Ellenbogen zugezogen und ein Haarriss im unteren Rückenbereich. Nun musste er regelmäßig zur Bewegungstherapie. Bedeutete: Wassergymnastik im Krankenhaus. Natürlich passte ihm das überhaupt nicht in den Kram. Schon deshalb nicht, weil seine Tochter Elfi unnötigerweise eine neue Badehose gekauft hatte, obwohl es die alte, die in der hintersten Ecke im Schrank vergraben lag, auch noch getan hätte. Er hatte sie doch nur einen Sommer lang getragen, als das Freischwimmbad 1965 eröffnet worden war. Danach hatte er die Badeanstalt nie wieder betreten. Es war ihm dort zu laut, die Sonne zu heiß und das Wasser zu nass.
Während der 10-minütigen Fahrt zu seinem ersten Termin war er deshalb ständig nur am Meckern und Elfi am Ende ihre Kräfte. Also sprang Herbert ein und kutschierte seinen nervtötenden Nachbarn zur Therapie.
Helene trocknete ihre Hände an einem Stück Küchenpapier ab und eilte in den Flur zum Telefon. Entgegen der Annahme, es wäre ihr Herbert, zeigte das Display die Festnetznummer von Bettina und Ferdinand Roth.
Seit dem Mord an der Klostermühle im letzten Jahr und den damit zusammenhängenden unschönen Verwicklungen, waren sich die beiden Paare nähergekommen. Sie gingen öfter zusammen essen oder unternahmen Tagestouren in die nähere Umgebung. Auch hatten sie im Herbst zu viert einen angenehmen Kurzurlaub an der Mosel verbracht.
Bei dem Aufenthalt in einem 4-Sterne-Hotel handelte es sich eigentlich um ein Geburtstagsgeschenk von Herbert an Helene. Schon lange lag sie ihm damit in den Ohren, stieß aber stets auf Taubheit derselben.
Mit fremden, schwitzenden Menschen Backe an Backe auf engstem Raum zu sitzen, ist einfach nur widerlich, betonte er seine Abscheu zum Thema Wellnesshotel.
Umso erstaunter war sie, als am Morgen ihres 73-zigsten Geburtstags ein Gutschein für einen 3-tägigen Aufenthalt in einem Wellness-Hotel auf dem liebevoll gedeckten Frühstückstisch lag und freute sich sehr. Noch mehr, als Bettina und Ferdinand sich spontan anschlossen. Erst später erfuhr sie, dass Herbert zuvor mit den beiden ein Abkommen getroffen hatte.
Die Damen sollten saunieren, während die Herren es sich bei einem Bierchen im angrenzenden Bistrobereich gut gehen ließen. Damit hatte er elegant die Kurve gekriegt, was die Saunagänge betraf.
„Hallo, Bettina?“, rief Helene fröhlich in den Hörer.
„Helene! Hier ist der Ferdi. Kann ich mal mit Herbert sprechen?“
„Herbert ist nicht da. Er fährt den Sepp zur Krankengymnastik.“ Sofort alarmiert, aufgrund von Ferdinands Tonlage, fragte sie: „Ist irgendetwas mit Bettina?“
„Nein, nein. Bettina geht es gut. Mach dir keine Sorgen.“ Einen Augenblick später: „Ich habe eine Leiche gefunden.“
„Eine Leiche?“ Helene setzte sich auf die Garderobenbank. Nach einem tiefen Atemzug fragte sie: „Wo?“
„Unten an der Mulaule.“
In diesem Moment hörte sie den Schlüssel in der Haustür. „Ich glaube, er kommt gerade zurück.
Ferdi ist dran“, wandte sie sich Herbert zu. „Er hat eine Leiche gefunden, unter an der Mulaule.“
„Was? Net dein Ernst?“
Sie reichte den Hörer weiter.
„Ferdi, was ist los?“
In den nächsten Minuten hörte Helene ein: Aha! ... Wirklich? ... Bist du dir sicher? Ach, die Polizei weiß auch schon Bescheid? ... Na klar, wir komme nach em Mittagesse.“
Nachdenklich legte Herbert das Telefon zurück auf die Station und sagte: „Der Ferdi hat an der Mulaule e Leiche gefunde. Wir solle nach em Mittagesse mal zu dene komme.“
In diesem Moment klingelte es erneut.
Mit Blick auf das Display stöhnte er. „Die kann ich jetzt net auch noch ertrage.“
Er drückte Helene den Hörer in die Hand.
„Habt ihr schon gehört“, zwitscherte Gundel durch die Leitung. „Der Ferdinand hat eine Leiche bei der Mulaule gefunden. Ich habe ihm gleich geraten, euch davon zu unterrichten.“
„Ich kann mir vorstellen, dass die Polizei bestimmt mehr daran interessiert ist“, entgegnete Helene.
„Dort war er doch schon. Ich kam gerade aus der Bäckerei gegenüber, weil ich heute Morgen mal Appetit auf frische Brötchen hatte. Ansonsten esse ich morgens ja nur Vollkornbrot; ist ja viel gesünder.“
Nur einen Sekundenbruchteil wartete Gundel auf Zustimmung, dann plapperte sie weiter: „Auf jeden Fall habe ihn aus der Polizeistation kommen gesehen, mit seiner Lizzy auf dem Arm. Die hat er sogar die Treppe runtergetragen. Die Ärmste hat es bestimmt im Kreuz.“
Als auch hierzu keine Reaktion von Helene erfolgte, fuhr sie fort: „Der Ferdinand kam dann auch zur Bäckerei rüber. Ich habe ihn natürlich gleich gefragt, was er so früh bei der Polizei zu suchen hatte.“
„Natürlich“, unterbrach Helene Gundels Redefluss und brachte sie damit kurzfristig aus dem Konzept.
„Eh, ja. Hätte ja sein können, dass bei denen wieder mal eingebrochen wurde oder die Bettina überfallen worden ist.“
„Kommt bei dene auch ständig vor“, murmelte Herbert. Trotzdem er nicht mit Gundel reden wollte, war er doch neugierig und hing dicht am Hörer.
„Was?“
„Nichts“, erwiderte Helene.
„Eh, ja. Was ich eigentlich fragen wollte. Was unternehmen wir jetzt? Ich meine, der Ferdinand wurde doch schon einmal von der Polizei verdächtigt …“
Helene und Herbert hörten Gundel heftig atmen.
„Es ist aber auch schon merkwürdig, dass der ständig Tote findet, meint ihr nicht auch?“
„Von ständig kann ja wohl net die Rede sein“, sprach jetzt Herbert direkt in den Hörer. „Außerdem, wenn einer eine Leiche findet heißt des noch lang net, dass es um ein Verbrechen geht. Kann ja auch en ganz simple Herzinfarkt sein.“
Gundel nickte. „Ja, möglich. Auf jeden Fall werde ich Sepp und Schorsch berichten.“
„Beeil dich aber“, erwiderte Herbert, „bevor die es aus der Zeitung erfahrn.“
„Der Ferdi sagte nicht, dass schon ein Reporter dort gewesen ist“, antwortete Gundel nachdenklich. „Aber ja, du hast recht. Ich muss mich beeilen.“
Gundula Krämer legte auf.
„Wette, dass des heut nix wird, mit de Frühstücksbrötchen bei der Gundel?“ Herbert grinste.
Mittwoch / 11:05 Uhr
Mit Bedacht lenkte Harald den fabrikneuen Dienstwagen über das heikle Pflaster aus teils großen, groben Steinen und vorbei an der Lüschebank, die in die Reste der Stadtmauer eingelassen war.
Wie die Bank zu dem kuriosen Namen kam, erfuhren er und seine Lebenspartnerin Marion Haus von Polizeihauptkommissar Josef Maier, während einer persönlichen Stadtführung.
Nach der Überlieferung warteten in früheren Zeiten, die älteren Fischersleute auf der Bank auf die Rückkehr ihrer Söhne und deren Ausbeute. Dabei erzählten sie ihre ganz eigenen Fang-Geschichten und schmückten diese natürlich aus; bedeutete – es wurde kräftig Fischerlatein gesponnen – also enorm geflunkert.
Selbstverständlich, so versicherte Josef Maier damals zwinkernd, darf dort auch heute immer noch ungestraft gelogen werden. Der Spruch über der Bank lädt ja gerade dazu ein.
Hier kannst du lügen, bis sich die Balken biegen
Ein klein wenig abgeändert würde sich der Satz gut in unseren Verhörräumen machen, überlegte Harald ironisch und fuhr weiter auf dem asphaltierten Mainuferweg zum Fundort der Leiche.
„Unsere Kollegen sind schon fleißig bei der Arbeit“, stellte Nicole fest, als sie sich näherten.
Die beiden Fahrzeuge der Kriminaltechniker parkten auf dem befestigten Weg, direkt neben die Streifenwagen der Seligenstädter Polizei.
„Stell dich hinter die Polizeifahrzeuge“, schlug sie vor. „Man kann nie wissen, wie feucht der Untergrund der Wiese tatsächlich ist. Es wäre ein gefundenes Fressen für unsere Kollegen, wenn wir da nicht mehr rauskämen.“
Gleichzeitig machte Nicole Lars, der direkt hinter ihnen fuhr, ein Zeichen, damit er ebenfalls auf dem Asphalt bleiben sollte – aber zu spät. Er hatte einen neuen Ford Focus ergattert und rollte gerade auf die Mainauen.
Das Gebiet rund um den Turm war durch ein Plastikband abgesperrt. Ebenso die seitlich entlangführende Treppe und der größte Teil der oberen linksseitig angrenzenden Altstadtmauer.
Am Fundort nahmen die Kollegen der Spurensicherung, zusätzlich zu den Aufnahmen mit ihren Spezialkameras, nach althergebrachter Methode, die Abdrücke der Schuhspuren, mithilfe von flüssigem Kunststoff.
Auf dem restlichen Teilstück, oberhalb der Mauer, drängten sich zahlreiche Schaulustige, die die Polizeiaktion mit ihren Handys filmten. Ein Vertreter der Presse witterte ebenfalls eine Sensationsstory und hielt seine Profikamera direkt auf die Beamten.
„Frau Wegener. Hallo, Harald.“ Josef Maier, der Leiter der Seligenstädter Polizeidienststelle, kam auf die Kriminalkommissare zu. „Man glaubt es nicht, schon wieder ein Mord in unserem schönen Städtchen.“
Nicole und Harald nickten grüßend und Lars, der jetzt hinzukam, reichte Maier die Hand. „Josef.“
„Wo genau wurde die Tote gefunden?“, fragte die Kriminalbeamtin.
„Dort oben, direkt an der Ecke des Turms.“ Der Polizeihauptkommissar deutete auf die Stelle zwischen einem mit Graffiti-Tags beschmierten Trafohäuschen und dem Turm. „Er wurde vor etwa 20 Minuten ins Rechtsmedizinische Institut gebracht.“
„Ja, die Kollegen vom Dauerdienst haben mich unterrichtet“, bestätigte Nicole. „Weiß man schon etwas über die Todesursache?“
„Äußere Anzeichen eines gewaltsamen Todes konnte der Notarzt, nach der ersten Beschauung, nicht feststellen. Heißt … keine Strangulations- oder Würgemerkmale und auch keine Einstichwunden. Allerdings zeigten sich erste Todesflecken an den Armen. Demnach könnte das Opfer hierher transportiert worden sein. Dort hinten befindet sich ein Anwohnerparkplatz. Wie ihr seht, haben wir das Gelände ebenfalls weiträumig abgesperrt.“
Maier schaute in die Runde. Letztlich blieb sein Blick an Nicole hängen.
„Meiner bescheidenen Meinung nach denke ich, dass der Fundort nicht der Tatort ist. Selbst bei uns würde es auffallen, wenn ein Mann, in der Tracht einer Frau durch die Straßen spaziert.“
„Habe ich was an den Ohren, oder hast du gerade von einem Mann gesprochen?“, fragte Harald.
Der Dienststellenleiter nickte. „Ja, ein Mann in der Seligenstädter Tracht der Frauen, sagte ich. Wurde euch das nicht mitgeteilt?“
„Nein. Das wussten wir noch nicht.“ Nicoles Stimme war anzumerken, dass sie über die mangelhafte Information seitens des Kollegen vom Kriminaldauerdienst ganz und gar nicht erfreut war.
„Das ist allerdings eine Überraschung“, murmelte Harald und dachte gleichzeitig: Das gibt Ärger.
„Ich höre mal, was die Kollegen der Spurensicherung für uns haben“, verkündete Lars und enteilte mit langen Schritten der zunehmend eisigen Atmosphäre.
„Oh. Da ist wohl etwas schiefgegangen“, äußerte Maier „Tut mir leid, hätte ich Ihnen gleich ...“
„Ist nicht Ihre Schuld“, presste Nicole über ihre Lippen. Das wird ein Nachspiel haben, liebe Kollegen, setzte sie gedanklich nach.
„Es handelt sich um einen etwa 70-jährigen Mann. Bedauerlicherweise hatte er keinen Ausweis oder sonstige Papiere bei sich, anhand dessen wir ihn hätten identifizieren können; auch kein Handy oder sonstige persönliche Dinge.“
Der Leiter der Polizeistation Seligenstadt schaute einen Augenblick, in Gedanken versunken, über die Mainauen und sagte: „Ich denke, der Mann wurde hier bewusst hingelegt, sozusagen zur Schau gestellt. Ich meine ... die Seligenstädter Tracht, sogar die passende Perücke hatte er auf und dann noch die besonders auffällige Schminke. Sehr merkwürdig, das Ganze.“
„Wo bekommt man denn eine solche Tracht her?“, wollte Nicole wissen. „Hat die jedes Mitglied des Trachtenvereins zu Hause im Schrank?“
„Einen Trachtenverein gibt es hier nicht, wohl aber einem Heimatverein, dessen Mitglieder bei Veranstaltungen ihre Tracht zur Schau tragen“, antwortete Maier. „Aber, das wissen Sie ja bereits. Und ja, manch einer wird wohl schon seine eigene Tracht im Schrank hängen haben. Die meisten Kostüme werden im Fundus des Heimatvereins aufbewahrt – schon wegen der fachgerechten Lagerung. Damit, wenn sie alle paar Jahre benötigt werden, in gutem Zustand sind.“
„Wer betreut diesen Fundus?“
„Kann ich Ihnen auf Anhieb nicht sagen. Ich lasse Ihnen Namen und Adresse raussuchen.“
„Gut. Wer hat die Leiche gefunden?“
„Ferdinand Roth. Sie erinnern sich ... letztes Jahr? Das Ehepaar aus dem Klosterhof? Ferdinand Roth und seine Frau Bettina? Sie waren kurzzeitig des Einbruchs in die Klosterapotheke verdächtig und des Mordes an Sebastian König, der in den Mühlrädern zu Tode gekommen war.“
Nicole brauchte keine zwei Sekunden, um sich den Fall erneut vor Augen zu führen.
In wenigen Sätzen gab Josef Maier die Aussage Ferdinand Roths wieder.
„Demnach hat er den Fundort verunreinigt?“, stellte die Kriminalbeamtin verärgert fest.
„Er versicherte mir, dass er wirklich sehr vorsichtig zugange gewesen sei. Außer natürlich, dass seine Schuhabdrücke bei der Leiche zu finden sind.“
„Weshalb rief er nicht gleich die Polizei?“
„Er hatte sein Handy zu Hause gelassen.“
Nicole sah zu den Häusern hoch. „Was ist mit den Bewohnern? Hat irgendwer etwas gesehen oder gehört?“
„Meine Mitarbeiter befragen gerade die Nachbarschaft. Nach Aussage des Notarztes ist der Mann seit ungefähr ...“ Josef Maier schaute auf eine Armbanduhr, „18 Stunden tot, plus minus eine oder zwei Stunden.“
„Also schon gestern am späten Nachmittag, zwischen 17 und 18 Uhr“, rechnete Nicole flugs nach. „Demnach könnten Sie mit Ihrer Annahme recht haben und der Tote wurde irgendwann in der Nacht hierher transportiert. Stellt sich die nächste Frage … wo war er in der Zwischenzeit?“
Lars kam die Treppe am Turm herab. „Die KTU fand Schuhabdrücke im feuchten Erdreich, rund um den Platz wo die Leiche lag und das hier lag zwischen den Rockfalten der Tracht.“
Er hielt eine Plastiktüte hoch, in der sich ein Blatt Papier befand. Nicole nahm die Tüte und drehte sie so, dass sie den Text auf dem Zettel lesen konnte.
Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen
„Was soll das denn?“
„Das ist ein Zitat von Friedrich Nietzsche“, klärte Maier sie auf. „Es wird immer deutlicher, dass die Fundstelle explizit gewählt wurde und wir es hier mit keinem normalen Mord zu tun haben – eher mit einer ganz persönlichen Abrechnung.“
„Sieht ganz so aus“, stimmte Harald zu. „Warum bist du eigentlich nicht bei der Kriminalpolizei?“
„Mir reichen die Krimis im Fernsehen“, erwiderte der Polizeihauptkommissar ernst.
Polizeikommissar Berthold Bachmann und eine jüngere Polizistin mit langen, zu einem Zopf geflochtenen, braunen Haaren bewegten sich auf die Gruppe zu.
Der Unterschied zwischen den beiden hätte nicht größer sein können. Während der 56-Jährige in behäbigem Gang antrabte, näherte sich seine durchtrainierte Kollegin mit federnden Schritten.
„Polizeikommissarin Sarah Senger“, stellte Maier die etwa Mitte 20-Jährige vor.
Berthold Bachmann hob grüßend die Hand. „Hallo“.
Der Anblick der jungen Polizistin zauberte Lars sofort ein begeistertes Lächeln ins Gesicht.
„Hansen, Kripo Offenbach. Meine Chefin, Frau Wegener und Kollege Weinert.“
Seine Hand schnellte nach vorne.
„Angenehm.“ Sarah Senger lächelte kokett zurück. „Also, ich meine, unter diesen Umständen. Aber ist ja euer täglich‘ Brot, wenn ich das mal so sagen darf.“
„Naja, eh ... nicht nur“, beeilte sich Lars, stolpernd zu antworten. „Zum Glück gehört Mord nicht ausschließlich zu unserer täglichen Arbeit. Wir kümmern uns auch um Waffen- und Branddelikte im K11.“
„Sarah, also Frau Senger, möchte später zur Kripo. Vielleicht ist ja bei euch demnächst was frei?“
Bachmann grinste schelmisch. Er hatte sofort bemerkt, dass Lars Hansen mal wieder hin und weg war.
Mit einem Räuspern unterbrach Josef Maier das Geplauder. „Dann legen Sie mal los, Frau Senger. Haben Sie irgendwelche relevanten Zeugen ausfindig machen können?“
„Leider nein. Aus der Seniorenresidenz, dort vorne“, sie zeigte zum Gebäudekomplex für „Betreutes Wohnen“, „kann der Mann nicht sein. Dort ist, nach Angaben der Verwaltung, niemand abgängig.“
„Woher wissen die das so genau?“, grätschte Maier dazwischen. „Werden die Senioren mit der Stechkarte kontrolliert?“
„Das nicht“, lachte Polizeikommissarin Senger und schüttelte den Kopf. „Ich sprach mit einem Pfleger, der täglich ins Haus kommt. Der sagte mir, dass die meisten der Einwohner, nur mit Gehhilfe unterwegs seien, wenn überhaupt. Und mitten in der Nacht, sowieso nicht.“
Josef Maier nickte. „Verstehe.“
„Von den Anwohnern auf dieser Seite“, Sarah Senger machte eine Armbewegung zur linken Seite des Turms, „hat weder irgendwer etwas gehört noch gesehen. Allerdings trafen wir nicht alle Bewohner an, weil manche schon zur Arbeit sind. Sollen wir uns jetzt die rechte Seite vornehmen? Oder wollen Sie selbst ...?“
Die Frage richtete die junge Kommissarin an Nicole.
„Machen Sie ruhig weiter. So voller Eifer die Klinken zu putzen, habe ich bei meinen Mitarbeitern schon lange nicht mehr gesehen.“
„Bin ja auch schon eine Zeitlang bei dem Verein“, gab Harald zu seiner Verteidigung zurück.
„Ich habe schon so viele Türgriffe und Klingel angefasst, dass meine Finger schon keine Papillarlinien mehr aufweisen“, äußerte Lars, grinsend.
„Dann brauchen Sie ja nichts zu befürchten, sollten Sie mal lange Finger machen“, konterte Sarah Senger kess.
„Trotzdem könnte ich euch helfen“, bot Lars sich an.
„Wolltest du dich nicht um die Recherchen kümmern?“, bremste Harald den Einsatzeifer seinen Kollegen.
Josef Maiers Mundwinkel zuckten. „Gut, dann ab mit euch“, forderte er seine Mitarbeiter auf.
„Hier sind die Fotos von dem Toten“, lenkte Harald erneut die Aufmerksamkeit auf sich. „Haben mir die Kollegen gerade aufs iPad geschickt.“
„Sieht echt bizarr aus. Kommt Ihnen der Mann bekannt vor?“, richtete Nicole sich an Josef Maier.
Der schürzte die Lippen und runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht recht, ... mit all der Schminke ...?“
„Ok. Vielleicht fällt es Ihnen ja noch ein. Ich schaue mich oben auf dem Parkplatz um.“
Alles andere hätte Harald und Lars auch gewundert. Nicole machte sich immer gern ihr eigenes Bild, egal was sie an Material von der Spurensicherung erhielt.
Oben angekommen wurde sie von Kriminaloberkommissar Kai Schmitt von der Kriminaltechnik begrüßt.
„Hallo. Schön Sie zu sehen. Seltsam mit dem Zettel, meinen Sie nicht auch? Vielleicht haben Sie es diesmal mit einem poetischen Mörder zu tun.“
„Der fehlt noch in meiner Sammlung.“ Nicole lachte. „Darf ich mich hier etwas umsehen?“
„Na klar“, sagte Kai Schmitt, ging zu seinem Kombi und holte einen weißen Overall hervor. „Aber, nur in dieser scharfen Bekleidung.“
So schnell wie möglich schlüpfte Nicole in den Schutzanzug und spazierte über den Parkplatz. Zwischen den abgestellten Fahrzeugen hatten die Kollegen der Spurensicherung wohl schon alle Gegenstände eingesammelt; jedenfalls sah es sauber aus.
Ob sie auch darunter nachgesehen haben?
Nicole kniete sich auf das harte Pflaster. Sofort fielen ihr eine zusammengequetschte Getränkedose und eine zerknüllte, vermutlich leere Zigarettenschachtel ins Auge und ... ein kleines rotes längliches Objekt. Sie legte sich flach auf den Boden. Nach zwei Versuchen hielt sie einen Lippenstift in der Hand und rappelte sich wieder auf.
Ich muss mehr Sport treiben, stellte sie fest.
„Könnte die Farbe zu unserem Opfer passen?“, sprach sie Kai Schmitt an, drehte den Stift aus dem Gehäuse und reichte ihm das eventuelle Beweisstück.
„Möglich wär’s. Wo haben Sie das gefunden?“
„Unter einem der Fahrzeuge.“
***
So sehr der Mann sich auch bemühte, konnte er nicht verstehen, was dort unten gesprochen wurde. Als der in Zivil gekleidete Beamte seinem Kollegen eine Plastiktüte zeigte, in der sich ein DIN-A4-Blatt befand – das konnte er deutlich erkennen – war er zufrieden. Er hatte genug gesehen und beschloss, sich zurückzuziehen. Die schlanke Polizistin mit den braunen, zu einem Zopf geflochtenen Haaren, kam nun bedrohlich nahe, ihr wollte er keinesfalls über den Weg laufen.
Ausgerechnet sie hier?
So unauffällig wie nur möglich, löste er sich aus dem Pulk der Neugierigen und schlenderte durch die Mohrmühlgasse in Richtung Marktplatz, überquerte diesen und lief durch die enge Sackgasse zur Parkfläche hinter dem Bürgerhaus >zum Riesensaal<. Dort stieg er in einen anthrazitfarbenen Golf und tippte in sein Mobiltelefon.
ALLES KLAR. BIS HEUTE ABEND. VERGISS DAS GELD NICHT.
Von den 5000 Euro, die er erhalten würde, musste er zwar die Hälfte seinem Kumpel abgeben, aber das störte ihn nicht sonderlich.
Die 10 Mille, die er bereits von Hagemann abkassiert hatte, lagen längst sicher in einem Bankschließfach.
Er lächelte und dachte an das Treffen in dem Hanauer Café, als er ihm die Zeitung mit der fetten Schlagzeile auf den Tisch knallte.
Heinz Hagemann – ehemaliger Staatsanwalt – erhält das Bundesverdienstkreuz.
Dann das Gesicht des ehrenwerten Herrn Anklagevertreters, während er ihm sagte, wohin er sich die verdammte Auszeichnung stecken könne, wenn die Öffentlichkeit erfahren würde, was für ein Schwein er in Wirklichkeit war. Wie leicht es doch war, den Mann, der früher mit strengen Worten rücksichtslos Existenzen und Familien zerstörte, mundtot zu machen.
Fast insgesamt 10 Jahre seines Lebens hatte ihm der Hartgesottene geraubt; 1000 Euro pro Jahr, waren da nur gerecht! Im Nachhinein gesehen – eigentlich zu wenig. Dass Hagemann keinen Schimmer hatte, von wem ursprünglich Drohung kam, machte die Sache umso lustiger.
Zuerst wurde er eine Nuance blasser. Dann erklärte er zornig, dass die Öffentlichkeit einem ehemaligen Staatsanwalt wohl mehr Glauben schenken würde, als einem Schwerverbrecher, der sein halbes Leben hinter Gittern verbracht hätte.
Seine Meinung änderte sich schnell, nachdem er das Foto betrachtet hatte, auf dem er – in nicht so vorteilhafter Bekleidung – abgelichtet war. Nun hatte der Alte die Hosen wirklich gestrichen voll. Keine Spur mehr von Überheblichkeit. Die pure Panik starrte aus den dunklen, stechenden kleinen Augen und der stets arrogante Gesichtsausdruck formte sich zu einer vor Angst gelähmten, hässlichen Maske.
Trotzdem kam er, beim Überreichen des Umschlags, mit der lächerlichen Drohung daher: Das war ist eine einmalige Sache. Anschließend trank er seinen Kräutertee.
Der erste Teil des Plans war simpel. Der zweite entwickelte sich dann doch zu einem Problem.
An der Dosis konnte es nicht liegen. Er hatte sich strikt an die Anweisung gehalten. Ein Milligramm Succinylcholin pro Kilogramm Körpergewicht. Der Schätzung nach wog Hagemann 80 Kilo – entsprach also 80 Tropfen; genau passend.
Zwar lief der Alte noch zum Parkdeck, wo er seinen Citroën abgestellt hatte, sackte dort jedoch, bevor er einsteigen konnte, zusammen.
Sicher hätte er ihn einfach liegenlassen können. Aber, dann hätte er die 5000 Euro, die er für den Spezialauftrag erhalten sollte, in den Wind schreiben können.
Hagemann musste zu seinem Date gebracht werden. Das war der eigentliche Auftrag! Den konnte er aber, wie der Versuch den ehemaligen Staatsanwalt in seinen Wagen zu hieven, zeigte, nicht alleine umsetzen.