Kitabı oku: «Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua», sayfa 16
Bei vorliegender Zusammenstellung von Michel ist zu beachten, daß die einzelnen zum Teil ex post aufgestellten Kategorien und Zuordnungen nicht immer zweifelsfrei sind, da es durchaus Positionen gibt, die nicht prototypisch sind bzw. auch weitere Vertreter nicht immer eindeutig auf eine bestimmte Position reduzierbar sind;319 zudem haben nicht alle veritable Traktate zu dieser Debatte verfaßt, sondern ihre Meinung eher implizit in Grammatiken, Wörterbüchern oder anderen Schriften zum Ausdruck gebracht. Nichtsdestoweniger hilft die Strukturierung der questione in Bezug auf einzelne Auffassungen wie auch hinsichtlich des zeitlichen Verlaufes, wie sie von Koch (1988b) und Michel (2005) unternommen wurde, das komplexe Ineinandergreifen verschiedener Vorstellungen und deren Verteidigung – auch in Form von Invektiven – im Ringen der Renaissance-Gelehrten um eine gemeinitalienische Literatur- und Standardsprache besser zu verstehen.320
Im Gegensatz zu Koch spricht Michel (2005:394) auch noch für die Zeit vom 17.–19. Jh. explizit von der questione della lingua und handelt die jeweiligen Diskussionsschwerpunkte nach Jahrhunderten ab,321 wobei das 19. Jh. allgemeiner unter dem Aspekt Sprachtheorie und Sprachpraxis (cf. Kap. 6.3.11 bei Michel 2005:401–408) betrachtet wird und nur die Zeit bis Manzoni ausdrücklich der questione zugeordnet wird (cf. ibid. 2005:401).
Die Sprachgeschichte von Reutner/Schwarze (2011), scheint sich bezüglich vorliegender Fragestellung mutatis mutandis an der Gliederung von Marazzini (dt. 2011, it. 2004) zu orientieren, der die storia della lingua italiana strikt nach Jahrhunderten abhandelt. Dabei decken sich hier vor allem zwei wichtige Subkapitel: Der 1. Punkt im IV. Kapitel (Das 15. Jahrhundert) von Marazzini (2011:87) heißt dort Latein und Volgare und im V. Kapitel (Das 16. Jahrhundert) ist das 1. Unterkapitel als Italienisch und Latein überschrieben, was bei Reutner/Schwarze (2011:101, 117) als die entsprechenden Subtitel 5.1 Latein und Volgare in Konkurrenz und 6.2 Die Questione della lingua im 16. Jahrhundert übernommen wird. Daraus läßt sich auch ableiten, daß sich für sie die questione im Wesentlichen auf diese Zeitspanne reduziert – wirklich eindeutig beziehen sie dabei jedoch nicht Position.322
Für Vitale (1984:39) beginnt die questione della lingua im 16. Jh. und reicht bis Manzoni (Mitte 19. Jh.), die vorangehende Debatte um ,Latein vs. Volkssprache‘, beginnend bei Dante und dann vor allem virulent im 15. Jh., faßt er unter preliminari zusammen (cf. Vitale 1984:15–37); Diskussionen nach der unificazione, die dann die lingua nazionale und ihre Verbreitung betreffen, sowie allgemein moderne Entwicklungstendenzen aufgrund von beispielsweise Massenmedien gehören für ihn nicht mehr zu dieser historischen Debatte.323
Während bei Koch und Michel die zeitlichen Grenzen der questione nicht immer ganz eindeutig sind – so wird bei beiden Autoren nicht expliziert, ob der polyzentrische Ausbau des Italienischen mit zu einer Früh- oder Vorphase gehört, die Spätphase ist eher diffus abgegrenzt – ist Marazzini (2013) in seiner Monographie zur Sprachenfrage schon dahingehend programmatisch und eindeutig, insofern er in seiner Neuauflage den Titel entsprechend abändert und damit gleichzeitig ein Statement zum zeitlichen Rahmen abgibt, dessen Eckpunkte für ihn eben durch Da Dante alle lingue del Web charakterisiert sind, also einerseits wirklich auch aktuellste Entwicklung mitumfaßt und andererseits Dante klar als Beginn positioniert.
Sotto il nome di „questione della lingua“ si indicano, nella tradizione culturale italiana, tutte le discussioni e le polemiche, svoltesi nell’arco di diversi secoli, da Dante ai nostri tempi, relative alla norma linguistica e ai temi essa connessi. Questi temi, pur nella sostanziale analogia, non furono uguali in tutti i periodi storici. All’inizio, nel Medioevo e durante l’Umanesimo, si trattò di riconoscere e rivendicare la dignità del volgare, o di negarla, in nome della superiorità del latino. Nel Cinquecento si discusse a lungo sul nome da attribuire all’idioma letterario, se dovesse essere detto toscano, fiorentino, lingua comune o lingua italiana. (Marazzini 2013:15)324
Auch Marazzini (2013) sieht durchaus den Kern der Debatte – vor allem la questione della norma (ibid. 2013:19) – im Cinquecento, insofern erst zu dieser Zeit (mit gewissen Vorläufern und anderen Schwerpunkten im vorhergehenden Jahrhundert) la „totalità degli uomini di lettere“ (Marazzini 2013:23) betroffen war. Er rechtfertigt aber Dante als initium mit der Tatsache, daß in De vulgari eloquentia und im Convivio das erste Mal diesbezügliche metasprachliche Reflexionen angestellt wurden, auch wenn eine gewisse zeitliche Lücke bis zur Wiederaufnahme dieser Argumente zu konstatieren ist. Dabei betont er auch nochmal, daß die questione della lingua, trotz dieser weiten zeitlichen Klammerung, keinesfalls in toto mit der italienischen Sprachgeschichte gleichzusetzen ist, jedoch ein wichtiger Teil von ihr sei.325 Die Vielfältigkeit der Debatte im Laufe der Jahrhunderte äußert sich zum einen in Bezug auf die behandelten Fragestellungen (v. supra), aber auch hinsichtlich der betroffenen Fachbereiche (Literatur, Rhetorik, Grammatik)326 und der konkreten Auswirkungen (Schule, Bildung i.w.S., Politik und Sprachpolitik, Verwaltung, Jurisprudenz, Wissenschafts- und Kulturbetrieb) (cf. Marazzini 2013:17).
Führt man sich die verschiedenen implizit oder auch explizit formulierten Vorstellungen zur zeitlichen Einordnung bzw. Begrenzung der questione della lingua vor Augen, so kann man als conclusio zumindest eine grundsätzliche Zweiteilung vornehmen, und zwar dahingehend, daß man die allgemeine Sprachreflexion in Bezug auf das Italienische – dazu gehört auch sein Verhältnis zum Latein – zumindest theoretisch strikt von der eigentlichen Normdiskussion trennt, wobei beide Ebenen in einem Inklusionsverhältnis zueinander stehen. Dies hat zur Folge, daß der früheste Zeitpunkt, wie auch bei Marazzini dargelegt (v. supra), der Diskurs bei Dante ist; da aber sein volgare illustre erst mit der (Neu)Veröffentlichung durch Trissino (1529) in gewissem Maße Einfluß auf die Debatte um das adäquate Italienisch der Literatur bzw. der Schriftlichkeit allgemein haben konnte, bleibt Dante erratisch und die Debatte ist in ihrem Kern im 16. Jh. anzusiedeln (cf. Vitale supra). Auf der anderen Seite kann man von der Zeit nach Manzoni oder spätestens nach der Einigung Italiens und den damit verbundenen sprachlichen Folgen nicht mehr im engsten Sinne von der einst in der Renaissance begonnenen Sprachenfrage sprechen. Es verbleibt zwar weiterhin Diskussionspotential – man denke dabei an die nuova questione della lingua, die Pier Paolo Pasolini (1922–1975) in der Zeitschrift Rinascita (26.12.1964) aufwirft (cf. Parlangèli 1979) oder die Frage, ob es ein neo-standard gäbe (Berruto 1987, v. supra) – dennoch berührt dies nicht mehr den Kern der einstigen diatopischen und normativen Problematik. In einer Graphik kann man die verschiedenen zeitlichen Rahmen deshalb folgendermaßen darstellen:
Abb. 6: Chronologie der questione della lingua in Italien
Es bleibt festzuhalten, daß die Auseinandersetzung mit der eigenen Sprache in Italien eine intensive war, die sich über viele Jahrhunderte erstreckte, in denen je unterschiedliche Kernfragestellungen virulent waren, die von einer mehr oder weniger großen Anzahl von Gelehrten aufgegriffen wurden. Bis an die Schwelle zum 20. Jh. blieb jedoch sowohl die metasprachliche Diskussion um die adäquate Sprache als auch das sich herausbildende italiano (comune) „das Ausdrucksmittel einer sozialen Oberschicht“ (Bagola 1991:21) bzw. „kulturellen Führungsschicht“ (ibid.), die unabhängig von politischen Differenzen und der vielfachen staatlichen Zersplitterung Italiens existierte und für die die gemeinsame Sprache einen kulturellen Identifikationsfaktor darstellte.
Schließlich verbleibt noch zur Verortung des hier fokussierten Themas die Frage nach der Sprache der Römer bzw., welche Art(en) von Latein in der Antike gesprochen bzw. geschrieben wurden. Sicherlich gehören die im Zuge jener Debatte aufgeworfenen sprachhistorischen Probleme nicht zum Kern der questione, aber zweifelsohne handelt es sich dabei auch um eine Sprachenfrage, eine, die sehr wohl eng mit den einzelnen Positionen innerhalb der questione verknüpft ist. Die Vorstellungen von der je eigenen zeitgenössischen Situation in Bezug auf das Verhältnis volgare vs. Latein sowie hinsichtlich der Frage nach Stilregistern und der Adäquatheit einer bestimmten Varietät für einen bestimmten Anlaß werden immer wieder auf die antike Situation übertragen, aber auch umgekehrt liefert die in der antiken Rhetorik sich widerspiegelnde Verflechtung von einzelnen Varietäten Denkanstöße zur Lösung der eigenen aktuellen Problematik. Insofern kann man diese Diskussion, deren Chronologie in vorliegender Untersuchung durch die Eckdaten 1435 und 1601 begrenzt wurde, durchaus als Teil der questione im weiteren bzw. weitesten Sinne sehen. Darüberhinaus sind die Positionen der einzelnen Humanisten bezüglich der hier diskutierten antiken Sprachenfrage, oft nicht ohne den Kontext ihrer vertretenen Ansichten in der questione im engen Sinne, verständlich (cf. Rekontextualisierung).
6.1.3 Die „Barbarenthese“ im Kontext von generatio, alteratio und corruptio
In der Renaissance findet ein Paradigmenwechsel in der Historiographie statt, der auch wichtig für die Sprachbetrachtung ist. Man löst sich in der Vorstellung der eigenen geschichtlichen Verortung von einer teleologischen Linearität und christlichen Determiniertheit. Mit der Wiederentdeckung der Antike und der Positionierung des Individuums verändert sich auch der Blick auf die eigene unmittelbare Geschichte und die vergangener Jahrhunderte sowie auf die in dem jeweiligen historischen Kontext Agierenden, die nicht mehr unter dem Aspekt eines göttlichen Plans betrachten werden.
Verglichen mit den vorangehenden Jahrhunderten zeichnet sich die Renaissance durch ein gesteigertes Bewußtsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Epoche aus: Man begreift sich nicht länger in der Kontinuität einer Zeitspanne, sondern nimmt vor allem Abstand und Distanz zu früheren Epochen wahr. Dieser Wandel der historischen Wissensordnung resultiert im wesentlichen aus der Ersetzung heilstheologischer Vorgaben durch profane Ereignisgeschichte als Orientierungsmaßstab des historischen Bewußtseins: An die Stelle göttlichen Eingreifens in den Gang der weltlichen Angelegenheiten tritt die klassische Antike. (Münkler/Münkler 2005:132)
Dieses veränderte Verständnis von Geschichte und ihrem Verlauf hat einen ganz anderen Umgang mit den zugrundeliegenden Quellen zur Folge und mündet in eine andere Form der Darstellung von Ereignissen und Zusammenhängen. Die Loslösung von einer heilsgeschichtlichen Orientierung sowie die kritische Erschließung der historischen Zeugnisse und nicht zuletzt die Reflexion der eigenen historiographischen Tätigkeit legen den Grundstein für eine moderne Geschichtsschreibung. Dies zeigt sich beispielsweise bei Leonardo Bruni (1370–1444), in dessen Historiarum Florentinarum libri XII (1416–1444) die Legenden, Fabeln und Wunder der von ihm konsultierten Chronik von Villani327 als Erklärungsmodell keinen Eingang fanden, sondern er das Handeln der einzelnen Protagonisten durch Interessenslagen und rationale Entscheidungen zu begründen sucht. Der Abstand der eigenen Epoche zu anderen Jahrhunderten, die eben auch durch eine andere Geisteshaltung zu charakterisieren sind, wird bei Flavio Biondo (1392–1463) in seinem Werk Historiarum ab inclinatione Romanorum decade (1440–1452) deutlich, der für die Zeit zwischen der Antike und der eigenen den Begriff medium aevum einführt (cf. Münkler/Münkler 2005:132–133).
In diesem Kontext ist es letztendlich auch nicht verwunderlich, daß man sich im Zuge der Sprachreflexion, die ja bereits mit Dante einsetzt, für geschichtliche Prozesse interessiert bzw. für das, was man heute als Sprachwandel bezeichnet. Erste Indizien für die Frage, was mit der von Generation zu Generation weitergebenden Sprache passiert, wie sie sich verändert, finden sich schon in De vulgari eloquentia, doch erst im Kontext des sich verändernden Geschichtsbewußtseins – diesbezüglich war Dante noch ganz dem Mittelalter verhaftet – gewinnt diese Fragestellung eine neue Bedeutung und Virulenz.
Das allgemeine neu entstandene Bewußtsein für Historizität wird dabei überlagert von dem Konzept des zyklischen Verlaufs der Geschichte, welches in seinen Ursprüngen auf antike Vorstellungen von einer Abfolge von Kulturen, Herrschaften oder dem allgemeinen Werden und Vergehen zurückgeht. Bereits bei Platon (Politeia, VIII)328 finden sich Aspekte der Zyklentheorie, aber für die Auffassung in der Renaissance sind es vor allem die Konzepte von generatio, alteratio und corruptio, die in der aristotelischen Schrift De generatione et corruptione (Περὶ γενέσεως καὶ φθορᾶς) ausgeführt werden und in die Argumentation zum Sprachwandel der rinascimentalen Gelehrten Eingang findet.
De generatione autem et alteratione dicamus, quid differunt: dicimus enim alteras esse has transmutationes ad invicem. Quoniam igitur est aliquid subiectum et aliud passio, que de subiecto innata est dici, et est transmutatio utriusque horum, alteratio quidem est, quando manente subiecto sensato ente transmutat in eius passionibus aut contrariis aut mediis, puta corpus sanum est rursus laborat manens illud idem; et metallum rotundum, quandoque autem angulare, idem ens. Quando autem totum transmutat non manente aliquo sensato ut subiecto eodem, sed quasi ex semine sanguis toto aut ex aqua aer aut ex aere omni aqua, generatio iam hoc tale, huius autem corruptio, maxime autem, si transmutatio generabitur ex insensato in sensatum aut tactu aut omnibus sensibus, puta quando aqua generatur aut corrumpitur in aerens: aer enim valde insensatum. (Aristoteles De gen. et corrupt. (lat.) I, 4, 5–20 (319b); 1986:23–24)329
Aristoteles versteht demnach unter alteratio eine Veränderung, die jedoch keine grundlegende ist, da die Substanz der Sache oder des Wesens davon unberührt bleibt, wie das Beispiel des einmal kranken und dann wieder gesunden Menschen oder des sich verändernden Metalls deutlich macht (idem ens). Wenn hingegen etwas vollkommen Neues entsteht (totum transmutat), wie eben aus dem Samen Blut (ex semine sanguis) oder aus dem Wasser Luft (ex aqua aer) bzw. umgekehrt, dann wird dieser Prozeß als generatio bezeichnet, während der damit einhergehende Verfall als corruptio definiert wird. In diesem Sinne bedingen sich corruptio und generatio gegenseitig und können im Rahmen eines Ablöseprozesses als zyklisch interpretiert werden.
In der Renaissance kommt diese Vorstellung vom Werden und Vergehen insofern wieder zum Tragen, als man sich zu dieser Zeit selbst am Ende eines abgeschlossenen Zyklus’ sieht und damit gleichzeitig am Anfang eines epochalen Neubeginns (cf. rinascere, rinascita), mit dem Ziel einer Abgrenzung vom vorangehenden Zeitalter (cf. medium aevum) und der Anknüpfung an die Antike. In Parallelität zum Kreislauf des Lebens beim Menschen (Geburt, Wachstum, Tod) sowie bei den Pflanzen (Wachstum, Blühen, Vergehen) oder schlicht des Tagesablaufes wird auch ein Zyklus der Kulturen angenommen und dies letztendlich auch auf die Sprache übertragen (cf. Schunck 2003:10–11). Prägnant wird das von Giovan Giorgio Trissino (1478–1550) in seinem Castellano (1570) formuliert: „Tutte le lingue hanno il principio, lo augmento, il stato, la declinazione e la rovina […]“ (Trissino 1570:33–34).
Der erste, der im 15. Jh. das zyklische Modell auf den Sprachwandel übertragen hat, war Flavio Biondo, der in seinem Brief Leonardus Flavio Foroliviensi S. Quaerit an vulgus et literati eodem modo per Terentii Tulliique tempora Romae locuti sint (1435) die Verderbtheit des Lateins, verursacht vor allem durch germanische „Barbaren“ (v. infra: Gothi, Vandali) als grundlegendes Erklärungsmodell zur Entstehung des Italienischen entwickelt. Für die folgenden knapp zwei Jahrhunderte wird es ein kontroverses Thema bleiben, welches heutzutage als „Barbarenthese“, „Germanenthese“ bzw. italienspezifisch als „Langobardenthese“ (it. teoria della catastrofe) oder „Korruptionsthese“ (bzw. „corruptio-These“) Eingang in die Wissenschaftsliteratur gefunden hat.
Temporibus vides quae Ciceronis aetatem praecesserant illos qui aut extra Romam vixerant, aut Romae domesticam habuerant aliquam barbariem, a nitore locutionis romanae aliqualiter recessisse, et barbarie illa infuscatos fuisse: postea vero quam urbs a Gothis et Vandalis capta inhabitarique coepta est, non unus iam aut duo infiscati, sed omnes sermone barbaro inquinati ac penitus sordidati fuerunt; sensimque factum est, ut pro romana latinitate adulterinam hanc barbarica mixtam loquelam habeamus vulgarem. (Biondo, De verb Rom. XXV, 109–110; 1984:214)
In Bezug auf Biondo geht Faithfull (1953:284–285) vom Fall der alteratio aus, da diesem – wie auch anderen Gelehrten des Quattrocento – bewußt wurde, daß die zeitgenössische Volkssprache etwas Neues war und somit nicht ab antiquo existierte, jedoch in ihrer Substanz immer noch Latein war, sich also nur die Akzidenz geändert hatte.330
Bereits kurze Zeit später wird die Theorie von den Barbaren als Verursacher eines korrumpierten Lateins von Leon Battista Alberti (1404–1472) wiederaufgegriffen, und zwar insofern, als er im Proemio (1437)331 des dritten Buches von I libri della famiglia (1432–1441) die Entstehung des zeitgenössischen volgare in Italien auf die zahlreichen Invasionen der fremden Völker zurückführt (v. infra: Gallici, Gothi, Vandali, Longobardi e altri simili barbare), die so die Sprache verdorben hätten.
Cosa maravigliosa intanto trovarsi corrotto o mancato quello che per uso si conserva, e a tutti in que’ tempi certo era in uso. Forse potrebbesi giudicare questo conseguisse la nostra suprema calamità. Fu Italia più volte occupata e posseduta da varie nazioni, Gallici, Gothi, Vandali, Longobardi e altre simili barbare e molto asprissime gente. E, come necessità o volontà inducea, i popoli, parte per bene essere intesi parte per far più ragionando piacere a chi essi obediano, così apprendevano quella o quell’altra lingua forastiera, e quelli strani e adventizi uomini il simile se consuefaceano alla nostra, credo con molti barbarismi o corruptela del proferire. Onde per questa mistura di dí in dí insalvatichí e viziossi la nostra prima e cultissima e emendatissima lingua. (Alberti, Fam., Della fam. III, proemio, 24–37; 1994:188)
Aus der Verwendung der Begriffe corruptela, insalvatichire oder viziarsi leitet Faithfull (1953:285) ab, daß es sich auch bei Alberti um eine Veränderung im Sinne von alteratio handelt, da er nicht die Entstehung einer völlig neuen Sprache annimmt, sondern das Italienische als eine Art von korrumpiertem Latein begreift.
Die Frage, ob etwas Neues entstehe, also generatio vorliegt, oder ob nur eine Veränderung von bereits Existierendem anzunehmen ist (alteratio), beschäftigt dann vor allem die Gelehrten im 16. Jh., die diesen Gegensatz auch explizit thematisieren, wie beispielsweise Claudio Tolomei (1492–1556) in seinem Werk Il Cesano (1555)332 oder auch Benedetto Varchi (1503–1565), der im Ercolano (1570) ein ganzes Kapitel dieser Problematik widmet: Se la lingua volgare è una nuova lingua da se, o pure l’antica latina guasta e corrotta (cf. Varchi, Ercol., 1804 II:30).
Schunck (2003:18–21) weist in diesem Kontext darauf hin, daß im 16. Jh. im Gegensatz zum 15. Jh. die Entstehung der italienischen Volkssprache als generatio verstanden wird und damit als etwas Positives, trotz der vorangehenden corruptio durch die Germanen (bzw. Barbaren). Dies zeigt sich – wenn auch noch nicht so explizit wie bei späteren Autoren – bereits bei Pietro Bembo (1470–1547) in den Prose della volgar lingua (1525), der den Protagonisten M. Ercole fragen läßt, „se la nostra lingua non era a quʼ tempi nata, neʼ quali la latina fiorì, quando e in che modo nacque ella?“ (Bembo, Prose, 1966:86), woraufhin ihm M. Frederigo antwortet, daß dies nach der Invasion der Barbari geschehen sei und daraus eine neue Sprache geboren wurde („nascessene una nuova“ (ibid.)), wobei er auch auf die Pflanzenmetapher (v. supra) rekurriert („le piante che naturalmente vi nascono“ (ibid.)).333
Unabhängig von der Frage, ob eine Veränderung im Sinne von alteratio oder eine dadurch verursachte generatio als Neubeginn vorliegt, ist der These Biondos von der corruptio des Lateins durch die Barbaren und dem daraus entstehenden volgare eine große Nachwirkung beschieden gewesen. Bereits innerhalb weniger Jahrzehnte wird das Thema von verschiedenen Gelehrten wiederaufgegriffen und bleibt auch im folgenden Jahrhundert als Argument und Kontroverse virulent. Die ersten, die dies in ihren Schriften als Diskussionsgegenstand aufnahmen, waren neben Leon Battista Alberti vor allem Poggio Bracciolini (1380–1459), Guarino Veronese (1374–1460), Francesco Filelfo (1398–1481), Lorenzo Valla (1407–1457) und Paolo Pompilio (1455–1491) (cf. Coseriu 2003:149–159; Ellena 2011:64–66).
Im 16. Jh. schließlich griffen das Thema, wie bereits erwähnt, vor allem Pietro Bembo (1470–1547) wieder auf, der die corruptio in seine „Mischsprachentheorie“ integrierte, die im Folgenden dominierte. Weitere wichtige Autoren, die mit entsprechenden Modifikationen Biondos Grundidee weitertradierten, waren neben Claudio Tolomei (1492–1556) und Benedetto Varchi (1503–1565), unter anderem Baldassare Castiglione (1478–1529), Girolamo Muzio (1496–1576) und Lodovico Castelvetro (1505–1571). Während bei der Mehrzahl der Humanisten die germanischen Superstratvölker als Auslöser für die Korrumpierung des Lateins ausgemacht wurde und man deshalb auch von der „Germanenthese“ sprechen kann,334 gab es auch einige, die die Substratvölker in den Vordergrund rückten, ohne daß die zeitliche Schichtung der Beeinflussung immer deutlich wird. Hierzu wären vor allem Pier Francesco Giambullari (1495–1555) und Giovan Battista Gelli (1498–1553) zu nennen, die einen aramäisch-etruskischen Ursprung postulierten und mit Tolomei mitunter als Vertreter der sogenannten „Etruskerthese“ kategorisiert werden.
Die Korruptionsthese fand schließlich auch in Frankreich weite Verbreitung wie beispielsweise bei Joachim du Bellay (1522–1560), Estienne Pasquier (1529–1615), Claude Fauchet (1530–1602) oder César Chesneau Du Marsais (1676–1756), aber auch in Spanien bei Antonio de Nebrija (1441–1522) und Bernardo Aldrete (1560–1641) oder in Portugal bei Duarte Nunes de Leão (1530–1608). Unabhängig davon wie stark die corruptio betont wurde oder teilweise ganz in den Hintergrund trat, entwickelten sich in Frankreich im Zuge der allgemeinen Debatte zum Sprachursprung verschiedene Thesen zur Herkunft der Volkssprachen, in denen das Germanische meist mit Substrat- oder Adstratsprachen verknüpft wurde. Als Grundlage wurde hierbei oft das Gallolateinische angenommen, in übersteigerte Form eines keltischen Einflusses wie z.B. bei Jean Picard de Toutry (15./16. Jh.) in De prisca Celtopaedia (1556) auch als „Keltenthese“ zu apostrophieren (cf. auch Pasquier, Fauchet). In dem Ringen um Prestige und eine einzigartige Charakteristik der eigenen Volkssprache gegenüber den romanischen Nachbarsprachen und dem Latein, wurde auch ein übersteigerter griechischer Einfluß postuliert; so zunächst bei Joachim Périon (ca. 1499–1559) in seinem Dialogorum de linguae Gallicae origine ejusque cum Graeca cognatione libri IV, 1554–1555) oder auch bei Henri Estienne (1528–1598).335 In Spanien wurde im Gegenzug von einigen Gelehrten außer dem Griechischen (z.B. Juan de Valdés, 1490–1541) und Arabischen (Adstrat) mitunter wie bei Andrés de Poza Yarza (ca. 1530–1595) in seinem Werk De la antigua lengua, poblaciones y comarcas de las Españas (1587) das baskische Element (Substrat) stark hervorgehoben und als wesentliche Grundlage der kastilischen Volkssprache angesehen, weshalb man diesbezüglich von der „Baskenthese“ sprechen kann (cf. Strauss 1938:105–123; Bahner 1983:185–189; Schlemmer 1983a:54–66; Schunck 2003:17–31).
Biondos Korruptionsthese wurde auch über die folgenden Jahrhunderte weiter tradiert und über Adam Smith (1723–1790) und August Wilhelm Schlegel (1767–1845) fand sie schließlich Eingang in die sich neu konstituierende sprachwissenschaftliche Forschung. In modifizierter Form und mit entsprechender Neubewertung finden sich letzte Anklänge in Walther von Wartburgs (1888–1971) Superstratheorie (cf. Coseriu 2003:159).336
Die „Barbarenthese“ ist letztlich ein Baustein in der questione della lingua, weil die Frage nach dem Ursprung des volgare immer auch als Argument für oder gegen eine Aufwertung der zeitgenössischen Volkssprache herangezogen werden kann;337 sie ist aber auch eine Problemstellung, die eng mit dem aufkommenden historischen Interesse in der Renaissance zusammenhängt (v. supra) und erstmals so etwas wie ein dezidiertes historischen Sprachbewußtsein338 schafft oder wie es Fubini formuliert: „L’operetta del Biondo segna indubbiamente una data importante nella storia della cultura umanistica: s’era stabilito un rapporto positivo tra lingua e storia […]“ (Fubini 1961:536). Schlußendlich ist die bei Biondo behandelte These zur Entstehung der Volkssprache auch unweigerlich mit der vorliegenden Frage nach der Vorstellung von der Sprachkonstellation in der Antike verbunden.