Kitabı oku: «Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua», sayfa 5
Der Begriff ‚Diglossie‘, durch den ein wichtiger soziolinguistischer Aspekt in die Forschung zu bilingualen Gesellschaften eingebracht wurde, hat im Folgenden Eingang in weitere Betrachtungen und Modelle gefunden, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann (cf. dazu Kremnitz 1996:249–254), die aber allgemein die Notwendigkeit unterstreichen, den Kerngedanken ‚Funktionsdifferenzierung‘ zu beachten, was auch für die in vorliegender Betrachtung zu behandelnden Sprachkonstellationen wichtig ist.
Generell sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß bei einer Erweiterung und Modifizierung des ursprünglichen Konzeptes von Ferguson die Gefahr besteht, den Grundgedanken durch ein Zuviel an Nuancierungen zu schwächen und es womöglich ratsamer ist, auf die einzelne Nuancen dann in den konkreten Anwendungsfällen einzugehen, ohne unbedingt jeden anders gearteten Kasus zum Modell zu erheben.
Eng verknüpft mit dem Bereich der Mehrsprachigkeit und der Diglossie ist ein weiteres wichtiges Konzept der Soziolinguistik, nämlich das der ‚Domäne‘. Die Tatsache, daß bestimmte Varietäten oder Sprachen in je unterschiedlichen Bereichen des täglichen Lebens angewendet werden, war schon länger eine Grunderkenntnis der Mehrsprachigkeitsforschung, bis sie schließlich von Fishman (1964) mit dem Begriff domain belegt wurde.
That languages (or language variants) sometimes replace each other, among some speakers, particularly in certain types or domains of language behavior, under some conditions of intergroup contact, has long aroused curiosity and comment. (Fishman 1964:32)
Dabei beruft sich Fishman (1964:37, FN 11) auf verschiedene ältere Vorarbeiten bekannter Kollegen der amerikanischen Forschung zu variation und sociolinguistics (z.B. Haugen, Weinreich), aber auch auf eine vergleichsweise sehr frühe Untersuchung von Schmidt-Rohr (1932), der in seinem Kapitel zur Mehrsprachigkeit Überlegungen zum wechselnden Gebrauch von (deutscher) Hochsprache und dazugehörigem oder fremdem Dialekt anstellt. In der darauffolgenden Tabelle, in der er u.a. auf die Sprachsituationen in der Schweiz, Südtirol und Belgien abhebt, gibt er dann folgende Bereiche der Sprachverwendung an, wobei der Schule eine besondere Stellung zukommt:85 Familie, Spielplatz, Straße, Schule, Kirche, Literatur, Zeitung, Heer, Gericht, Verwaltung.86
Dies gemahnt deutlich an die im Gefolge von Fishman (1965:72–75)87 schließlich bei Cooper (1969:196) kanonisch geworden Domänen home (family), neighbourhood, church, school, work sphere.88
In diesem Verständnis, d.h. der Abhängigkeit der Wahl einer bestimmten Varietät oder Sprache von Faktoren, die sich letztlich auf Situationen, Themen und Orte der Sprachverwendung gründen, ist auch folgende Definition im Handbuch Soziolinguistik zu sehen, die die aktuelle Forschungsauffassung adäquat widergibt:
Domänen (engl. domains) des Sprachgebrauchs oder der Sprachwahl sind definiert als abstrakte Konstrukte, die durch zueinander passende Orte, Rollenbeziehungen und Themen bestimmt sind […]; sie bestimmen die Wahl einer Sprache oder einer Variante in einer mehrsprachigen Sprachgemeinschaft mit. Beispiele für Domänen sind Familie, Nachbarschaft, Arbeitsplatz, Kirche und staatliche Verwaltung. Art und Anzahl der Domänen können je nach Sprachgemeinschaft und Kultur variieren. (Werlen 1996:335)
Neben der weitgehend unumstrittenen Kerndefinition sei hier die Aufmerksamkeit vor allem auf die letzte Bemerkung zur möglichen Variation der Domänen gerichtet. Es erscheint grundlegend, daß zur adäquaten Beschreibung des Gebrauchs einer Sprache der jeweilige gesellschaftliche Kontext richtig erfaßt wird, d.h. daß a priori der Frage nachzugehen ist, welche Bereiche innerhalb einer Gesellschaft dominant und konstitutiv sind. Dabei werden Adaptionen der immer wieder genannten Grunddomänen nötig sein, und zwar im Hinblick sowohl auf aktuelle, als auch historische Konstellationen sowie solchen, die nicht den hier zugrundegelegten westlichen Gesellschaftsformen entsprechen.
Dementsprechend könnte eine Zusammenstellung von Domänen der Sprachverwendung für moderne europäische Industriegesellschaften und ihren Entsprechungen folgendermaßen aussehen: Familie, Nachbarschaft bzw. Freundes- und Bekanntenkreis, Arbeitsplatz, Kirche bzw. religiöse Gemeinschaft, Schule, Universität bzw. Ausbildungsstätte, Militär, (staatliche) Verwaltung, Freizeit.89
Wichtige Grundlagen der Soziolinguistik, die auch Auswirkungen auf die Varietätenlinguistik und ihre Betrachtungsweise hatten, wurden durch die Studien von Labov (z.B. 1966, 1972, 2010) geschaffen. Labov, ein Schüler Weinreichs (1953), ergänzte dessen eher theoretische Analysen zur Mehrsprachigkeitsforschung sowie die traditionelle Dialektologie europäischer Provenienz um außersprachliche, soziale Faktoren, denen er eine besondere Stellung beimaß.
But linguistic theory can no more ignore the social behavior of speakers of a language than chemical theory can ignore the observed properties of the elements. (Labov 1972:259)
Was die Abhängigkeit von soziokulturellen Variablen anbelangt, so stützt sich Labov auf die Arbeiten Bernsteins,90 der ab Ende der 1950er Jahre die social class als maßgeblichen Faktor in die Forschung einbringt, ohne daß er allerdings dessen sozialen Determinismus zu übernimmt.91
Labov wendete sich mit dem von ihm vorsichtig formulierten social behaviour als Parameter explizit gegen die bis dahin vor allem (aber nicht nur) in der amerikanischen Forschung vorherrschende Tendenz, linguistische Theorien und Modelle auf reine Introspektion des Wissenschaftlers zu gründen.92
Er betrieb demgemäß Feldstudien, wie auch schon europäische Linguisten, allerdings mit dem Fokus auf dem Sprachbenutzer und dessen gesellschaftlichem Hintergrund, der zur Erklärung bestimmter sprachlicher Phänomene bzw. deren Verbreitung diente. Bekannt wurde vor allem seine Untersuchung zur Aussprache des r-Lautes in New York, dessen verschiedenen Varianten (in unterschiedlicher lautlicher Umgebung) Rückschlüsse auf die soziale Stratifikation zuließen, da die verschiedenen Aussprachevarianten an einen je unterschiedlichen Grad von Prestige geknüpft sind (Labov 1966:63–89). Mit diesem Schwerpunkt auf einzelnen Sprachphänomenen, in Korrelation mit der gesellschaftlichen Verankerung der Sprecher,93 begründete er die Variationslinguistik amerikanischer Prägung, die im Folgenden maßgeblichen Einfluß auf die europäische Sozio- und Varietätenlinguistik nahm.
In der Tradition Labovs stehen auch große Teile der germanistischen Forschung, aus der heraus letztendlich wichtige Impulse zur Soziolinguistik und Varietätenlinguistik entstanden, die dann auch für die romanistische Perspektive, insbesondere die varietätenlinguistische, d.h. vor allem in Bezug auf die Erweiterung und Präzisierung des Diasystems von Bedeutung sind (cf. z.B. Hammarström 1967; Nabrings 1981).
Zum Abschluß des selektiven Überblicks zu einigen wichtigen Positionen und Grundkonzepten der Soziolinguistik, und zwar vor allem solchen, die in Zusammenhang mit denen der Varietätenlinguistik stehen und die im Folgenden von Belang sein werden,94 sei auf die Arbeiten von Berruto (z.B. 1987, 2003, 2008) verwiesen.95 Hier schließt sich der Kreis insofern, als Berruto unter dem label der sociolinguistica innovative Erklärungsansätze zur Strukturierung des Varietätenraumes bietet. Berruto (1987:21) entwirft ein Modell des Varietätenraumes, das zwar einerseits nur die Architektur des Italienischen abbilden soll (l’italiano contemporaneo), andererseits implizit doch einen allgemeinverbindlicheren Anspruch erhebt. Im Gegensatz zu Coseriu bzw. Koch/Oesterreicher ordnet er dabei die verschiedenen Dimensionen nicht übereinander an, sondern stellt die unmarkierte Standardvarietät (italiano standard/neo-standard) ins Zentrum seines Schaubildes, welche von diametralen Achsen der anderen Varietäten (diastratico, diafasico, diamesico) durchkreuzt wird. Dabei wird die diatopische Dimension völlig ausgeklammert,96 hinzu kommt jedoch die diamesische nach Mioni, die bei Koch/Oesterreicher als unmarkierte Mündlichkeit/Schriftlichkeit inkorporiert ist (cf. supra). Über den Status der Diamesik ist sich Berruto jedoch selbst unsicher:
Il riconoscimento dell’autonomia della dimensione diamesica non è del tutto chiarito in sede teorica. Indubbiamente, uso scritto e uso parlato rappresentano due grandi classi di situazioni d’impiego della lingua: e questo è un buon argomento per ritenere la diamesìa una sottocategoria della diafasìa. D’altra parte, è anche vero che l’opposizione scritto-parlato taglia trasversalmente la diafasìa e le altre dimensioni, e non è riconducibile completamente all’opposizione formale-informale. (Berruto 1987:22)
Im Gegensatz zu dieser Aussage stellt Berruto (1987:21) jedoch die diamesische Dimension in seiner Graphik als autonome Achse innerhalb der Architektur der Sprache dar. In einem späteren Modell (cf. Berruto 2008:11) verwirklicht er dann seine offensichtliche Präferenz zur Sicht der Diamesik als Teilmenge der Diaphasik, allerdings unter Beibehaltung seines alten Schaubildes (cf. Berruto 2008:12).97
Ohne die Gesamtkonzeption der Gliederung des Varietätenraumes bei Berruto en detail besprechen zu können, sei aber hervorgehoben, daß die Idee einer zentralen Position des Standards etwas für sich hat, weil die Standardvarietät tatsächlich auch die Referenzvarietät für alle anderen Varietäten darstellt und damit auch im Bewußtsein der Sprecher eine zentrale Stellung einnimmt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist bei Berruto (1987:22) auch der Hinweis, daß der Standard nicht im centro geometrico des Modells zu lokalisieren sei, sondern leicht in Richtung des „quadrante scritto, formale, alto“ verschoben ist.98 Ein grundlegendes Problem bei Berruto ist die als a parte konzipierte Diatopik, was zwar der schon bei Coseriu festgestellten Tatsache Rechnung trägt, daß allein der Dialekt ein komplett eigenständiges Sprachsystem ist (v. supra), während die anderen Varietäten sich nur durch ein gewisses Maß an markierten Elementen vom Standard unterscheiden (cf. Krefeld 2020:241), aber dadurch fehlt die bei Coseriu und Koch/Oesterreicher hervorgehobene wichtige Interdependenz der diatopischen Ebene mit der diastratischen und diaphasischen (und diamesischen).99 Dies vermittelt gerade für das Italienische, das im Gegensatz zum Französischen sehr stark durch die Variation im Raum geprägt ist, trotz der impliziten Berücksichtigung (cf. italiano regionale popolare), ein schiefes Bild.100 Merkwürdig erscheint auch die Zuordnung der Technik- und Wissenschaftssprache (italiano technico-scientifico) sowie der Verwaltungssprache (italiano burocratico) zur diaphasischen Ebene, die in anderen Modellen meist als Gruppensprachen und nicht als reines Stilregister gesehen werden. Unabhängig von der Frage der Adäquatheit des Achsenmodelles fehlt hierbei weitgehend – und das kann man mutatis mutandis durchaus analog zum Modell Koch/Oesterreicher sehen – eine dezidierte Ausarbeitung (bei Berruto wäre das zunächst nur für das Italienische zu leisten) der einzelnen Varietäten, ihrer Bezeichnungen und ihrer Merkmale sowie deren Zuordnung. Daß Berruto (1987:26) unter impliziter Berufung auf das sogenannte Ockhamʼsche Rasiermesser (entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem), welches er lapidar als allgemeines saggio principio vorstellt (cf. auch Kap. 6.1.5), seine neun Beispielvarietäten auf nur vier oder fünf reduzieren möchte,101 ist gerade in diesem Falle wohl kaum im Sinne des Ökonomieprinzips des großen Scholastikers, sondern hier bestünde sehr wohl eine gewisse necessitas, Entitäten und Erklärungen folgen zu lassen.102
Eine weitere bedenkenswerte Neuerung bei Berruto ist seine im Zuge der Rezeption der Modelle von Fishman, Ferguson und Kloss konzipierte Erweiterung der verschiedenen Formen von Mehrsprachigkeit und deren Interaktion in verschiedenen Sprachgemeinschaften. Auch hier bezieht sich Berruto in erster Linie auf die Situation in Italien und entwirft eine Matrix mit folgenden Kategorien: bilinguismo sociale, diglossia, dilalia, bidialettismo (Berruto 2003:206). Um diese Konzepte voneinander abzugrenzen, legt er 13 Faktoren zugrunde, die ihm als Kriterien dienen, um zu bestimmen, wie eine spezifische Art von Zusammenspiel von mehreren Dialekten oder Sprachen in einer Gesellschaft funktional miteinander interagieren (Berruto 2003:205). Diese Faktoren bestehen im Wesentlichen aus Merkmalen, die er aus den Arbeiten jener drei oben genannten Forscher übernimmt und dann versucht weiter zu differenzieren (z.B. Prestige, Abstand- und Ausbausprachen, Kontinuum zwischen Varietäten, Standardisierung, literarische Tradition, etc.). Neu sind dabei die Begriffe ‚Dilalie‘ und ‚Bidialektismus‘ (bzw. ‚Polydialektismus‘), die ein Kontinuum an Kategorien zum sozialen Bilingualismus und zur Diglossie schaffen sollen.103
Im Prinzip liegt hier eine abgeschwächte Diglossie-Situation vor, insofern zwar eine grundsätzliche Funktionsteilung vorliegt, die L-variety hier jedoch mit ausreichend Prestige behaftet ist, so daß sie ebenfalls in zahlreichen Kommunikationssituationen vertreten ist. Als Beispiel führt er das Plattdeutsche oder Bairische in Bezug auf das Hochdeutsche an sowie pauschal die Situationen der Romania. Letztlich handelt es sich dabei um nichts anderes als eine Konstellation von einem Dialekt mit Prestige (in seinem Verbreitungsgebiet) vs. Hochsprache. Angesicht der Tatsache, daß es einerseits auch zahlreiche Konstellationen gibt, in denen der Dialekt dezidiert als abwertend betrachtet wird – und hier irrt m.E. Erachtens Berruto z.B. in Bezug auf die Situation in Frankreich (Stichwort: patois) – und andererseits es Forscher gibt, die eine Konstellation Basilekt vs. Hochsprache als Diglossie bezeichnen (und damit diesen Begriff aushöhlen), scheint die Idee einer begrifflichen Fassung einer solchen Situation nicht verkehrt. Unglücklich hingegen erscheint der bidialettismo bzw. polidialettismo, insofern er nach Berrutos (2003:209, FN 98) eigenen Angaben nichts anderes ist als standard-with-dialect, also die Tatsache, daß Sprecher neben dem Standard über verschiedene varietà regionali e sociali verfügen. Hier wäre es womöglich geschickter, diese Kategorie dezidiert auf solche Fälle einzuengen, in denen tatsächlich zwei (oder mehrere) diatopische Varietäten zur Verfügung stehen – vorstellbar z.B. in Südtirol mit einer südbairische Varietät und einem dem Trentinischen nahestehenden Regiolekt.
Die in den letzten beiden Kapiteln angestellten Überlegungen zu einigen wichtigen Begrifflichkeiten, Konzepten und Modellen der Varietäten- und Soziolinguistik hatten zum Ziel, einige begriffliche Grundlagen für vorliegende Untersuchung zu erörtern und einen kurzen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu liefern.
3.1.3 Entwurf eines Beschreibungsrahmens des Varietätenraums
In einem Modell des Varietätenraums für vorliegende Untersuchung soll als Grundgerüst weiterhin auf das Diasystem rekurriert werden und trotz einiger nicht von der Hand zu weisender Vorteile (z.B. Zentrum vs. Peripherie) der graphischen Umsetzung bei Berruto (1987) soll die Darstellung bei Koch/Oesterreicher (2011) als Vorbild dienen. Nicht berücksichtigt werden soll hingen die vierte Dimension – zumindest nicht als eigene Ebene, da es berechtigte Zweifel gibt, ob die an sich wertvolle Konzeption des Nähe-Distanz-Kontinuums Teil des Diasystems sein sollte (cf. supra). Hinzu kommt die dort getroffene Unterscheidung von universaler und einzelsprachlicher Ebene, die anhand der gelieferten empirischer Daten kaum aufrecht zu erhalten ist.104 Die in die Nähe-Distanz-Dimension bei Koch/Oesterreicher inkorporierte Unterscheidung von Söll (1974) in Bezug auf Konzeption vs. Medium soll ebenfalls einen Platz in einem neuen Gesamtmodell erhalten, jedoch außerhalb der eigentlichen Varietätendimensionen. Dabei soll berücksichtigt werden, daß dem Medium, also der Frage nach der medialen Realisierung, mehr Gewicht beigemessen werden sollte (cf. Hunnius 2012:38–41; Massicot 2015:190–191), und die gesprochene Sprache eben nicht kategorisch von der ihr zugehörigen medialen Umsetzung zu trennen ist.
Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Verquickung sozio- und varietätenlinguistischer Ansätze soll das hier neu konzipierte bzw. modifizierte Modell des Varietätenraumes die Frage der Selektion einer Varietät mitberücksichtigen. Trotz des Einbezugs dieses Aspektes sei betont, daß dabei nicht die Darstellung eines ganzheitlichen Kommunikationsmodelles (mit Rückkopplung Sprecher, Hörer, etc.) anvisiert wird, sondern lediglich die Sprechsituation eine adäquate Einbettung finden soll.
Damit soll einerseits der bekannten, grundlegenden Fragestellung der Soziolinguistik von Fishman (1965), nämlich, wer spricht welche Sprache mit wem und wann (who speaks what language to whom and when,) Rechnung getragen werden und zum anderen die schon bei Halliday (1978) konstatierte Wahlmöglichkeit des Sprechers aus verschiedenen Varietäten berücksichtigt werden.105 Diese Wahl wiederum ist abhängig vom situationellen Kommunikationskontext. Wie wichtig dieser situationelle Kontext ist, darauf verweist bereits Malinowski, bevor jener im Zuge des pragmatic turn größere Geltung gewinnt.106
Der bei Malinowski noch im Sinne eines determinierenden Faktors für die Semantik einer Äußerung verstandene situationelle Kontext wird bei Halliday erweitert und zu einem allgemeinen context of situation, der, wie er sehr treffend beschreibt, verantwortlich ist für die Selektion des jeweiligen Sprachregisters.
All language functions in contexts of situation, and is relatable to those contexts. The question is not what peculiarities of vocabulary, or grammar or pronunciation, can be directly accounted for by reference to the situation. It is which kinds of situational factor determine which kinds of selection in the linguistic system. (Halliday 1978:32)
Die Wahl einer Varietät – und in der Regel verfügt jeder Sprecher über mehrere Varietäten – so sei postuliert, hängt von der spezifischen Situation ab, und das gilt eben nicht nur für die diaphasische Dimension (bzw. registers bei Halliday), die Nabrings (1981:140) auch treffend diasituative Dimension nennt, sondern eben in Bezug auf alle Varietäten, und im Falle einer Mehrsprachigkeit auch in Bezug auf die Wahl der adäquaten Sprache in einer bestimmten Kommunikationssituation. Auch wenn vielleicht nicht so intendiert, so suggeriert doch ein Modell, wie das von Koch/Oesterreicher (2011) oder auch Berruto (1987), daß die Situation nur in der Diaphasik zum Tragen kommt und dies entspricht wohl nicht der Kommunikationsrealität. Halliday macht das etwas polemisch deutlich, wenn er die Situation zur conditio sine qua non einer Kommunikation erhebt.
We do not in fact, first decide what we want to say, independently of the setting, and then dress it up in a garb that is appropriate to it in the context, as some writers on language and language events seem to assume. (Halliday 1978:33)
Daraus folgt, daß der Situation eine weitaus prominentere Stellung innerhalb eines Modells gebührt als bisher verwirklicht und als der a priori determinierende Faktor anzusehen ist. Dieser Tatsache sei in folgendem Modell zu ‚Diasystem und Sprechsituation‘ Rechnung getragen:

Abb. 2: Diasystem und Sprechsituation
Den determinierenden Faktoren der Sprach- und Varietätenwahl liegen u.a. die Erkenntnisse von Nabrings (1981:140–144) zugrunde, die – allerdings allein für die diasituative Dimension – folgende Parameter festgelegt hat: Gesprächspartner, Medium, Ort der Kommunikation, Thema. Dies sind eindeutig Faktoren, die nicht auf einer Stufe mit den im Modell Koch/Oesterreicher (2011:13) aufgelisteten Kommunikationsbedingungen stehen können, die ja nach deren Konzept „nur“ den Grad der Nähe bzw. Distanz beeinflussen, sondern einen prominenteren Status einnehmen sollten.107 Wie wichtig der oder die Gesprächspartner bei einer Kommunikation im Allgemeinen und in Bezug auf die Wahl der adäquaten Varietät sind, wird schon bei Behagel deutlich.108 Aus den Ausführungen Behagels geht aber auch der wie bei Nabrings und auch sonst nicht selten als sous-entendu verstandene Sprecher bzw. Produzent der Äußerung als wichtiger Determinant der Kommunikation hervor. Dies bestätigt auch – um hier einmal den größtmöglichsten zeitlichen Sprung machen – die Untersuchung von Massicot (2014), die als wichtige Faktoren neben dem Thema und dem Medium die Sprecheridentität aufführt. Die Tatsache, daß auch das Kommunikationsziel ein beeinflussender Faktor bei der Wahl der Varietät sein kann, läßt sich aus den bekannten Kommunikationsmodellen bei Bühler (1934:28) und Jakobson (1979:88) ableiten. Dies sei dahingehend interpretiert, daß nicht allein das Gegenüber ausschlaggebendes Kriterium ist, sondern unter Umständen eben auch relevant für das, was der Sprecher erreichen möchte, welche Varietät die dafür angemessene ist.
Determinierend sind außerdem die gewählte oder vorgegebene Diskurstradition sowie der soziale und situative Kommunikationskontext (cf. field, tenor, mode) im Sinne Hallidays (cf. Martin/Williams 2004:121) (v. supra).109 Diese Parameter beeinflussen alle Selektionsvorgänge entscheidend mit.
Die erste Selektion, die dann getroffen wird, und zwar aufgrund der determinierenden Faktoren der Sprechsituation, ist die bezüglich des Mediums. Damit soll hervorgehoben werden, daß das Medium hier nicht irgendein Teilaspekt des Diasystems ist, sondern diesem sozusagen vorgeschaltet, denn zuerst wählt der Sprecher das Medium (code phonique oder code graphique), sofern es nicht durch eine Kommunikationssituation vorgegeben ist, dann die Sprache und die Varietät. Die Versprachlichung der konzeptionellen Nähe bzw. Distanz, ist dabei als sekundär einzustufen, d.h. sie erfolgt unter den Bedingungen der Kommunikationssituation. Eine diamesische Ebene überlagert sozusagen alle weiteren Varietätendimensionen, insofern es sowohl bezüglich des Standards eine mündliche und schriftliche (medial und konzpetionell) Ebene gibt als auch bezüglich aller weiteren Non-Standard-Ebenen, also der Dialekte, Situolekte, Soziolekte etc. (z.B. mündlich vs. schriftlicher Dialektgebrauch).
In Kommunikationssituationen, die mehr oder weniger das Medium vorgeben, also z.B. bei einem Telefongespräch, einem Vortrag oder ein Bewerbungsschreiben, liegt hier natürlich keine Wahl mehr im eigentliche Sinne vor, doch es bleibt zunächst die Situation (z.B. Wunsch/Pflicht, jmd. zurückzurufen, einen Vortrag zu halten; Notwendigkeit sich zu bewerben), die das Medium determiniert und womöglich auch die Varietät (z.B. das Stilregister für ein Bewerbungsschreiben qua Diskurstradition).
Falls es sich nun um eine Kommunikationssituation handelt, bei der nicht bereits eine Sprache bereits a priori feststeht, und in der der Sprecher über mehrere Sprachen verfügt – und dies muß nicht nur im Sinne eines bilingualen Sprechers zu verstehen sein –, aus denen er wählen kann (L1, L2, L3 – Lx), unabhängig von der Kompetenz in der jeweiligen Sprache, dann wäre diese Selektion vom Sprecher vor der Frage nach einer bestimmten Varietät einer Sprache zu treffen. Erst im Folgenden stellt sich für ihn die Wahl, sofern seine Kompetenz in der bestimmten Sprache dies überhaupt zuläßt, ob er sich im unmarkierten Standard verständigt oder sich für eine wie auch immer markierte Varietät entscheidet. Dies kann jedoch durch Medium oder Diskurstradition auch bereits vorgegeben sein (z.B. in der Schriftsprache eher kein Dialekt, je nach Textsorte ein bestimmtes Stilregister).110
Die determinierende Sprechsituation ist dabei immer die gleiche, also die Ausgangssituation (cf. determinierende Faktoren), denn die im Modell dargestellten Abfolgen von Selektionen sind in Wirklichkeit Entscheidungen, die der Sprecher aufgrund der einen gegebenen Situation innerhalb eines gesamten Entscheidungsprozesses zur in dieser Kommunikationssituation adäquaten Art des Sprechens trifft.111
Wichtig erscheint im Folgenden noch einmal zu betonen, daß die Situation, in der sich ein Sprecher befindet – und dies soll bei obigem Modell deutlich werden – nicht nur die Wahl des Stilregisters, also die diaphasische Ebene determiniert, sondern im gleichen Maße die Frage bestimmt, ob ein Dialekt oder Soziolekt etc. in der nämlichen Situation adäquat ist oder eben nicht. Ändert sich die Sprechsituation insgesamt oder auch nur einzelne Komponenten dieser Situation, so wird unter Umständen wieder aufs Neue nachjustiert.
Die Anordnung der determinierenden Faktoren für die Varietätenwahl in obigem Modell ist nicht zufällig, sondern folgt der Rangfolge einer postulierten Dominanz, d.h. der wichtigste Faktor ist der der Situation (formell vs. informell, offiziell vs. privat, etc.), gefolgt vom Gesprächspartner (mit Parametern wie bekannt vs. unbekannt, Dialektsprecher vs. Standardsprecher, etc.) und dem Ort der Kommunikation (in Abgrenzung zur Situation rein regional zur verstehen). In nicht so eindeutiger Hierarchisierung stehen folgen schließlich noch die Faktoren Thema (des Gesprächs), der Sprecher selbst (individuelle Disposition) und das Kommunikationsziel. Die Faktoren sind dabei in Bezug auf ihre Prominenz in einer bestimmten Kommunikationssituation als interagierend und interdependent anzusehen.
Was nun die Erfassung des Varietätenraumes mit Hilfe des Diasystems anbelangt, so muß man wohl mit bestimmten Aporien leben. Dazu gehört zum einen die, aufgrund der in der sprachlichen Realität engen Verquickung dieser beiden Aspekte, oft unscharfe oder gar unmögliche Trennung von diaphasischer und diastratischer Dimension112 sowie die Frage, welche Bereiche unter die Diastratik fallen, da ja letztendlich fast alle sprachliche Variation an größere oder kleinere soziale Gruppen gebunden ist (schichtenspezifisches Sprechen, altersspezifisches, berufsspezifisches, etc.). Die diatopische Ebene bleibt zudem eine besondere, da es sich hierbei um historisch gewachsene (Regional-)Sprachen handelt, die einst, in Epochen vor der Herausbildung und Verbreitung einer nationalen Standardsprache, in sich geschlossene vollständige Sprachsysteme bildeten113 (mit entsprechender Variationsbreite auf allen Dia-Ebenen) und für alle Sprecher, bzw. noch lange für viele, das einzige Kommunikationsidiom darstellten. So kann auch heute noch die diatopische Ebene für manche Sprecher die Basis der mündlichen Verständigung bilden und ist situationsbedingt nicht zwingend auf gleiche Weise auszublenden bzw. abrufbar wie Varietäten der Diastratik oder der Diaphasik.
Für vorliegendes Modell wurde aus diesen Gründen neben der unstrittigen diatopischen Ebene, weiterhin die Unterscheidung von diastratischer und diaphasischer Ebene beibehalten, allerdings mit der Einschränkung, daß anstelle von ‚diastratisch‘ hier der Begriff ‚diasozial‘ bevorzugt wird.114 Dies sei damit begründet, daß aufgrund seiner etymologischen Herleitung sowie aufgrund seiner häufigen Verwendung im Kontext mit schichtenspezifischem Sprechen dieser Terminus eine zu geringe Extension suggeriert, insofern das in den modernen Gesellschaften – und nicht nur dort – dominierende gruppenspezifische Sprechen hier als sekundäres und nicht primäres Verständnis konnotiert wird. Mit ‚diasozial‘ ist demnach also ganz allgemein und neutral das an eine spezifische soziale Gruppe gebundene Sprechen gemeint – und dies kann natürlich auch ein schichtenspezifisches sein. Deshalb soll im weiteren der Begriff ‚diastratisch‘ rein auf die Varietäten in Abhängigkeit von sozialen Schichten und Klassen appliziert werden. Für das gruppenspezifische Sprechen hingegen sei in Anlehnung an die homogene griechische Prägung der anderen Begriffe ‚diakoinonisch‘ (zu griech. κοινωνία ‚Gesellschaft, Gemeinschaft‘ bzw. κοινός ‚Teilnehmer, Genosse‘) vorgeschlagen. Beide Begriffe sollen demnach Teilbereiche der diasozialen Dimensionen konstituieren. Alternativ müsste man zur Verdeutlichung von ‚diastratisch im weiteren Sinne‘ (also schichten- und gruppenspezifisch) und ‚diastratisch im engeren Sinne‘ (also nur schichtenspezifisch) sprechen, wobei dann trotzdem eine terminologische Lücke für die rein gruppensprachlichen Varietäten bliebe.
Die grundsätzliche Frage, ob es legitim ist, über das Coseriu’sche Dreier-Schema hinaus weitere dia-Dimensionen anzunehmen, sei dahingehend salomonisch beantwortet, daß dies davon abhängt, ob man weitere Varietäten identifizieren kann. Das Problem sei also auf die bereits gestellte Problematik (v. supra), wieviel Variation ist nötig, um von einer Varietät zu sprechen, verlagert. Das extreme Beispiel einer Proliferation von dia-Ebenen war das Modell von Schmidt-Radefeldt, der quasi 1:1 die metalexikographische dia-Kategorisierung (wie z.B. bei Hausmann 1979) auf die Beschreibung des Varietätenraumes übertragen hat. Wo ist hier also eine Grenze zu ziehen bzw. gibt es eine?
Das Grundkriterium ist dabei m.E. nicht die Frage nach der Anzahl der sprachlichen Varianten, die nötig sind, um eine eigenständige Varietät zu postulieren, sondern, ob es eine soziale Gruppe gibt, der eine oder mehrere Varianten klar attribuiert werden kann.
Es sei also definiert, daß man von einer Varietät sprechen kann (und nicht nur allgemein von sprachlicher Variation), wenn ein oder mehrere zusammenhängende, spezifische (markierte) Varianten eindeutig und stabil (über einer längeren Zeitraum) einer bestimmten abgrenzbaren sozialen Gruppe von Sprechern zuzuordnen sind oder eindeutig und stabil in einer bestimmten Sprechsituation zum Tragen kommen. Eine Varietät ist dabei immer als ein Teilsystem einer bestimmten Sprache zu verstehen, die durch einen mehrdimensionalen Varietätenraum konstituiert ist.115