Kitabı oku: «Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua», sayfa 4

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Vergessen wird dabei oft, daß die Qualität der einzelnen Varietäten bzw. Ebenen im Modell sehr heterogen ist und letztlich nur die diatopische Ebene den Anspruch erheben kann, ein vollwertiges in sich geschlossenes Sprachsystem zu sein, wie bereits Coseriu konstatierte (cf. Coseriu 1988:51).

In allen anderen Fällen stellt sich die unweigerlich die Frage: wieviel Variation ist nötig, um von einer Varietät sprechen zu können? Oder anders ausgedrückt: wieviele sprachliche Merkmale, im Sinne der Abweichung von einer Norm, sind nötig,50 damit man sinnvollerweise annehmen kann, daß hierbei eine eigene Varietät vorliegt?51

Die Frage läßt sich nicht so ohne weiteres beantworten, auch deshalb nicht, weil es nicht nur auf die Anzahl der Charakteristika ankommt, die konstitutiv für eine Varietät sein sollen, sondern auch auf die Verankerung einer solchen im Sprecherbewußtsein.52 Unter Umständen reicht ein einziges Merkmal im Sinne eines Schibboleths, wie beispielsweise ein uvularer Vibrant oder Frikativ [ʀ, ʁ], bereits aus, um einen Italophonen regiolektal zu verorten, weil es sich um ein salientes Merkmal einer bestimmten Region handelt (wenn auch nicht ausschließlich)53 – oder eine jede noch so geringe diatopisch markierte Veränderung vom entdialektalisierten Pariser Becken erweist sich bereits als äußerst auffällig.54 Hingegen sind Merkmale, wie sie Endruschat/Schmidt-Radefeldt (2008:222–226) unter dianormativ oder diaplanerisch aufführen, nicht als eigentliche Varietät zu verstehen, sondern Teil der Sprachpolitik oder eines historischen Normierungsprozesses und das, was sie unter diaevaluative Varietät subsumieren, Teil eines Stilregisters, genauso wie unter Umständen Elemente der als diafrequent bezeichneten Dimension.55

Es sei hier tabellarisch noch einmal die Vielfalt der heutzutage existierenden dia-Begriffe zusammengestellt und dabei gleichzeitig die Frage gestellt, wie sinnvoll diese dia-Proliferation sein kann?


Coseriu (1958) Koch/Oesterreicher (1990) Hausmann (1979, 1989) Schmidt-Radefeldt (1999) Thun (2000)
diatopisch diatopisch diatopisch diatopisch diatopisch
diastratisch diastratisch diastratisch diastratisch diastratisch
diaphasisch diaphasisch diaphasisch diasexuell diasexuell
Nähe-Distanz (diamesisch) diamedial diagenerationell diagenerationell
diaevaluativ diaphasisch diaphasisch
diatextuell diamedial dialingual
diakonnotativ diakonzeptionell diatopisch-kinetisch
dianormativ diatechnisch diareferentiell
diaintegrativ diasituativ
diatechnisch diatextuell
diafrequent diaevaluativ
diachronisch diafrequentativ
diaintegrativ
dianormativ
diaplanerisch

Abb. 1: Übersicht zu den dia-Begriffen

Für eine Beurteilung der hier dargestellten Begrifflichkeiten, auch im Hinblick auf die geplante Analyse in vorliegender Arbeit stellt sich zunächst die Frage cui bono?

Wenn Hausmann (1979, 1989) anknüpfend an die zu dieser Zeit bereits bestehenden Termini weitere prägt,56 um im Sinne einer lexikographischen Beschreibung die Struktur des in Wörterbüchern dargestellten Lexikons besser zu erfassen zu können, so ist das legitim und sinnvoll, wobei jedoch nicht vergessen werden darf, daß es sich dabei um einen anderen Beschreibungsrahmen als den von Coseriu intendierten handelt (cf. dazu auch explizit Schöntag 1998/2009:164).57 Das gleiche gilt mutatis mutandis für eine Beschreibung im Zuge der sprachgeographischen Erfassung von Unterschieden, wie sie Thun (2000:4–5) in seiner pluridimensionalen Dialektologie vornimmt.58 Problematisch wird es nur, wenn wie bei Endruschat/Schmidt-Radefeldt (2008) man einerseits weitgehend im ursprünglichen Varietätenmodell von Coseriu bleibt, also auf die Erfassung der Heterogenität der historischen Einzelsprache an sich abzielt, aber dann den Beschreibungsapparat womöglich überdehnt und damit auch den Unterschied von Varianz (bzw. Varianten) und Varietät verwischt.

3.1.2 Soziolinguistische Perspektive

Das Verhältnis von Soziolinguistik und Varietätenlinguistik wird oft als inklusives verstanden, insofern die Betrachtung der Varietäten als Teil einer weiteren Perspektive allgemeiner gesellschaftlicher und individueller Faktoren, die die Art des Sprechens mitbestimmen, gesehen wird. Mitunter werden beide Begriffe auch unterschiedslos verwendet, um die gleiche Disziplin zu bezeichnen, aber in der neueren Forschung werden sie meist als zwei getrennte eigenständige Teilbereiche der Sprachwissenschaft mit unterschiedlichen Schwerpunkten, aber großem Überschneidungsbereich, wahrgenommen (cf. Sinner 2014:9–11).59 Das Verhältnis von Soziolinguistik und Varietäten- sowie Variationslinguistik ist vorwiegend an die Forschungstradition einzelner Fächer und Länder gebunden. Während in der deutschsprachigen romanistischen Wissenschaft, in der Nachfolge Coserius, die Varietätenlinguistik einen betont eigenständigen und prominenten Charakter aufweist, ist in germanistischer Tradition die Differenzierung oft nicht so eindeutig vorgenommen bzw. tendenziell die Varietätenlinguistik (hauptsächlich Dialektologie) oft in die Soziolinguistik inkorporiert (cf. z.B. bei Veith 2002).60

Für vorliegende Untersuchung sind insbesondere diese Schnittstellen und Perspektivenwechsel von Interesse, denn gerade in der Entstehungsphase oben diskutierter Varietätenmodelle waren Erkenntnisse aus Untersuchungen von Belang, die traditionell der Soziolinguistik zugerechnet wurden.

Begrifflichkeiten, die später auch indirekt im Varietätenmodell von Coseriu und Koch/Oesterreicher, aber vor allem im Konzept der Diskurstraditionen eine große Rolle spielen, sind die von Kloss (1952/1978) im Rahmen seiner Betrachtung zur Entwicklung neuer germanischen Kultursprachen geprägten, von denen im vorliegenden Zusammenhang der des ‚sprachlichen Ausbaus‘ als wichtigster Terminus zur Beschreibung einer bestimmten Art von Funktions-, Anwendungs- und Prestigewandel einer Sprache herausragt. Im Zuge seines Versuchs, ‚Sprache‘ und ‚Dialekt‘ voneinander abzugrenzen, führt er anhand von Einzelbeispielen die Begriffe ‚Ausbausprache‘ und ‚Abstandsprache‘ ein:

Manchen Sprachen wird ihr Rang zuerkannt auf Grund der Besonderheit ihrer Substanz, des Sprachkörpers. Ein besonders klares Beispiel bietet in Europa das Baskische, aber für eine verhältnismäßig isoliert dastehende indogermanische Sprache wie Albanisch liegt der Fall kaum minder eindeutig. Baskisch oder Albanisch würden auch als Sprachen bezeichnet werden, wenn in ihnen keine einzige gedruckte oder geschriebene Zeile vorläge. Wir können solche Idiome, die lediglich um ihres Abstandes von allen auch den nächstverwandten anderen Idiomen willen als Sprachen gelten, auch kurzweg als „Abstandsprachen“ bezeichnen.

Wenn hingegen das Slowakische vom Tschechischen, das Weißruthenische vom Russischen, das Katalanische vom Okzitanischen, vielleicht sogar das Letzeburgische vom Deutschen als besondere Sprache unterschieden werden, so liegt der Grund nicht in ihrer linguistischen Sonderstellung, sondern in ihrer soziologischen Verselbständigung, also insbesondere in dem Umfange und Grade ihres Ausbaus zur Kultursprache, so daß man hier auch kurzweg von „Ausbausprachen“ reden kann. (Kloss 1952:17)

In dieser eher impliziten Definition wird auch noch ein anderer Begriff quasi en passant in seinem weiteren Gebrauch in der Linguistik festgeschrieben, nämlich der des ‚Idioms‘, den Kloss zur neutralen Bezeichnung verwendet, solange noch nicht geklärt ist, ob es sich um einen Dialekt oder eine Sprache handelt, und den man heutzutage nützlicherweise als vorklassifikatorischen Terminus auf verschiedene Arten von Varietäten anwenden kann.61

Was den Ausbau von Sprachen betrifft, so trägt Kloss (1952:24–25) wichtige Parameter zusammen, anhand derer man einschätzen kann, wie weit der Ausbaugrad einer bestimmten Sprache oder eines Dialektes (Ausbaudialekt) fortgeschritten ist.62 Der Ausbaugrad selbst wiederum wird in eine Vorphase und fünf weitere Phasen untergliedert, je nachdem wie weit der Anwendungsbereich einer Sprache ist, gemessen hauptsächlich an der Möglichkeit, verschiedene Textsorten zu bedienen und damit einhergehend, wie lexikalisch, morphologisch und syntaktisch elaboriert die Sprache ist (Kloss 1978:52).

Die zunächst auf sechs Merkmale festgesetzten Parameter zur Beurteilung des Ausbaugrades kondensiert er später (cf. Kloss 1987:304) auf vier und entwickelt zudem eine Matrix der Entwicklungsstufen (cf. Kloss 1978:48–49) anhand einer Feingliederung der Sachprosa, die als wichtigster Indikator für den Ausbau anzusehen ist.

Die Ausbau-Kriterien stützen sich dabei auf folgende regelmäßige Anwendungsbereiche des untersuchten Idioms: 1) in Zeitungen, 2) in übersetzten religiösen und weltanschaulichen Schlüsseltexten, 3) in nichtdichterischen Zusprachetexten (Vortragstexte), 4) in Belletristik, Forscherprosa, Gebrauchsprosa (Inserate, Inschriften, Tagebücher, Notizzettel, etc.). Dichtung und andere „hohe“ Literatur gehören als Gradmesser natürlich ebenfalls dazu, sind aber bei Kloss nicht in gleicher Weise in den Vordergrund gerückt, zum einen weil diese bis dato, vor allem von Seiten der Literaturwissenschaft als die einzigen Faktoren für die Einschätzung als Kultursprache angesehen wurden, und zum anderen weil er dezidiert den Wert der Sachprosa über den der Literatur strictu sensu als Indikator stellt.63 Die Sachprosa selbst wiederum splittet er in drei graduell abgestufte Bereiche, nämlich volkstümliche Prosa (V), gehobene Prosa (G) und Forscherprosa (F), sowie in drei themenbezogene Bereiche, gegliedert nach eigenbezogene Themen (E), kulturkundlichen (K) und solchen der Naturwissenschaft und Technologie (N), woraus sich oben erwähnte Matrix als Bemessungsgrundlage ergibt.

Unabhängigkeit von der Tatsache, daß ein Parameter wie „Ausbreitung in Rundfunk und Fernsehen“ der Aktualisierung in Bezug auf die zahlreichen neuen Kommunikationsformen bedürfte und insgesamt sowohl die Bestimmung als auch die Korrelation der einzelnen Kriterien nicht immer unproblematisch sein dürften,64 bleibt das Gesamtkonzept ein äußerst wichtiges Instrument zur Bestimmung von Funktions- und Anwendungsbereichen von Sprachen und deren Positionierung in der Gesellschaft. Dies ist nicht zuletzt daran ersichtlich, daß die Frage nach dem Ausbaugrad einer Sprache wesentlicher Bestandteil des Konzeptes ‚Diskurstradition‘ ist bzw. nach heutigem Verständnis einzelne Diskurstraditionen maßgeblich zum Ausbau einer Sprache beitragen (z.B. Gebrauchsprosa, Belletristik, etc.).65

Der Ausbau einer Sprache korreliert zudem mit dem Prozeß der Standardisierung einer Sprache, wobei „Ausbau und Standardisierung […] weder identisch noch disjunkt“ sind (Ammon 2004:183), denn einerseits haben zwar ausgebaute Varietäten in der Regel auch die Funktion eines Standards, andererseits sind Standardvarietäten bzw. Standardsprachen nicht immer im gleichen Ausbaugrad zu situieren (z.B. Ladinisch vs. Englisch).66

Mit der Standardisierung wiederum in Zusammenhang steht die auf Kloss (1969) zurückgehende Unterscheidung von Korpusausbau und Statusausbau, wobei Status auf die Stellung einer Sprache in der zugehörigen Sprachgemeinschaft referiert, während Korpus auf Struktur und Wortschatz abhebt (cf. Ammon 1991:280).

Der heutzutage in diesem Zusammenhang häufig gebrauchte Terminus Modernisierung wird oft mit unklarer Referenz verwendet, insofern meistens damit – weniger präzise – der Korpusausbau gemeint wird, dies nicht selten aber auch auf den Ausbau als solchen zielt, oder auch Statusfragen damit verknüpft werden, z.B. innerhalb des Bereiches der Fachsprachen oder jene im Verhältnis zur Gemeinsprache (cf. Ammon 1998:222; Ammon 2004:183).

Eine weitere Ergänzung der Kloss’schen Terminologie liefern Koch/Oesterreicher (1994:594), indem sie den Prozeß einer allmählichen Einschränkung des Anwendungsbereiches von bereits voll ausgebauten Nationalsprachen wie dem Niederländischen oder Ungarischen thematisieren, die in der Wissenschaftsprosa zunehmend bzw. fast ausschließlich auf das Englische rekurrieren. Diese rückwärtsgerichtete Entwicklung definiert Oesterreicher im Folgenden als Rückbau einer Sprache, der letztlich auch bis zum Sprachtod reichen kann (cf. Oesterreicher 2004:32 bzw. 2005:100), wobei die Gefahr insbesondere bei bisher erst teilausgebauten Sprachen besteht, worunter er Sprachen versteht, die die letzte Stufe des Ausbaus bei Kloss (1978:52) nicht erreicht haben (5. Phase: Verwendung in Verwaltung, Medien, Forscherprosa).67

Ein weiteres wichtiges Konzept in der Soziolinguistik, welches auf Kloss zurückgeht, ist das der Dachsprache. Den Terminus selbst hat Kloss nicht direkt geprägt, denn ihn interessierten zunächst die Ausnahmefälle, nämlich die Dachlosen Außenmundarten, wie ein Kapitel in der Zweitauflage seiner Monographie auch explizit heißt (Kloss 1978:5). In der ersten Fassung von 1952 trifft er noch die grundlegende Unterscheidung zwischen gehegten und wilden Mundarten, wobei erstere als Bezugsrahmen eine ihr verwandte Kultursprache besitzen, während letztere unter einem „fremden“ Dach existieren.

Da ist zunächst die Unterscheidung zwischen gehegten und wilden Mundarten. Normalerweise wird eine Mundart gesprochen von einer Bevölkerung, die als Schriftsprache die der Mundart linguistisch zugeordnete Kultursprache gebraucht. […] In all diesen Fällen entwickelt sich die Mundart gleichsam im Gehege der ihr linguistisch zugeordneten Schriftsprache. […]

Die Lage einer wilden Mundart ist grundlegend anders. Ihr Sprecher gebraucht eine Schriftsprache, die mit der Mundart linguistisch wenig oder gar nicht verwandt ist. […] Alle solche wilden Mundarten, welche dem hegenden Einfluß der nächstverwandten Kultursprache entzogen sind, pflegen im Laufe der Zeit ein besonderes Gepräge anzunehmen, das von dem der ihr zugehörigen Schriftsprache und der von ihr gehegten Mundarten abweicht. (Kloss 1952:21–22)

Diese dichotomischen Begriffe zur Verdeutlichung der Tatsache, daß die Entwicklung einer Varietät in einem sprachsoziologisch anderen Kontext mit einer anderen Schriftsprache als Referenz anders verläuft als unter „normalen“ Umständen, unter denen verschiedene diatoptische Varietäten als Bezugspunkt eine ausgebaute Standardvarietät gleichen Ursprungs haben, finden in der weiteren Forschung keine Forstsetzung, sondern gerade die nur in der zugehörigen Fußnote als alternativ Benennungen zu „wild“ und „gehegt“ vorgeschlagenen.68

Den eigentlichen Begriff ‚Dachsprache‘ hat dann Goebl mit Verweis auf die ursprüngliche Metaphorik bei Kloss in einer Untersuchung zur normannischen scripta eingeführt,69 zunächst auf Französisch als toiture (Goebl 1975:154), dann auch auf Deutsch – Ironie der Forschungsgeschichte, wieder „nur“ in einer Fußnote (Goebl 1975:154, FN 20).70

Weiterhin im Rahmen dieses Bild des Daches verankert, wurde im Folgenden durch den Begriff der ‚Überdachung‘ bei Goossens (1971:20) noch die Prozeßhaftigkeit bei der Bildung eines Daches hervorgehoben, wie es im Zuge der Entwicklung und des Ausbaus von Varietäten zu Standard- bzw. Hochsprachen zu beobachten ist bzw. das daraus resultierende Ergebnis.71

Es ist wiederum Goossens, der die beiden Konzepte Diasystem und Dachsprache – und hier sei auf eine wichtige Schnittstelle von varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Perspektive hingewiesen – in Zusammenhang bringt und auf konkrete Sprachkonstellationen appliziert.72 Im Weiteren sind es u.a. Wissenschaftler wie Kramer (z.B. 1980, 1984) und Muljačić (z.B. 1984, 1989), die die Dachmetaphorik in ihrer ganzen Breite verwenden und das Kloss’sche System auf vielfältige Szenarien anzuwenden versuchen.73

Es gibt aber sicherlich Fälle, wo die Konzeption des ‚Daches‘ an ihre Grenzen stößt, sei es aufgrund des nicht geklärten Status der einzelnen Idiome (z.B. Aromunisch im Verhältnis zu Dakorumänisch, Gaskognisch) oder unklarer sprachsoziologischer Zuordnungen (z.B. Subvarietäten des Ladinischen).

Ein anderer Bereich, der mit den von Kloss angesprochen Sprachkonstellationen in Zusammenhang steht und der auch für die in dieser Arbeit einzunehmende Perspektive auf eine komplexe historische Situation – sowohl in Bezug auf die Antike, als auch die Renaissance – grundlegende Bedeutung hat, ist der der Mehrsprachigkeit. Prinzipiell ist es üblich zumindest zwischen individueller Zwei- oder Mehrsprachigkeit (Bilingualität, Multilingualität) und sozialer Zwei- oder Mehrsprachigkeit (Bilingualismus, Polylingualismus) zu unterscheiden.74

In einer differenzierteren Sichtweise unterscheidet Lüdi (1996:234) vier Arten der Mehrsprachigkeit, und zwar 1) individuelle, 2) territoriale, 3) soziale und 4) institutionelle. Unter territorialer Mehrsprachigkeit versteht er dabei das Nebeneinander verschiedener Sprachen in einem bestimmten Gebiet und führt als Beispiel die Koexistenz von Niederländisch und Französisch in Brüssel an. Die soziale Mehrsprachigkeit liegt dann vor, wenn mehrere Sprachen mit unterschiedlichen Funktionen in einer Gesellschaft in Gebrauch sind, also eine di- oder polyglossische Situation vorliegt, und institutionelle Mehrsprachigkeit findet sich in nationalen oder internationalen Verwaltungseinheiten wieder, wie beispielsweise der Europäischen Union.

Eine entscheidende Frage, unabhängig von der Anzahl der Arten von Mehrsprachigkeit ist, welche Kriterien dieser zugrundeliegen, d.h. ab wann ist ein Individuum oder eine Gesellschaft mehrsprachig und wie ist die Sprachkompetenz in den jeweiligen Sprachen? Lüdi plädiert dabei für eine weite Auslegung des Begriffes, der sich hier anzuschließen ist, da dies der Realität zahlreicher Gesellschaften am ehesten entspricht.

Gegenüber diesen ‚engen‘ Mehrsprachigkeitsdefinitionen,75 welche sich am idealen bilingualen Sprecher/Hörer als an einem theoretischen Konstrukt orientieren, hat sich heute in der Regel eine ‚weite‘ Definition durchgesetzt. Danach ist mehrsprachig, wer sich irgendwann in seinem Leben im Alltag regelmäßig zweier oder mehrerer Sprachvarietäten bedient und auch von der einen in die anderen wechseln kann, wenn dies die Umstände erforderlich machen, aber unabhängig von der Symmetrie der Sprachkompetenz, von den Erwerbsmodalitäten und von der Distanz zwischen den beteiligten Sprachen […]. (Lüdi 1996:234)

Ausgehend von der Tatsache, daß sowohl für die zeitgenössischen Gesellschaften, als auch – und dies wird nicht selten idealisiert – für die historischen Gesellschaften, eine wie auch immer geartete Mehrsprachigkeit (unter Einschluß der Varietäten) den Normalfall darstellt,76 erweist sich diese hier weitgefaßte Auslegung des Begriffes gerade auch für vorliegende Untersuchung als brauchbar und sinnvoll.

Eine spezifische Betrachtung innerhalb der Mehrsprachigkeitsforschung verdient der Begriff der ‚Diglossie‘, der allgemein als eine funktionale Zweisprachigkeit verstanden wird und schon 1885 erstmals von zwei Gräzisten (Emmanuil Roidis, Jean Psichari) verwendet wurde (cf. Kremnitz 1996:246), aber dann erst 1928 Eingang in eine Publikation von Jean (Iannis) Psichari auf Französisch fand, die die Grundlage für seine weitere Verbreitung schuf.

La diglossie – le fait pour la Grèce d’avoir deux langues – ne consiste pas seulement dans l’usage d’un double vocabulaire, qui veut qu’on appelle le pain de deux noms différents: artos, quand on est un homme instruit, psomi, quand on est peuple; la diglossie porte sur le système grammatical tout entier. Il y a deux façons de prononcer; en un mot, il y a deux langues, la langue parlée et la langue écrite, comme qui dirait l’arabe vulgaire et l’arabe littéral. (Psichari 1928:66)

Psichari (1928:65) bezieht sich hierbei auf die beiden Varietäten des Griechischen, nämlich Katharevousa, die im 19. Jahrhundert geschaffene, an das altgriechische angelehnte Bildungssprache, und das Dimotiki, die Umgangssprache des Landes. Dabei erfaßt er zweifelsfrei, wie obiges Zitat deutlich macht, daß es sich um zwei unterschiedliche Varietäten handelt. Ohne daß er explizit von Funktionsteilung der Varietäten spricht, legt er aber durch seine Darstellung den Grundstein für die späteren Auffassungen von Diglossie, mit der Einschränkung, daß bei ihm noch eine wertende Konnotation mitschwingt.77

Den Ausgangspunkt für die moderne Forschung bilden schließlich die Übernahme des Begriffs ‚Diglossie‘ durch Ferguson (1959) und seine weiteren Ausführungen, welche Sprachkonstellationen er darunter zu verstehen gedenkt. Er verwendet den Terminus zunächst mit Verweis auf den Kontext der Standardisierungsprozesse, wie sie bei Kloss geschildert sind, und bringt dann die Mehrsprachigkeit ins Spiel, indem er als Untersuchungsgegenstand folgendes angibt: „[…] standardization, where two varieties of a language exist side by side throughout the community, with each having a definite role to play“ (Ferguson 1959:325). Diesen Tatbestand der Funktionsdifferenzierung der beiden Varietäten bezeichnet er dann als ‚Diglossie‘.78 Neben der funktionalen Differenzierung der beiden Varietäten in einer Sprachgemeinschaft ist das unterschiedliche Prestige ein entscheidender Faktor. Ausgehend von diesem Kriterium bezeichnet er daher die angesehenere Varietät, die dann meist auch die besser ausgebaute und standardisierte ist,79 als high variety (H) und die weniger prestigereiche, die in der Regel hauptsächlich die Alltagskommunikation abdeckt, als low variety (L) bzw. insofern es sich um mehrere handelt als low varieties.

For convenience of reference the superposed variety in diglossia will be called the H (‚high‘) variety or simply H, and the regional dialects will be called L (‚low‘) varieties or, collectively, simply L. (Ferguson 1959:327)

Die Beispiele, die er dazu aufführt, sind zum einen die schon bei Psichari gegebenen, also Griechisch (Katharevousa vs. Dimotiki) und Arabisch (klassisches Arabisch vs. regionale, arabische Umgangssprache) sowie die Sprachsituation in der Schweiz mit Standarddeutsch und Schwyzerdeutsch und auf Haiti, wo neben dem français (standard) das créole haïtien gesprochen wird.80

Für die Abgrenzung von einer „normalen“ Sprachgemeinschaft, die über einen ausgebauten Standard und dazugehörige Dialekte verfügt (standard-with-dialects) führt Ferguson (1959:338) drei Merkmale auf:

1 Es gibt eine nennenswerte Anzahl von kulturell wichtigen Schlüsseltexten, wobei diese Literatur in einer Varietät verfaßt wurde, die der Varietät, die die meisten sprechen, nahesteht,

2 Literalität ist in dieser Gesellschaft auf eine kleine Elite beschränkt,

3 es ist eine gewisse Zeit vergangen (ein paar Jahrhunderte), bis die in 1) und 2) geschilderte Konstellation eingetreten ist.

Die aus diesen Merkmalen erwachsende Diglossie-Situation kann durchaus stabil sein und muß auch nicht als „Problem“ empfunden werden, dennoch ist es möglich, daß unter bestimmten Voraussetzungen (cf. Ferguson 1959:338) eine Entwicklung in Richtung auf ein standard-with-dialects-Verhältnis in Gang kommt.

Das von Ferguson (1959) mit den hier kurz skizzierten Grundprinzipien erarbeitete Konzept der ‚Diglossie‘ bildete das Referenzmodell für die weitere Forschung zu diesem Thema. Durch die Anwendung auf verschiedenen Sprach- und Varietätenkonstellationen ergaben sich dabei Adaptionen und Veränderungen, die dem ursprünglichen Gedanken nicht mehr ganz entsprachen. So appliziert beispielsweise Gumperz (1962, 1964, 1971) das Diglossie-Konzept auf den Gebrauch von Varietäten, die zwar unterschiedliche Funktionen innerhalb einer Sprachgemeinschaft haben, aber nicht mehr nur wie bei Ferguson rein diatopischer Natur sind und zudem bei den Sprechern nicht mehr als unterschiedliche Idiome wahrgenommen werden.81

Die prominenteste Modifizierung des Diglossie-Modells ist zweifellos die von Fishman (1967), dessen wichtigste Neuerung darin besteht, daß er die Notwendigkeit der Verwandschaft der beiden im Fokus stehenden Varietäten ablehnt. Bei dieser Auffassung, die er nicht expliziert, die aber durch die Beispiele deutlich werden, lehnt er sich an die Erweiterung von Gumperz an.82 Fishman versucht auch dahingehend eine weitere Differenzierung von mehrsprachigen Sprachgemeinschaften vorzunehmen, indem er eine Matrix entwirft, die folgende Fälle von koexistierenden Varietäten und Sprachen aufweist: 1) both diglossia and bilingualism, 2) diglossia without bilingualism 3) bilingualism without diglossia, 4) neither diglossia, nor bilingualism (Fishman 1967:30). Der erste Fall wird dabei u.a. an der Konstellation Spanisch und Guaraní in Paraguay exemplifiziert, insofern fast das ganze Land zweisprachig ist, aber die beiden Idiome funktional verschieden sind. Das prestigereiche Spanisch sei dabei für die Landbevölkerung Bildungssprache, während die Guaraní-Sprecher, die vom Land in die hispanophone Stadt gezogen sind, ihr ursprüngliche Sprache weiterhin zur in-group-Kommunikation verwenden (cf. Fishman 1967:31).83 Das zweite Szenario wäre beispielsweise die Situation in weiten Teilen Europas vor dem 1. Weltkrieg, als die H-Varietät der Elite das Französische war (cf. Fishman 1967:33). Zur Konstellation von ‚Bilingualismus ohne Diglossie‘ nennt Ferguson kein Beispiel, beschreibt allgemein historische Situationen wie die der modernen Industriegesellschaften, in denen durch Zuwanderung verschiedene Arten von Zweisprachigkeit auftreten, die aber bald zugunsten der Mehrheitssprache aufgegeben wird, so daß hier eher ein Transitionsstadium vorläge (cf. Fishman 1967:35). Die letzte Konstellation beschreibt den seltenen Fall einer isolierten Sprachgemeinschaft (ohne Sprachkontakt), welche im Lichte einer historischen Betrachtung meist nicht Bestand haben kann (cf. Fishman 1967:36–37).

Es bleibt diesbezüglich festzuhalten, daß das Schema von Ferguson bei der Anwendung auf zahlreiche Situationen verschiedener Sprachgemeinschaften, aktuelle wie historische, gewisser Differenzierungen bedarf, da die Konstellationen in ihrer Charakteristik zum Teil erheblich voneinander abweichen. Dennoch ist auch zu konstatieren, daß die Matrix von Fishman zum einen eine „Verwässerung“ des ursprünglichen Diglossiebegriffs nach sich zieht und zum anderen seine Unterscheidung nicht ganz widerspruchsfrei ist.84

Auch Kloss (1976:315–316) greift die wichtig gewordene Unterscheidung von Diglossie vs. Bilingualismus auf, und versucht dabei die Aporie zwischen der Auffassung von Ferguson und Fishman dahingehend zu lösen, daß er von ‚Binnendiglossie‘ (engl. in-diglossia) und ‚Außendiglossie‘ (engl. out-diglossia) spricht, indem er unter ersterer die Diglossie von verwandten Varietäten versteht und unter letzterer, die von unverwandten. Zudem weist er auf den Fall der Triglossie hin, wobei er einwendet, daß hier wiederum wie in der Konstellation in Luxembourg in der Regel verschiedene Diglossie-Situationen zugrundeliegen würden, denn zwischen Letzeburgisch und Schriftdeutsch bestehe ein binnendiglossisches Verhältnis, zwischen Letzeburgisch und Französisch hingegen ein außendiglossisches (Kloss 1976:322).

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