Kitabı oku: «Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua», sayfa 17
6.1.4 Das Verständnis von Sprache: lingua morta vs. lingua viva
Eng mit der soeben erläuterten Problematik der Barbarenthese verbunden ist die Frage nach der „Lebendigkeit“ des Lateins und des Italienischen bzw. was eine lingua viva ausmacht oder sie von einer lingua morta abgrenzt.339 Dies wiederum berührt im humanistischen Gelehrtendiskurs ein grundsätzliches Verständnis von dem, was unter Sprache zu begreifen sei und wozu sie diene.
Bereits Horaz bringt in der berühmten Passage seiner Ars Poetica die Lebensmetapher in Verbindung zur Sprache, indem er die verba bzw. vocabula mit dem Werden und Vergehen der Blätter an einem Baum vergleicht.340 Auch in der Sprachreflexion der Humanisten seit Dante wird der Sprachwandel thematisiert und dabei mitunter auch indirekt die Lebendigkeit einer Sprache bzw. deren Inexistenz zum Gegenstand der Betrachtung gemacht, doch erstmals expliziter findet sich das Konzept vom Leben und Tod einer Sprache bei Tolomei, am deutlichsten formuliert in seinem Cesano (1555) (cf. Faithfull 1953:279–281).341
Non di meno a me non par giusta cosa lassiarci dalle costoro inique mani ingiuriosamente percuotere, e la nostra lingua, nel più bel fior de gli anni suoi, quando che ella più viva si mostra, per morta seppellire. (Tolomei Ces., 50v (27); 1996:43)
In engem freundschaftlichen Kontakt mit Tolomei stand Alessandro Citolini (ca. 1500–1582), der jenem auch in seinen gelehrten Betrachtungen wohl einiges verdankt. In seiner 1540 erschienenen Lettera in difesa della lingua volgare342 wendet er schließlich das Konzept der lingua viva vs. lingua morta auf die beiden in der questione konkurrierenden Sprachen Latein und Italienisch (volgare) an (cf. Faithfull 1953:280–282).
l’altro error’è; che essi parlano di queste due lingue, come s’elle fussero in un medesimo termine: e’ non s’aveggono; che la latina è morta, e’ sepolta ne libri; e’ che la volgare è viva; e’ tiene hora in Italia quel medesimo luogo; che tenne la latina, mentre visse. (Citolini 1540, Lettera, 6–7 (B-B2) [unpaginiert])
Hierbei versteht Citolini unter einer toten Sprache nicht – genausowenig wie wir heute343 – unbedingt eine völlig ausgelöschte Sprache, von der keine Spuren mehr existieren, wie es beispielsweise Castiglione für das Oskische annahm („della lingua Osca non avemo più notizia alcuna“; Castiglione, Corteg. XXXVI.; 1964:145), sondern eine, die sepolta in libri (v. supra) ist, d.h. nur über ihre Schriftlichkeit zugänglich. Lebendig hingegen ist eine Sprache, die man auch spricht oder wie Citolini (1540, Lettera, 7 (B2) [unpaginiert]) es formuliert: „ella è viva; e’ come viva crescie, genera, crea, produce, partorisce, e’ sempre si fà piu ricca, e’ piu abondante“. Im Folgenden wird dieses Konzept von verschiedenen Gelehrten aufgegriffen und konstituiert sich als ein Teil der questione della lingua.
Die elaborierteste Version findet sich schließlich bei Varchi in seinem Ercolano, der die den lingue vive entgegengesetzte Kategorie der lingue non vive in lingue morte affatto und lingue mezze vive aufschlüsselt, weil ihm klar wird, daß die bestehende Dichotomie die Realität nicht ausreichend abbildet. Dabei bettet er diese Unterteilung in eine Gesamtklassifikation der Sprachen ein, die durch zahlreiche Oppositionen gegliedert ist. Neben der Kategorie der ‚Lebendigkeit‘, d.h. den lingue vive (bzw. non vive), gibt es lingue originali (bzw. non originali), lingue articolate (bzw. non articolate), lingue nobili (bzw. non nobili) und lingue natie, o proprie, o nostrali (bzw. non natie, o aliene, o forestiere) (cf. Marazzini 1993a:271).
Er stellt dabei eine Sprachtypologie auf, die verschiedenen Kriterien gehorcht, die aus heutiger Perspektive mit Begrifflichkeiten wie Sprachtod, Migration, Verschriftlichung, Ausbaugrad, sprachgenetischer Verwandtschaftsgrad, sprachlicher Abstand oder Grad an Interferenz beschrieben werden können.
Abb. 7: Klassifikation der Sprachen bei Varchi (1804 I:214)
Für Varchi (Ercol., 1804 I: 207–214) sind Sprachen, die er unter originali einordnet, autochthone, d.h. solche, die nicht durch die Migration von Völkern in eine Region kamen (Latein, Griechisch);344 eine lingua articolata ist eine verschriftete Sprache und eine non articolata entsprechend eine nur mündlich gebrauchte (z.B. die der Brettoni Brettonanti). Als lingue nobili betrachtet er neben dem Latein und dem Griechischen selbstredend das Italienische, welches in dieser prestigeträchtigen Reihung – so ist unschwer herauszulesen – eine Aufwertung erfahren soll; Kriterium ist dabei eine Literatur, die zahlreiche Gattungen abdeckt.345 Unter einer lingua morta affatto versteht er eine ausgestorbene Sprache wie beispielsweise das Etruskische und eine lingua mezza viva ist für ihn eine Sprache, die man nicht mehr spricht, aber noch schreibt, was prototypischerweise für das Lateinische oder (Alt)Griechische zutrifft.346
Bezüglich der lingue forestiere (bzw. non natie, aliene)347 trifft er zusätzlich noch die Unterscheidung zwischen altre und diverse, wobei innerhalb der altre (z.B. (la lingua) Turca, Inghilese, Tedesca) noch unterschieden wird zwischen semplicemente altre, d.h. solchen die für einen Toskanischsprecher komplett unverständlich sind wie das Indische oder Arabische (großer sprachlicher Abstand bzw. genetisch kaum verwandt), und den non semplicemente altre, welche zwar ebenso unverständlich sind, aber in einer gewissen Beziehung zum Toskanischen stehen (Entlehnungen, Interferenzen), wie es bei Latein und Griechisch der Fall sei.
Bei den lingue diverse wiederum differenziert er nochmals in diverse uguali, wobei er als Beispiel die griechischen Dialekte (z.B. (la lingua) Attica, Dorica, Eolica, Gionica) anführt, die untereinander verständlich seien und alle als gleichberechtigt ausgebaute Schriftsprachen fungierten, und in diverse diseguali mit dem Beispiel der italienischen Dialekte (z.B. (la lingua) Bergamasca, Vicentina, Padovana, Viniziana), die ebenfalls eine gegenseitige Verständigung gewährleisten würden, aber in Bezug auf den Ausbaugrad hinter dem Toskanischen zurückblieben.348
Varchi trifft also nicht nur eine präzisere Unterscheidung hinsichtlich der Frage nach der Lebendigkeit der Sprachen, er bettet diese auch ein in ein allgemeines System der Kategorisierung von Sprachen an sich (Kap. Divisione, e dichiarazione delle lingue, Varchi, Ercol., 1804 I:207), wobei die zugrundeliegenden Kriterien aus heutiger Sicht zwar prinzipiell valide sind – deshalb hier auch in moderner Terminologie gekennzeichnet (nicht so bei Marazzini 1993a) – jedoch stark heterogen. Hinzu kommt, daß bei ihm diese Klassifikation nur ein Teil weiterer metasprachlicher Fragestellungen ist, die alle eng miteinander verknüpft sind, darunter auch die bereits angesprochene Diskussion um alteratio und generatio (v. supra), aber auch eine so grundlegende Problematik wie Che cosa sia favellare (Varchi, Ercol., 1804 I:47), Che cosa sia lingua (ibid. 1804 I:196) und Che si conoscono le lingue (ibid. 1804 I:202). Dabei ist für ihn die Verständlichkeit untereinander bzw. die Möglichkeit zur Kommunikation das entscheidende Kriterium. Zudem unterscheidet er zwischen favellare bzw. favella, welches einerseits die individuelle Sprache des einzelnen sein kann (langue individuelle) und andererseits das menschliche Sprechen per se bzw. die Sprachfertigkeit (langage) sowie lingua, was die Sprache einer Sprachgemeinschaft bezeichnet (langue).349
Il parlare, ovvero favellare umano esteriore non è altro che manifestare ad alcuno i concetti dell’animo mediante le parole. (Varchi, Ercol.; 1804 I:48)
Lingua, ovvero Linguaggio, non è altro che un favellare d’uno, o più popoli, il quale, o i quali usano, nello sprimere i loro concetti, i medesimi vocaboli nelle medesime significazioni, e co’ medesimi accidenti. (Varchi, Ercol.; 1804 I:196)
Le lingue si conoscono da due cose, dal favellarle, e dall’intenderle. (Varchi, Ercol.; 1804 I:202)
Das Begreifen, was Sprache ausmacht, in welcher Relation einzelne Sprachen zueinander stehen, wie sie sich gegenseitig beeinflussen, welchen Status sie haben und wofür sie verwendet werden bzw. bei welcher Gelegenheit, sind wichtige Grundparameter für das allgemeine Verständnis, wie Sprache funktioniert, ein Verstehen, welches sich in der Renaissance durch die verstärkte Beschäftigung mit der (eigenen) Sprache erst langsam herausbildet.350
Exemplarisch zeigt sich bei Varchi dabei auch sehr deutlich die Verknüpfung mit den verschiedenen einzelnen Fragestellungen, die Teil der questione im weitesten Sinne sind, bzw. wie unterschiedliche Einzelkontroversen im Rahmen einer bestimmten Argumentation eingebettet sind und wie all dies Teil einer Epoche ist, in der die metasprachliche Reflexion einen großen Stellenwert einnimmt.
Die obigen Ausführungen haben deutlich gemacht, inwieweit sich die vorliegende Fragestellung nach der Sichtweise der Renaissance-Gelehrten auf die Sprachkonstellation der römischen Antike und dem Beginn eines Verständnisses dessen, was wir heute mit Vulgärlatein bezeichnen, in die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge einfügt. Dabei sei in erster Linie nochmals auf die Voraussetzungen des epochalen Neubeginns durch die Bewegungen des Humanismus und der Renaissance verwiesen, die nicht nur das verstärkte Interesse an Geschichte begründeten, sondern vor allem das Bewußtsein für Historizität schufen. Vor dem Hintergrund der spezifischen Konstellationen in Italien entstand zudem eine Kontroverse, die heutzutage als questione della lingua faßbar gemacht wird, realiter aber aus verschiedenen Sprachenfragen bestand, die wiederum eng mit den Bewegungen des Latein- und Vulgärhumanismus verknüpft waren. Innerhalb dieser questione – wenn man diese in sensu largo begreift – oder auch davon unabhängig zu betrachten und dennoch nicht ganz losgelöst, fanden verschiedene Teildebatten der Sprachreflexion statt, worunter insbesondere die um die Entstehung des volgare und diejenige bezüglich der Lebendigkeit einer Sprache einen integraler Bestandteil der hier fokussierten Fragestellung nach der antiken Sprachsituation darstellten.
6.1.5 Die Sprachauffassung im Mittelalter
Im Folgenden soll ein kurzer Abriß zum sprachtheoretischen Denken im Mittelalter, einigen Schlüsselbegriffen und den Bildungsinstitutionen gegeben werden, was als Hintergrundfolie für die sich dann in der Renaissance bzw. im Humanismus entwickelnde Neuerungen dienen soll. Die Kontinuität des mittelalterlichen Denkens ist insbesondere bei Dante sichtbar (cf. Kap. 6.2.2), der an der Epochenschwelle steht, aber auch bei vielen Humanisten des 15. und 16. Jhs., die in dieser Tradition ausgebildet wurden (cf. Kap. 6.2.3–6.2.18).
Die Sprachauffassung des Mittelalters, also jener Epoche, von der sich die Humanisten abgrenzen wollten (cf. media tempestas), ist vor allem durch den schulischen und dann auch universitären Betrieb geprägt, weshalb man sowohl bezüglich der Sprachtheorie als auch ganz allgemein hinsichtlich der philosophisch-theologischen Denkansätze von der Scholastik (cf. lat. schola, scola) spricht.351 Man kann demgemäß die philosophischen Kontroversen dieser Zeit, zu denen auch solche über die Sprache gehören, nicht ohne den institutionellen Rahmen betrachten. Die Ausbildung lag dabei ausschließlich in klerikaler Hand, denn die Elementarschulen, d.h. die Klosterschulen und die sogenannten Kathedral- oder Domschulen der Domkapiteln waren kirchliche Einrichtungen, in denen einerseits der Klerikernachwuchs ausgebildet wurde, andererseits auch die Söhne (nur zum Teil die Töchter, cf. Frauenklöster) der bürgerlichen Oberschicht und des Adels.352 Im frühen Mittelalter dominierten die Klosterschulen als Kernzellen des tradierten Wissens und der Ausbildung, ab dem 11./12. Jh. gewannen demgegenüber die bischöflichen Schulen an Bedeutung, d.h. die Kathedral- und Domschulen, aus denen dann oft auch Universitäten hervorgingen.353 In größeren Pfarreien wurde vor allem ab dem 13. Jh. (cf. Beschluß des IV. Laterankonzils von 1215) ebenfalls Schulunterricht erteilt, was insbesondere in den Städten von Bedeutung wurde, insofern dort Pfarrschulen entstanden, für die dann ein städtisch besoldeter Schulmeister eingestellt wurde. In diesen Lateinschulen erhielten auch solche Bürgersöhne eine Ausbildung, die später in Handel und Gewerbe tätig waren, in der kommunalen Jurisdiktion, Politik und Verwaltung, also überall dort, wo Grundkenntnisse des Lesens und Schreibens erforderlich wurden. Die Lese- und Schreibfähigkeit weitete sich somit vom Klerikerstand und Feudaladel auf das städtische Patriziat, auf Kaufleute und schließlich auch auf Handwerker aus (cf. Gauger 1994:75; Volkert 2004:235–236, s.v. Schule; Müller 2015:164–165).
Die Kathedral- bzw. Domschulen unter der Leitung eines Domscholasters (scholasticus) und die Kloster- oder Stiftsschulen waren oft auch im Besitz von Bibliotheken, zum Teil mit zugehörigen Skriptorien, in denen die Handschriften und Bücher aufbewahrt und tradiert wurden (cf. Flasch 2013:157–170). Hier wurde das überlieferte Wissen der Antike bewahrt, wenn auch oft nur kompiliert und selektiert nach christlichen Interessensschwerpunkten.
Die europäischen Universitäten entstanden ebenfalls aus der Tradition der frühmittelalterlichen Klosterschulen sowie der dann später für die höhere Ausbildung wichtigeren Dom- und Kathedralschulen. Die ersten beiden Universitäten, Bologna (1155/1252)354 und Paris (1215/1231) entstanden um 1200 in urbanen Zentren, die für die Kurie in Rom wichtig für die Verbreitung der päpstlichen Theologie waren, bevor weitere Gründungen nach demselben Modell in ganz Europa folgten.355 Bologna entwickelte sich seit dem frühen 11. Jh. zu einem Zentrum der Auseinandersetzungen einerseits der Emanzipationsbestrebungen des städtischen Patriziats dem herrschenden Adel gegenüber und andererseits des Kaisertums mit dem Papst. Diese Konflikte, die oft Rechtskontroversen waren, in denen verschiedene Rechtsauffassungen und -traditionen miteinander konkurrierten (cf. kanonisches Recht, Kaiserrecht, kommunales Recht) begünstigten die Entstehung von Rechtsschulen, die bald großen Zulauf erhielten und deren Prestige sich bis jenseits der Alpen verbreitete (cf. Bononia docet). Die zahlreichen Studenten (lat. scholares) aus dem In- und Ausland, die in regionalen bzw. landsmannschaftlichen Verbänden (lat. nationes) organisiert waren – in eine universitas ultramontanorum und universitas citramontanorum (cf. Grundmann 1976:47) –, brachten nicht nur Geld in die Stadt, sondern stellten auch ein gesellschaftliches und ordnungspolitisches Problem dar. Durch die Intervention des Kaisers, der die Scholaren vor der kommunalen Gerichtsbarkeit in Schutz nahm, gelang es ihnen, sich selbst effektiver in den nationes übergeordneten Schwurgemeinschaften zu organisieren (coniurationes, universitates). Auf diese Weise entstand in Bologna eine italienische und eine außeritalienische Rechtsuniversität sowie eine Artisten- und Medizinuniversität. Die Lehrer, d.h. die Magister (lat. magistri) und Doktoren (lat. doctores), schlossen sich ebenfalls übergreifend sowie fachlich spezifisch zusammen (cf. z.B. collegium doctorum). Grundlegende Vereinbarungen, die die universitas nach und festigten und die auch den potentiellen Konflikt der studentischen Organisationen mit der Stadt beilegen sollten, stellten dann das 1155 von Kaiser Friedrich I. Barbarossa (Kg. 1152–1190, Ks. ab 1155) gewährte Scholarenprivileg (authentica habita) dar,356 die Universitätsstatuten von 1252 und die 1274 sowie 1290 vom Papst gewährten Rechte (cf. libertas scholastica bzw. libertas scholarium), worunter u.a. das Recht auf Selbstorganisation und Selbstverwaltung, das Recht Prüfungen abzuhalten und Titel zu vergeben, fiel. Die Kommune, die aus dem Standortvorteil eines allgemeinen Bildungszentrums ökonomisch und prestigemäßig profitierte, verpflichte sich im Gegenzug zur Besoldung der Professoren (cf. Verger 1993:60–61; Weber 2002:16–18).
In Paris war die Situation ein wenig anders gelagert. Hier hatte sich durch zahlreiche in der Stadt vertretene kirchliche Orden und verschiedene Partikularinteressen (des Bischofs, der Kommune) eine wichtige theologische Schul- und Lehrtradition entwickelt, insbesondere ausgehend von der Kathedralschule von Notre-Dame, so daß auch hier eine Vielzahl von Scholaren und Magister von dem renommierten Bildungsangebot angezogen wurden, mit einem ähnlichen Effekt wie in Bologna, nämlich daß die Versorgung der zugezogenen Studenten (Kost und Logis) zum Problem wurde, aber auch die aus Sicht der Obrigkeit nicht duldbare Proliferation der theologischen Denkansätze. Auch hier kam es dann um 1200 zu einer Vereinigung der bisherigen Bruderschaften (corporationes, sodalitates) zu einer universitas.357 Diese Gründung – nur eine einzige im Gegensatz zu Bologna – wurde vor dem Hintergrund von schwelenden Konflikten mit Papst, Bischof, Kommune und König in einem päpstlichen Statut 1215 und der Bulle von 1231 bestätigt und mit entsprechenden Organisationsformen (cf. z.B. concilium generale) und Rechten ausgestattet, darunter ab 1233 auch das Privileg für die Magister überall in Europa lehren zu dürfen (cf. licentia ubique docendi). Während die Universität von Bologna primär eine der Rechte war, lag der Schwerpunkt der Pariser Universität auf der Theologie. Entsprechend ihrer jeweiligen Gründungsgeschichte und der damit einhergehenden Organisationsform spricht man bezüglich der frühen europäischen Universitäten auch vom modus Bononiensis (‚Studenten-Universität‘) und dem modus Parisiensis (‚Professoren-Universität‘) (cf. Weber 2002:19–21; Schupp 2003:315–316; Müller 2015:165–167).
In der Folgezeit (13./14. Jh.) entstanden Ableger dieser Ur-Universitäten oder eigenständige Neugründungen, zunächst mit eindeutigem Schwerpunkt auf den Mittelmeerländern (v. infra). Nach der ersten Gründungswelle – eine Zäsur wäre das Große Abendländischen Schisma (1378–1417), da dies eine Lockerung der päpstlichen Kontrolle zur Folge hatte – mit ca. 30 Universitäten bis Ende des 14. Jhs. erfolgte eine zweite, die vor allem auch Mittel- und Nordeuropa erfasste (z.B. Würzburg 1402, Leipzig 1409, Freiburg i.Br. 1457, Basel 1459, Glasgow 1451, Uppsala 1477, Kopenhagen 1479), so daß es um 1500 bereits knapp 70 Universitäten gab (cf. Verger 1993:65–66; Weber 2002:22–23, 79–80; Müller 2015:166–167):
Italien: z.B. Vicenza (1204), Arezzo (1215/1355), Padua (1222), Neapel (1224), Vercelli (1228), Salerno (1231), Siena (1245/1357), Piacenza (1248), röm. Kurie (1245), Rom (1303), Perugia (1308), Treviso (1318), Pisa (1343), Florenz (1349), Pavia (1361), Ferrara (1391/1394)
Frankreich: z.B. Montpellier (1220), Toulouse (1234), Orléans (ca. 1235/1306), Angers (ca. 1250), Avignon (1303), Cahors (1332), Grenoble (1339), Perpignan (1350), Orange (1365)
England: z.B. Oxford (1214), Cambridge (1225)
Spanien: z.B. Palencia (1208), Salamanca (1219/1254), Sevilla (1254), Valladolid (ca. 1290), Lérida (1300), Huesca (1354)
Portugal: z.B. Lissabon (ca. 1288/1290), Coimbra (1308)
Deutsche Herrschaftsräume: z.B. Prag (1348), Wien (1365), Erfurt (1379), Heidelberg (1385), Köln (1388)
Ungarn: z.B. Pécs (1367), Buda (1395)
Polen: z.B. Krakau (1364)
Was Struktur und Inhalt der Universitäten anbelangt, die als Anstalten auch studium generale hießen, so mußten die nach Regionen und Bildungsschichten erfaßten Studenten (cf. scholares nobiles, scholares divites, scholares pauperes) als Grundstudium zunächst die septem artes liberales absolvieren. Diese seit der Antike überlieferten und von den frühchristlichen Autoren angepaßten Grundwissenschaften, die sich in das Trivium (Grammatik, Dialektik bzw. Logik, Rhetorik) und das Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik) gliederten, bildeten das Fundament einer jeden Ausbildung (cf. Artistenfakultät), bevor die Scholaren sich den verschiedenen höheren Fachbereichen (lat. facultates), d.h. der Theologie,358 der Jurisprudenz oder der Medizin, zuwandten.359 Prinzipiell gab es verschiedene Abschlüsse mit Titeln, die im Rahmen des Studiums möglich waren: Baccalaureus, Lizenziat, Magister, Doktor. Die angewandten Wissensbereiche, die artes mechanicae, waren an den Universitäten nicht vertreten. Diese wurden z.B. von Johannes Scotus Eriugena oder Hugo von St. Viktor als ebenfalls sieben Künste kategorisiert, wenn auch je unterschiedlich.360 Für letzteren galten die mechanischen Künste zwar nicht als eigentliche Kunst (ars), jedoch als Wissenschaft (scientia), da auch zu ihnen ein theoretisches Hintergrundwissen gehöre. Eine breitere Wertschätzung erfuhren diese handwerklichen Künste und der mechanicus allerdings erst in der Renaissance, u.a. durch Leonardo da Vinci oder Leon Battista Alberti, die durch ihre Ingenieurs- und Baumeisterkunst zur Aufwertung dieser Metiers beitrugen (cf. Curtius 1993:64, § 6; Weber 2002:32–37; Müller 2015:177–179).
Die in der schulischen und universitären Lehre so zentralen artes liberales,361 deren oben genannte Einteilung auf den Enzyklopädisten Martianus Capella (5. Jh.) (cf. De nuptiis Mercurii et Philologiae), der ars als ‚Lehrfach‘ oder ‚Disziplin‘ verstand, und den Historiographen und Enzyklopädisten Magnus Aurelius Cassiodorus (ca. 485–580) (cf. Institutiones divinarum et saecularium litterarum) zurückgeht, seien auch nochmal begrifflich definiert (Flasch 2013:154–155; Regenbogen/Meyer 2013:67, s.v. artes liberales):
ars, lat. ‚die durch Übung erlangte Fertigkeit‘, die Kunde, im engeren Sinne die Kunst, d.h. der Umfang des Könnens und der Kenntnisse, derer es bedarf, um ein Handwerk (artes mechanicae, artes vulgares), eine künstlerische Tätigkeit oder Wissenschaften (artes liberales) mit Erfolg auszuüben. Die spätantiken, stoischen artes […] und scientiae (Wissenschaften) umfaßten den praktischen und theoretischen Gehalt der artes liberales, deren Beherrschung in ihrer Gesamtheit dem Erwerb von sapientia (Weisheit) dienen sollte. (Regenbogen/Meyer 2013:65–66, s.v. ars)
In der mittelalterlichen Bildungslehre speist sich die Auffassung von den artes zum einen aus der patristischen Tradition (cf. v.a. Augustinus, Cassiodor) und zum anderen aus einer weltlich-schulmäßigen (cf. z.B. Thierry von Chartres (ca. 1085–1155)), in der der Ursprung der artes nicht in der göttlichen Weisheit und der heiligen Schrift verortet wurde, sondern in der Natur oder bei heidnischen Göttern. In jedem Fall bildeten die artes im mittelalterlichen Bildungs- und Wissenskosmos bis zum 12. Jh. die „Fundamentalordnung des Geistes“ (Curtius 1993:52, § 2). An den Universitäten wurden sie dann einerseits zum Propädeutikum der weiterführenden theologischen Studien, andererseits wuchs auch die Philosophie – so die Gleichsetzung mit den artes, deren naturwissenschaftlicher Anteil untergeordnet wurde – aus diesem engen Korsett hinaus, wie Thomas von Aquin konstatiert (cf. Curtius 1993:49–52, § 2):
Ad tertium dicendum quod septem artes liberales non sufficienter dividunt philosophiam theoricam, sed ideo, ut dicit Hugo de sancto Victore in III sui Didascalicon, praetermissis quibusdam aliis septem connumerantur, quia his primum erudiebantur, qui philosophiam discere volebant […]. (Thomas von Aquin, Boeth. De trin. q5, a1, ad3; 2007:68)
Aus den an den Universitäten sich konstituierenden Lehrtraditionen entwickelte sich die philosophische bzw. im engeren Sinne theologische Methode der Scholastik, die in Abgrenzung vom folgenden Humanismus ab dem 18. Jh. namensgebend für diese geistesgeschichtliche Epoche wurde und die geprägt ist durch die Rezeption der Schriften des Aristoteles (soweit bekannt, v. infra), der zum Philosophen schlechthin avancierte und mannigfach kommentiert wurde, sowie durch ihr geschlossenes Lehrgebäude, der Summe des Wissens, innerhalb dessen nach festen Regeln disputiert wurde (v. infra), wie beispielsweise im berühmten Universalienstreit (Realismus vs. Nominalismus) (cf. Regenbogen/Meyer 2013:585–686, s.v. Scholastik, scholastische Methode).
Der universitäre Unterricht war in seinem Ablauf streng gegliedert; es gab die Vorlesung (lectio)362 und das Lehr- und Streitgespräch (disputatio). In den Vorlesungen, die manchmal auch reine Diktiervorlesungen (pronunciationes) waren, wurden die kanonisierten Schriften gelesen, wobei man formell in der Rangordnung bezüglich libri ordinarii und libri extraordinarii unterschied; die Studenten machten sich dazu Notizen (reportationes). In den lectiones wurde eine Lehr- und Leitfrage (quaestio) gestellt, die man nach einer genauen Abfolge durch ein Argumentationsverfahren mit mehreren (studentischen) Teilnehmern (opponentes) in verschiedenen Antworten (respondentes) zu lösen versuchte. Dazu wurden zudem die Meinungen der Autoritäten befragt (sententiae auctorum), d.h. die Bibel, die Kirchenväter und andere christliche Denker, die gegebenenfalls den Argumenten der heidnischen Philosophen gegenübergestellt wurden. Der Magister präsentierte schließlich die kirchlich sanktionierte korrekte Lösung (determinatio), in der die widersprüchlichen Standpunkte miteinander versöhnt wurden (concordantia catholica). Ergänzt wurde dies durch weitere Übungen (exercitationes) und Wiederholungen (repetitiones, resumptiones). Das präsentierte Wissen kann als Offenbarungswissen bezeichnet werden, eine in sich abgeschlossene Lehre (doctrina sacra), innerhalb derer man bestimmte Prämissen definierte und eine Beweisführung nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip zu erbringen hatte, und zwar zu bestimmten Phänomenen, die man versuchte in der göttlichen Ordnung durch Analogie- und Vergleichsschlüsse zu verankern (cf. Weber 2002:38–41; Schupp 2003: 315–320; Regenbogen/Meyer 2013:586, s.v. scholastische Methode).
Aus den hochformalisierten Abläufen des Unterrichts und der Disputationen mit dem Abwägen von Gründen, begrifflichen Definitionen (distinctiones) sowie den syllogistischen Schlüssen (conclusiones, solutiones) entwickelten sich auch bestimmte wissenschaftliche Literaturformen: die Summen (summae), die Kommentare (commentarii), d.h. die Literalkommentare, bei denen Zeile für Zeile kommentiert wird (zu lat. littera ‚Buchstabe‘) und die die frühmittelalterlichen Glossen, Marginalien und Scholien ablösten, sowie die Quaestionenkommentare oder Problemerörterungen (quaestiones disputatae, quaestiones quodlibetales), bei denen eine Disputation mit Pro und Contra nach strengem Schema stattfindet (cf. Gombocz 1992:57). Die Scholastik war eine Epoche, in der vor allem Wissen bewahrt wurde bzw. man setzte sich mit dem tradierten Wissen auseinander und kommentierte es. Daraus resultieren die zahlreichen Zusammenfassungen (z.T. sehr umfangreich mit Enzyklopädie- oder Handbuchcharakter),363 Zitatensammlungen (Florilegien) und Kommentare zu den anerkannten Autoritäten wie vor allem der Bibel und den maßgeblichen kirchlichen Denkern wie Augustinus sowie zu den kanonisierten antiken Philosophen, allen voran Aristoteles, der die scholastische Methode prägte. Dort, wo die Philosophen und Theologen sich widersprachen, arbeitete man rational und formallogisch, d.h. dialektisch, mit Syllogismen. (cf. Hirschberger 1961: 70–71). Auf diese Weise erklärt es sich, daß die „scholastische Form der Rationalität […] einen alle Wissensgebiete umfassenden Anspruch [erhebt]“ (Scherer 1999:525, s.v. Scholastik).
Als maßgebliche Denker der Frühscholastik (9.–11. Jh.) gelten Johannes Scotus Eriugena (ca. 810–877), Anselm von Canterbury (Anselmo d’Aosta, 1033–1109),364 Peter Abaelard (1079–1142) und Petrus Lombardus (ca. 1095–1160), hinsichtlich der Philosophen der Hochscholastik (12.–13. Jh.) sind vor allem Robert Grosseteste (Robertus Lincolnensis, vor 1170–1253), Roger Bacon (doctor mirabilis, ca. 1214/1220–1292), Bonaventura (Giovanni Fidanza, ca. 1217/1221–1274), Ramon Llull (Raymundus Lullus, 1232/1233–1316), Albertus Magnus (doctor universalis, ca. 1200–1280), Thomas von Aquin (doctor angelicus, 1224/1225–1274), Johannes Duns Scotus (doctor subtilis, 1265/1266–1308) sowie Meister Eckhart (ca. 1260–1328) zu nennen und für die Spätscholastik (14.–15. Jh.) Wilhelm von Ockham (ca. 1280/1285–1347) und Nikolaus von Kues (Cusanus, 1401–1464) (cf. Hirschberger 1961:70–101; Regenbogen/Meyer 2013:585, s.v. Scholastik).
Die Hochscholastik wird im 12. Jh. durch eine geistige Erneuerungsbewegung geformt,365 die vor allem auf drei Faktoren zurückzuführen ist: a) die Übernahme der arabischen Aristoteles-Rezeption (cf. insbesondere Avicenna (Ibn Sina, 980–1037) und Averroes (Ibn Ruschd, ca. 1126–1198) sowie das pseudo-aristotelische Liber de Causis) und der jüdischen (cf. Avencebrol/Avicebron (Ibn Gabirol, ca. 1021–1070) und Maimonides (Mose ben Maimon, 1135–1204)), meist über Spanien, sowie durch direkte Übersetzungen aus dem Griechischen, u.a. über Sizilien (z.B. Henricus Aristippus (1105–1162), Wilhelm von Moerbeke (1215–1286)),366 b) das Entstehen und Aufblühen der Universitäten (v. supra) und c) die zunehmende wissenschaftliche Tätigkeit der großen kirchlichen Orden, insbesondere der Franziskaner und der Dominikaner (cf. Hirschberger 1961:75–77).
Vor dem Hintergrund der Lehrinstitutionen, d.h. sowohl der Dom- und Klosterschulen als auch der Universitäten, in denen sich die scholastische Methode entwickelt hatte, ist auch die mittelalterliche Sprachreflexion zu sehen. Für deren Herausbildung ist die erste und wichtigste Disziplin der artes bzw. genauer des propädeutischen Triviums innerhalb eines curricularen Studiums maßgebend gewesen, nämlich die Grammatik. Abgeleitet von griech. gramma (dt. ‚Buchstabe‘) bezeichnet es zu Zeiten von Platon und Aristoteles zunächst die reine Fähigkeit Lesen und Schreiben zu können (dt. ‚Buchstabenlehre‘, ‚Lesefertigkeit‘),367 im Hellenismus tritt schließlich noch die Bedeutung der literarischen Befähigung hinzu, d.h. ein Dichter sollte die Sprache grammatisch richtig beherrschen und in ihr den Konventionen entsprechend richtig dichten können.368 Dementsprechend unterscheidet Quintilian (Inst. orat. I, 4, 2) zwischen recte loquendi scientiam et poetarum enarrationem. Zu dieser Zeit entsteht auch der synonyme Sprachgebrauch von grammatica und litteratura, d.h. wie Grammatik von gramma abgeleitet wurde, hat man im Lateinischen litteratura von littera (dt. ‚Buchstabe‘) abgeleitet (cf. Curtius 1993:49–52).