Kitabı oku: «Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua», sayfa 11
Es scheint relativ zweifelsfrei, daß es in der Spätzeit des römischen Reiches eine diatopische Differenzierung gegeben hatte,230 die Frage, wie stark diese war, ist jedoch schwer zu beantworten, da die Überlieferung rein aus schriftlichen Quellen besteht, bei denen trotz gelegentlich faßbarer Unterschiede letztlich eine möglicherweise zugrundeliegende Differenzierung im Mündlichen durch die mehr oder weniger am Standard ausgerichtete Verschriftung verdeckt wird.
Seidl (2003:522, 524) geht davon aus, daß die dialektale Differenzierung in der Spätzeit des Imperiums zunahm und sich nicht nur, aber vor allem auf lexikalischer Ebene äußerte. Die diatopische Diversifizierung ist dabei einerseits auf die verschiedenen Substratsprachen in den einzelnen Provinzen bzw. Regionen des Reiches zurückzuführen, andererseits auch auf die sprachinhärente Eigendynamik der Diversifizierung.231 Ausgleichend und unifikatorisch hingegen wirkte die Strahlkraft des stadtrömischen Lateins, die urbanitas als high-variety-Modell, welches jedoch im Zuge des Auflösungsprozesses der Völkerwanderungszeit den Prozeß der weiteren Diatopisierung nicht mehr aufhalten konnte (v. supra auch die Dezentralisierung seit Diokletian und die Reichsteilung unter Theodosius). Die germanischen Superstratvölker wirkten insofern doppelt, als sie zum Einen dafür sorgten, daß das römische Reich sich destabilisierte und dann auflöste, was die sprachliche Einheit der Latinophonie zerstörte und andererseits, indem sie selbst das Latein als Sprache adaptierten und damit modifizierten (Superstratwirkung).
Folgt man der Coseriu’schen Terminologie auf der diatopischen Ebene, so gibt es neben den primären und sekundären auch die tertiären Dialekte, oder in germanistischer Tradition, auch Regiolekte (v. supra). Im Gegensatz zu den bei Müller-Lancé (2006:49) nur aus der Konfrontation mit sekundären Dialekten entstandenen regionalen Varietäten, die sich in der Überlieferung als „Akzente“ von Griechen, Kelten oder Nordafrikanern manifestieren, muß man auch hier diachron diversifizieren sowie unterschiedliche Arten der tertiären Dialekte in Betracht ziehen. Dies bedeutet, daß man in einer Frühphase der römischen Geschichte auch tertiäre diatopische Varietäten aus der Konfrontation sowohl mit primären Dialekten des Lateinischen, als auch mit verwandten und unverwandten Nachbaridiomen (z.B. Faliskisch, Etruskisch) postulieren muß, auch wenn dies nicht explizit belegt ist. Zu unterscheiden sind zusätzlich prinzipiell tertiäre Dialekte, deren Basis ein primärer oder sekundärer Dialekt ist oder zumindest eine nah verwandte Sprache, so daß es hier ein Kontinuum an mehr oder weniger zahlreichen sprachlichen Charakteristika geben kann oder, ob die Basis eine wenig bzw. unverwandte Sprache ist, wo eben kein Kontinuum möglich ist (z.B. beim Keltischen, Griechischen oder Etruskischen).
Voraussetzung für die Entstehung eines tertiären Dialekts ist eine entsprechend verbreitete Standardsprache. Dies kann für das römische Reich natürlich nicht in gleicher Weise wie bei modernen normierten Sprachen angenommen werden, doch läßt sich wohl eine gewisse Verbreitung auch in den urbanen Zentren der verschiedenen Provinzen annehmen, in denen eine Oberschicht Träger einer Standard- und Normsprache war und somit zumindest einer gewissen Grad an Verbreitung gewährleistete.
Bei den überlieferten Fällen, in denen die Zeitgenossen eine diatopisch markierte Aussprache festgestellt haben, wäre grundsätzlich natürlich zunächst der Frage nachzugehen, ob es sich hierbei tatsächlich um einen lateinischen Dialekt handelt, also um einen primären oder sekundären oder, ob „nur“ eine regionale Färbung im Sinne eines regiolektalen Merkmals vorliegt.
Betrachtet man nun den vielleicht berühmtesten Fall, nämlich der des aus Hispanien stammenden Kaisers Hadrian (Traianus Hadrianus Augustus, 117–138 n. Chr.), dem in der Historia Augusta eine ländliche Aussprache nachgesagt wird (agrestius pronuntians),232 so ist davon auszugehen, daß es sich hierbei um einen Sprecher aus der provinzialen Oberschicht handelt, mit entsprechendem Bildungshintergrund und einem Bewußtsein für die high-variety des stadtrömischen Lateins. Insofern ist es kaum wahrscheinlich, daß Hadrian tatsächlich Dialektsprecher war – auch unter der Prämisse einer vielleicht nicht allzu starken diatopischen Differenzierung des Lateins zu dieser Zeit –, sondern das eine oder andere regiolektale Merkmal in seiner Aussprache aufwies.
Man kann also letztendlich davon ausgehen, daß das Latein alle Ebenen einer diatopischen Variation aufwies.233 Auch die Römer selbst waren sich dieser Variation bewußt und unterschieden prinzipiell zwischen dem mit hohem Prestige behafteten sermo urbanus, in dem das Ideal der urbanitas, des stadtrömischen Lebens und Sprechens anklingt, welches sich mit elegantia und proprietas auf diaphasischer Ebene kreuzt, und dem sermo rusticus oder auch sermo agrestis, der Redeweise des Umlandes oder der Provinzen, die entsprechend negativ konnotiert war. Sekundär ist das ‚ländliche Sprechen‘ deshalb immer auch diastratisch-diaphasisch als niedrig angesehen worden (cf. Müller-Lancé 2006:52; Reutner 2014:201–202). Lüdtke wiederum sieht die Diatopik des Lateinischen durch die zeitgenössische Kennzeichnung der peregrinitas widergespiegelt, was aber womöglich nur einen Teil der regionalen Abweichungen umfaßt.
Nach der Ausbreitung des Lateinischen in den Provinzen konnen die diatopischen Unterschiede im Ganzen mit peregrinitas benannt werden. […] Der griechische Arzt Galen benennt im 2. nachchristlichen Jahrhundert einen zwei Sprachen sprechenden Mann mit dem Ausdruck diglossos ‚zweisprachig‘. Das ist eine umfassendere Charakterisierung als die römische, die die Situation der Zweisprachigkeit nur als Art und Weise begreift, wie die Nicht-Lateiner Lateinisch sprechen, eben als peregrinitas. (Lüdtke 2019:451)
Die Tatsache, daß das Lateinische als lebendige Sprache, die sich über ein größeres Territorium erstreckte, eine diatopische Differenzierung aufwies, ergibt es letztlich auch daraus, daß sich aus dieser Konstellation die romanischen Sprachen entwickelt haben, die nichts anderes als regionale Varietäten des Lateins sind, die sich im Laufe der Zeit zum Teil relativ weit von ihrer Ursprungssprache entfernt haben. Die bisher strittige Frage ist dabei, zu welchem Zeitpunkt diese Ausdifferenzierung stattgefunden hat bzw. ob es regionale Variation bereits in entsprechender Ausprägung vor der frühromanischen Phase gegeben hat.234
So steht prinzipiell die auch in der traditionellen Klassischen Philologie vertretene These von einer grundsätzlichen Einheitlichkeit des Lateins, die bei Väänänen (1983:481, 490) als thèse unitaire apostrophiert wird, der Ansicht der thèse différentielle (ibid.) gegenüber, die besagt, daß das Latein seit der Kaiserzeit regional variiert oder zumindest deutlich vor 600 n. Chr., wobei dann wiederum die Meinungen zu ‚früher Variation‘ auch von der Auffassung abhängen, was unter ‚Vulgärlatein‘ zu verstehen ist bzw. welche zeitliche Periode dies betrifft (cf. Reutner 2014:201).
Tatsächlich ist die Art der diatopischen Variation – die zweifellos immer Überschneidung mit der diastratischen und diaphasischen aufweist – komplex, wie bereits dargelegt, und wie Adams (2007), der diachronisch geschichtet und nach Regionen gegliedert, zahlreiche Belege zur diatopischen Variation zusammengetragen hat, deutlich zum Ausdruck bringt:
The metalinguistic evidence presented in this book makes nonsense of the unitarian thesis, and the differential thesis as formulated by Väänänen just quoted is itself not satisfactory, because the regional diversity of the language can be traced back at least to 200 BC and was not a new development of the Empire. That is not to say that the Romance languages were in any sense being foreshadowed already in 200 (though we will see some continuities […]). The patterns of local diversity in 200 were not the same as those to be found a millennium or more later, but the essential point is that the language always showed regional as well as social, educational and stylistic variations. The nature of the diversity was not static but went on changing. (Adams 2007:684)
Mit anderen Worten, Latein präsentierte sich von je her als diasystematisch differenzierte Sprache. Dabei ist jedoch in Rechnung zu stellen, daß durch die besondere historische Konstellation der extremen Expansion – die, wie von Seidl (2003:521) errechnet, ursprünglich ein Territorium von weniger als 2500 km² im 5. Jh. v. Chr. abdeckte, welches auf ca. 3 Mio km² in der Kaiserzeit anwuchs – sowie die über tausendjährige Geschichte (soweit faßbar und hier im Fokus) die lateinische Sprache in ihrer Architektur einem starken Wandel unterworfen war, nicht zuletzt auch durch die zahlreichen Sprachkontaktsituationen, Migrationen und den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen.
4.1.2.2 Die diastratische Ebene
Die lateinische Sprache unterlag, wie bereits angedeutet, auch der Variation auf diastratischer Ebene, was sowohl aus metasprachlichen Zeugnissen der Antike als auch an einigen wenigen sprachlichen Charakteristika festgemacht werden kann. Versucht man nun die Diastratik systematisch zu erfassen, so ist zunächst einmal das schichtenspezifische vom gruppenspezifischen Sprechen zu unterscheiden (zur Kritik v. supra), denn im Gegensatz zu den modernen Gesellschaften kann man für die Gesellschaftssituation der römischen Antike durchaus von ausgeprägten Schichten und dem zugehörigen Klassenbewußtsein ausgehen.235
Müller-Lancé (2006:53) geht von einer dreigeteilten Gesellschaft aus, die sich aus rechtelosen Sklaven (servi), den Freigelassenen (liberti) und den freien Bürgern (cives Romani) konstituierte, wobei letztere sich wiederum aus Plebejern und Patrizier zusammensetzten. Plebejer (plebeii, cf. plebs ‚Volk‘) und Patrizier (patricii) waren oft in einem Klientelverhältnis (clientela) gebunden, insofern eine patrizische Familie (gens) ihre politische Macht und gesellschaftliche Stellung durch die Bindung von Gruppen von Plebejern (und anderen Patriziern) zu festigen suchte.
Dies ist allerdings eine Vereinfachung der gesellschaftlichen Realität, die höchstens auf die Zeit der res publica anwendbar ist (plebs vs. nobiles), denn in der Kaiserzeit mit dem Wachsen des Imperiums verändern sich auch die gesellschaftlichen Strukturen. Doch auch schon in der wachsenden Republik differenzierte sich die anfängliche Dichotomie der Frühzeit zwischen Plebejern und Patriziern weiter aus, was zum einen mit der gesellschaftlichen Differenzierung und zum anderen mit den sich ändernden Rechtsverhältnissen zu tun hat – beide Aspekte sind prinzipiell zu trennen.
Die rechtliche Position der Sklaven blieb zwar während der Dauer des Imperiums grundsätzlich die gleiche, sie wurden als Eigentum (res) behandelt und unterlagen der potestas ihres Herrn, doch ihre soziale Stellung und Herkunft konnte dabei erheblich variieren. Auch wenn das Gros womöglich der Unterschicht zuzurechnen war, so ist beispielsweise davon auszugehen, daß die zahlreichen Sklaven, die der familia Caesaris angehörten und in der Verwaltung arbeiteten, teilweise wirtschaftliche Großbetriebe leiteten, als Ärzte oder in der Finanzverwaltung tätig waren, womöglich über Untersklaven (vicarii) geboten, auch über einen entsprechenden Bildungshintergrund verfügten (cf. Christ 2002:351–356). Aus ihrem rein rechtlichen Status, der sich durch Freilassung ja auch ändern konnte, ist deshalb per se noch kein Rückschluß auf ihre Sprache – falls sie überhaupt native speakers des Lateins waren – in diastratischer Hinsicht möglich.
Die Tatsache, daß die Gesellschaftsstruktur durchlässig war, zeigt sich an den Freigelassenen, deren Zahl bereits in der späten Republik hoch war, aber im Prinzipat nochmals anstieg. Die ehemaligen Sklaven wurden nach ihrer manumissio jedoch keine Vollbürger,236 da sie ihrem patronus weiterhin zu obsequium (Bewahrung des Respekt- und Treueverhältnis) und officium (z.B. konkrete operae im Haus bzw. Betrieb) verpflichtet blieben. Ähnlich wie bei den Sklaven sagt die rechtliche Stellung zunächst nichts über den Bildungshintergrund und die ehemalige soziale Schicht vor der Versklavung aus – falls jemand nicht im Sklavenstatus geboren wurde. Nicht wenige jedoch nutzten ihre Freilassung und versuchten, sozial aufzusteigen, zumal ihre Nachkommen dann als Freigeborene (ingenui) römische Vollbürger sein konnten, und standen dabei unter erheblichem Legitimationsdruck, was sie wie bei Juvenal (Saturae I, 26) oder Petron (Satyricon c.71) zum Gegenstand der Satire werden ließ. Hier wird dann der typische Aufstieg vom untersten plebs zum reichen homo novus auch mit den entsprechenden sprachlichen Defiziten parodiert (cf. Christ 2002:367–373).
Die römischen Bürger waren in ihrer Struktur ebenfalls nicht homogen, gab es doch schon in der späten Republik eine zunehmende Differenzierung der gesellschaftlichen Schichten, da die Bürger der nichtaristokratischen Klasse sich nicht mehr nur aus Kleinbauern, Kleinhandwerkern und Kleinhändlern wie in der Frühzeit zusammensetzten. Man unterschied auf dieser Ebene zwischen der plebs urbana und der plebs rustica, was aber nur einen Teil der Realität abbildete, denn einerseits veränderte sich die Wirtschaft und andererseits, mit der Ausdehnung des Bürgerrechtes auf die Bundesgenossen und andere Gruppen, differenzierte sich die Teilhabe an der res publica. Cives Romani wurden nämlich nicht nur die Bewohner Italiens, sondern auch regionale Führungseliten, ehemalige nicht-römische Legionäre, Kolonisten und Angehörige der Municipalaristokratie. Einen eigenen Stand konstituierten im römischen Staat die Senatoren (senatores) sowie die Ritter (equites), auch sie gehörten aber rechtlich zu den Cives Romani, bildeten jedoch aus soziologischer Perspektive die Oberschicht in Rom und belegten entsprechend einem mehr oder weniger bindenden cursus honorum die wichtigsten Ämter im Staat (cf. Christ 2002:378–385).
Den Großteil der Bewohner des römischen Reiches in der Kaiserzeit bildeten jedoch die nichtrömischen, aber freien Provinzbewohner (peregrini), zumindest bis sie 212 n. Chr. durch die Constitutio Antoniniana ebenfalls das römische Bürgerrecht erhielten. Ihre rechtliche Stellung hing (zuvor) auch davon ab, ob sie unter Umständen Bewohner eines römischen municipiums waren, einer colonia Civium Romanorum, einer colonia Latina bzw. eines municipium Latinum, einer civitas foederata (mit foedus aequum oder foedus iniquum), einer civitas sine foedere, einer civitas libera, einer civitas stipendiaria, einer civitas immunis, einer civitas sine suffragio oder einer civitas optimo iure. Das römische Recht bot verschiedene Facetten von gruppen- und personenspezifischen Rechtstellungen, was jedoch nicht immer mit Ansehen, Reichtum und Macht einherging, welche durchaus auch quer dazu verteilt sein konnten (z.B. reiche peregrine Händler in einer Stadt). Eine eigene Oberschicht bildete innerhalb einer Stadt die Munizipalaristokratie, die den ordo decurionum bildete und unter Aufbringung der notwendigen summa honoriaria die Ämter bekleidete (cf. Neue Pauly 1997 II:1224–1225, III:76–84; Christ 2002:373–374, 385–387).
Die Gesellschaftsstruktur im Imperium Romanum ist somit reichlich komplex, erst recht, wenn man die notwendige diachrone Perspektive hinzunimmt und nicht wie Müller-Lancé (2006:54) nur die Zeit der späten Republik betrachtet. Führt man sich die diversifizierte Gesellschaft des römischen Reiches und ihre inhärente Dynamik vor Augen,237 die zudem je nach Region variieren kann (urbane Zentren vs. entlegene rural geprägte Provinzen), so dürfte es wahrscheinlich sei, daß auch die Sprache entsprechend diastratisch ausdifferenziert war. Das Problem, warum nicht nur bei Müller-Lancé (2006), sondern auch bei Reutner (2014) und anderen meist „nur“ die Unterscheidung zwischen sermo plebeius und sermo vulgaris als Substandardvarietäten gegenüber dem sermo urbanus getroffen wird, ist vor allem die dünne Beleglage und reduzierte metasprachliche Dokumentation.
Neben der schichtenspezifischen Diastratik ist auch die gruppenspezifische Diastratik in Betracht zu ziehen, die in der lateinischen Sprache ebenfalls auszumachen war.
La société romaine était dotée d’une vaste gamme de métiers hautement diversifies. Il est naturel que chacun d’entre eux ait dispose d’un technolecte spécifique. (Seidl 2003:525).
Entsprechend der gesellschaftlichen Diversifikation und der Charakteristik bestimmter Gruppen kann man mit Seidl (2003:525) davon ausgehen, daß sich eigene Soziolekte für die unterschiedlichsten (Fach-)Bereiche der Kommunikation wie der Religion, der Landwirtschaft, der Verwaltung, der Rechtsprechung, dem Militärwesen, der Medizin oder der Architektur herausgebildet haben.
Müller-Lancé (2006:53) nennt zwei gruppensprachliche Bereiche, die nicht nur durch spezifische Lexik zu ermitteln sind, sondern die bereits die Zeitgenossen erfaßt und mit entsprechender metasprachlicher Begrifflichkeit gekennzeichnet haben. Dies ist einerseits die Soldatensprache (sermo castrensis bzw. sermo militaris) und andererseits die Sprache der frühen Christen. Beide sind nicht unbedingt schichtenspezifisch, da an diesen Gruppensprachen Personen bzw. Sprecher verschiedenster sozialer Herkunft partizipieren. Den für die christlichen Schriften typischen sermo humilis sieht Müller-Lancé (2006:58) eher diaphasisch als diastratisch.
Aus der Sicht der traditionellen Rhetorik (cf. Cicero, Quintilian) ist dem sicherlich beizupflichten; begreift man jedoch diesen Stil, der sich durch eine Syntax mit vorwiegend parataktischem Satzbau und zahlreichen Gräzismen (sowie einigen Hebraismen) auszeichnet, gerade ab der Spätantike als etwas typisch Christliches, so ist der gruppensprachliche Charakter doch ebenfalls recht deutlich. In diesem Kontext referiert dann sermo humilis zwar vorwiegend auf die medial schriftlichen Texte, könnte aber in einem modernen Verständnis durchaus auch auf die Mündlichkeit angewandt werden, z.B. bei Predigten. Löst man also den Begriff aus seiner frühen Interpretation der rhetorischen Stilebenen und legt man den Schwerpunkt auf die augustinischen Neubelegung (v. infra), so kann man ihn durchaus sinnvoll zur Kennzeichnung diastratischer Gegebenheiten verwenden, ohne der antiken Auffassung entgegenzustehen.238
In Bezug auf die Soldatensprache sind einige Ergänzungen zur Struktur der römischen Armee sinnvoll. Diese war prinzipiell den freien römischen Bürgern vorbehalten, Sklaven und Freigelassene wurden nur im Krisenfall mitherangezogen. Attraktiv war der Militärdienst vor allem als Möglichkeit des sozialen Aufstiegs, auch für Römer, aber in erster Linie für die Provinzialen, die dadurch am Ende der Dienstzeit, die in der Kaiserzeit zwischen 16 und 26 Jahren schwankte (je nach Dienstgrad und Bereich), das Bürgerrecht erwerben konnten. Aus diesem Grund waren Zwangsrekrutierungen eher selten und die im Prinzipat fortbestehende Wehrpflicht aus Zeiten der Republik wurde oft nicht eingefordert, da die Legion ausreichend Sold und Perspektiven bot. Der privilegierte Stand der Senatoren (ordo senatorius) und der der Ritter (ordo equester) besetzten in der Regel die Offiziersämter in der Armee und wechselten häufig, zumindest in den höchsten Rangstufen, d.h. bei den Tribunen (tribuni) und Legionskommandanten (legati). Kontinuität und Verbundenheit mit der Truppe gewährleisteten der meist dem Ritterstand zugehörige Lagerkommandant (praefectus castrorum) sowie die einzelnen Zenturionen (centuriones) und deren ranghöchster, der primus pilus. Es gab in der römischen Armee nicht nur eine vertikale Schichtung nach Dienstgraden, sondern auch eine horizontale nach militärischen Einheiten. So war die überkommene traditionelle Grundeinheit der römischen Wehr die aus Fußsoldaten bestehende Legion (legio), deren 4000–5000 Mann in Kohorten (cohortes), Manipel (manipuli) und Zenturien (centuriae) gegliedert waren. Sie bestand zunächst meist aus Angehörigen der plebs rustica, später dann auch zunehmend aus Provinzialen. Ab der Kaiserzeit wurde das Heer (exercitus) durch Hilfstruppenverbände (auxilia) verstärkt, die mitunter komplett aus ethnisch geschlossenen Einheiten bestanden, mit denen ein Klientelvertrag bestand, die im Laufe der Zeit dann aber durch andere Soldaten ergänzt wurden und nur noch den Namen beibehielten (z.B. cohors II Raetorum).239 Weiterhin gab es Reitereinheiten verschiedener Stärke (ala quingenaria, ala miliaria), gegliedert in turmae sowie gemischte Kavallerie- und Infanterieeinheiten (cohortes equitatae). In der Spätzeit etablierten sich am Limes zudem sogenannte Benfiziarierstationen mit Soldaten (beneficiarii) in Vertrauensstellung und eher polizeidienstlicher Funktion. Nicht den gleichen Stellenwert wie der Dienst in der Legion hatte der in der römischen Flotte, die im Wesentlichen aus Trieren bestand. Neben den Ruderern und Matrosen, die meist aus Provinzialen bestand, gab es die Decksoldaten, einen Kapitän (trierarchus) pro Schiff sowie den Kommandantenn (nauarchos), der über eine Flotilleneinheit (classis) gebot und zunächst oft ein qualifizierter Freigelassene war, später jedoch meist aus dem Ritterstand kam. Die Seestreitkräfte hatten demgemäß eine andere soziale Stratifikation als die Legion. Nicht zu vergessen ist auch, daß die römische Armee auch zahlreiche zivile Dienste verrichtete wie Landvermessung und Baumaßnahmen jeglicher Art (Wasserleitungen, Tunnel, Häfen, Lager), für die technische Spezialisten zur Planung und Ausführung nötig waren (cf. Christ 2002:410–423).
Die römische Armee spiegelt insofern ein Stück weit die komplexe Gesellschaftsstruktur wider, mit verschiedenen sozialen Schichtungen und Gruppierungen, Römern, Provinzialen und foederierten Fremden, war aber dahingehend etwas Besonderes, als sie eine Einheit bildeten mit starker Integrationskraft, ohne deshalb die Pluralität ihrer Partizipanten völlig zu homogenisieren.240
Es ist insofern deshalb wohl anzunehmen, daß die Soldatensprache eine Gruppensprache (cf. diakoinonisch, Kap. 3.1.3) war, an der prinzipiell alle sozialen Schichten partizipierten und dies vor allem anhand einer spezifischen Lexik deutlich wurde, darüberhinaus ist aber zu differenzieren, welchen gesellschaftlichen Status einzelne Subgruppen innerhalb des Militärs innehatten. Dies gilt vor allem bezüglich der höhergestellten Offiziere gegenüber der Masse der Legionäre oder der Hilfstruppen, aber auch innerhalb der einzelnen Einheiten konnten Unterschiede bestehen, wie Müller (2001) dies exemplarisch verdeutlicht:
Der sermo castrensis beispielsweise verband Caesar mit dem einfachen Soldaten der Auxiliartruppe, freilich bei großem Abstand zwischen der hochspezialisierten militärischen Fachdiktion des einen und der banalen kriegshandwerklichen Redeweise des anderen; überlagert wurde jedoch die punktuelle Gemeinsamkeit von der Zugehörigkeit des Aristokraten zum diastratischen Sprachniveau des sermo urbanus und der des unfreien miles zu einer günstigenfalls dem niederen sermo vulgaris zurechenbaren Ausdrucksebene. Das Beispiel macht überdies klar, daß auch Fachsprachen je nach Spezialisierungsgrad der Sprecher in sich gestuft waren (Müller 2001:275).
Bei Müller (2001:274) wird die Soldatensprache aufgrund der spezifischen Begrifflichkeit als Technolekt klassifiziert. Sicherlich sind die militärtechnische Fachtermini prägend, allerdings scheint es aber wohl eher so, daß mit sermo castrensis vor allem auf den Soldatenjargon in der mündlichen Alltagskommunikation abgehoben wird.
Weitere gruppensprachliche Differenzierungen sind die nach Alter sowie diejenige nach Geschlecht. Diese Tatsache, daß es solche diasystematisch erfaßbare Ausdruckweisen im Lateinischen gegeben haben muß, zeigen konkrete Hinweise bei Terenz und metasprachliche Kommentare von Cicero (De orat. III, 45 (12); 2007:330),241 die Rückschlüsse auf ein bestimmtes sprachliches Verhalten bei Frauen zulassen.242 Was das altersspezifische Sprechen anbelangt, so gibt es schon seit langem Studien zur Kindersprache, seit neuerer Zeit auch zur Seniorensprache und anderen Altersgruppen (cf. Müller 2001:275; Willms 2013:230).243
Insgesamt ist demgemäß davon auszugehen, daß das Lateinische als eine Sprache, die von zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen in den verschiedensten Regionen mit unterschiedlich tradierten Gesellschaftsstrukturen gesprochen wurde, im Hinblick auf die diastratische Ebene nicht viel weniger ausdifferenziert war als heutige internationale Standardsprachen. Nicht wenige dieser gruppensprachlichen Merkmale wurden bereits von den Zeitgenossen identifiziert und metasprachlich kommentiert bzw. terminologisch kategorisiert (v. supra). Gerade letzteres gilt zwar nicht für alle gruppensprachlichen Bereiche, dennoch ist deren Existenz mehr als wahrscheinlich.