Kitabı oku: «Janowitz», sayfa 2

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Sie saß in ihrem Korbsessel neben dem Fenster. Sie sah zu, wie Sidonie, in Begleitung dieses Herrn Rilke, langsam in den vormittäglichen Parkgarten hineinging. Sie mochte den Dichter nicht. Sie hatte keinen Zugang zu seinen Versen, durch die andere, darunter Sidonie, in helle Verzückung versetzt werden konnten; es war auch, dass sie ihrerseits nicht genügend Deutsch verstand. Dabei lebte sie seit dreißig Jahren hier, doch sprach sie selbst jetzt immer noch mehr englisch als deutsch, so wie die Geschwister Nádherný miteinander mehr englisch als deutsch sprachen.

Sie hatten das Englische bei ihr und von ihr gelernt. Vor fast vierzig Jahren war sie, vermittelt durch die Kirche, von Irland nach Böhmen gekommen, um sich der Nádherný-Kinder anzunehmen. Sie, Tochter eines armen Kleinfarmers aus Kildare, war von Nonnen erzogen worden, in einem Kloster, wo es streng und freudlos zuging, wo es kalt und feucht war, wo es nach Armut, Weihrauch und fauligen Kartoffeln roch. Wo Mädchen wie sie, waren sie alt genug, zu unentwegt schwangeren Ehefrauen, zu Novizinnen oder zu Krankenschwestern heranwuchsen.

Da aber sie, die kleine Mary Cooney, sich als überdurchschnittlich begabt und anstellig erwies, erhielt sie das seltene Angebot, als Nurse in ein anderes katholisches Land zu gehen, nach Österreich.

Sie beherrschte die dortige Sprache nicht. Sie würde die dortige Sprache lernen wollen. Als sie eintraf, erkannte sie, dass jener Teil Österreichs, in dem sie sich befand, gleich zwei Sprachen hatte, Deutsch und Tschechisch, so wie es auch dort, wo sie herkam, zwei Sprachen gab, Gälisch und Englisch. Das Deutsche würde sie mit der Zeit erlernen, wiewohl nicht sehr vollkommen. Das Tschechische verstand sie nur wenig.

Sidonie und der Dichter, sah sie, entfernten sich. Die hohen Rhododendronbüsche verdeckten sie bald völlig. Mary hatte keine Kenntnis davon, wie lange der Dichter sich in Janowitz aufhalten würde, er war schon mehrfach Gast hier gewesen, einmal für mehrere Wochen.

Als sie selbst damals in Prag eintraf, nach einem umständlichen Transport zunächst mit dem Schiff, danach mit der Eisenbahn, sprach sie bei der hochschwangeren Baronin Nádherný vor. Die Unterhaltung war bloß kurz, kaum eine Viertelstunde, der Baronin lag eine ausführliche Empfehlung vor. Die Baronin sprach über die anstehenden Arbeiten, ihr Englisch war nicht gut. Anschließend fuhren beide Frauen nach Janowitz.

Mary war von ihrer neuen Umgebung überwältigt. Es gab keinen Hunger. Es gab keine Armut. Es gab warme Öfen und trockene Betten. Es gab Musik, die nicht bloß Orgelspiel und Choralgesang war. Gemeinsam mit der Baronin besuchte sie das sonntägliche Hochamt, die Predigten verstand sie anfangs nicht, die Liturgie war ihr vertraut von daheim, die Gebete konnte sie mitsprechen. An den Fronleichnamsprozessionen nahm sie, umgeben von tschechisch sprechenden Dörflern, ein Jahr ums andere teil, auch jetzt noch, wogegen sie die sonntäglichen Kirchgänge, seit die Baronin nicht mehr lebte, häufig ausfallen ließ. Sidonie und ihr Bruder Karl hielten wenig auf Religion.

Das älteste Kind der Baronin war Johannes, ein reizender kleiner Junge, den sie, Mary, augenblicklich mochte. Sie sah ihn heranwachsen. Die Zwillinge kamen zur Welt und wuchsen heran. Baron Carl Ludwig Nádherný und Borutín, ihr Vater, ein eleganter, äußerst lebenslustiger Mensch und leidenschaftlicher Jäger, starb an einer Lungenentzündung, gerade sechsundvierzig Jahre alt. (Der Dorfklatsch wisperte was von Syphilis, eine Lüge!) Der Tod traf die Familie sehr. Die Baronin wurde unleidlich und flüchtete sich tiefer in die Religion. Hauslehrer kamen ins Schloss, um die Kinder zu unterrichten, später, als Halbwüchsige, besuchten die Brüder in Prag ein Adelsinternat. Sidonie wurde weiterhin in Janowitz unterrichtet.

Sie, Mary, war dann eine Weile aus Janowitz fortgegangen. Den Kindern konnte sie nichts mehr beibringen, sie fühlte sich überflüssig, sie verstand sich nicht sehr gut mit der Baronin und wollte der Familie nicht zur Last fallen. Also ging sie nach Prag, wohnte in einer winzigen Dachkammer auf der Kleinseite und brachte anderen Kindern Englisch bei. Sie fühlte sich einsam. Die Stadt blieb ihr fremd. Einmal traf sie am Moldauufer Johannes, der an der Universität studierte, der sie lächelnd begrüßte und mit dem sie derart ins Gespräch kam. Er war es wohl, der dafür sorgte, dass die Baronin einen Brief verschickte des Inhalts, wenn Mary wolle, dürfe sie gerne nach Janowitz zurückkehren, welchem Angebot Mary umgehend Folge leistete.

Seither gehörte sie dort wieder zum Hausstand. Für das Personal im Schloss zählte sie zur Herrschaft, während die Baronin sie eher zum Personal rechnete. Die Nádhernýs nahmen sie mit auf ihre Reisen, nach Tirol, nach Italien, nach Frankreich und immer wieder nach Wien, wo ein Teil ihrer Verwandtschaft lebte.

Sidonie blieb ihr Liebling. Sidonie war die Tochter, die sie selbst nicht hatte und nie haben würde, wobei sie für Sidonie, spätestens, nachdem die Baronin gestorben war, so etwas wie die Ersatzmutter wurde. Sie nahm Anteil an Sidonies Leben. Sie wusste, wie sehr Sidonie ihren Bruder Johannes liebte, es war dies eine sehr innige, eine fast schon gefährliche Zuneigung. Johannes, das wusste sie, lenkte sich ab, indem er in vornehmen Prager Familien mit gelangweilten Damen und heiratsfähigen Töchtern verkehrte und leider auch in vornehmen Prager Freudenhäusern.

Das war überaus leichtsinnig. Die Baronin, seine Mutter, wusste vermutlich davon, aber wollte es nicht wahrhaben. Auch Sidonie wusste vermutlich davon, aber da sie ihren Bruder liebte, sah sie ihm das nicht nur nach. Damals fuhr sie häufig nach Prag, besuchte Ausstellungen und Museen, nahm sich schließlich dort sogar eine Wohnung, und dies alles geschah, da sie sich von dem Kunstmaler Max Švabinsky porträtieren lassen wollte.

Er war eine Bekanntschaft von Johannes, der Švabinskys Kunst bewunderte. Das Atelier des Malers befand sich in der Altstadt, nahe dem Pulverturm. Sidonies erste Besuche dort geschahen noch in Marys Begleitung. Der Maler war groß gewachsen, zwölf Jahre älter als Sidonie und verheiratet. Bilder mit Darstellungen seiner Frau hingen mehrere in seinem Atelier. Er selbst war ein eleganter Mensch mit blondem gestutztem Vollbart, schönen Händen und ausgesuchten Manieren. Es war unverkennbar, dass ihm Sidonie sehr gefiel und dass er Sidonie sehr gefiel.

Bei den späteren Atelierbesuchen verzichtete Sidonie auf Marys Begleitung. Was sich außer Aufenthalten zwecks Herstellung eines Porträtbildnisses begeben mochte, erfuhr Mary nicht. Sie sah bloß, dass Sidonie in dieser Zeit sich fast ausgelassen benahm, sie schien überaus glücklich zu sein, was sich dann freilich jählings änderte. Fortan wirkte Sidonie nervös, fahrig und hatte immer wieder verweinte Augen. Ihre Wohnung in Prag gab sie auf. Das Gemälde, das Švabinsky von ihr verfertigt hatte, hing inzwischen in Schloss Janowitz. Es zeigte die Baronesse im Halbprofil, sitzend auf einem grünen Sofa vor rotem Hintergrund.

Das Automobil hielt in Tabor. Kraus stieg aus, der Mietchauffeur fuhr weiter, da er den Tank füllen wollte. Kraus betrat ein Kaffeehaus, das er von früheren Aufenthalten kannte, er suchte sich einen Platz und bestellte einen Mokka. Der Kellner, klein, glatzköpfig und agil, war offenbar Tscheche, erkennbar an seinem Akzent. Ein paar Tische entfernt saßen zwei Offiziere, über ihnen, an der Wand, hing ein Bildnis des greisen Kaisers Franz Joseph.

Kraus dachte daran, dass Tabor so etwas wie ein Standort des tschechischen Nationalbewusstseins war. Hier hatten sich die radikalsten Anhänger des böhmischen Reformtheologen Jan Hus versammelt, unter Führung des einäugigen Jan Žižka, auf den der erste der Prager Fensterstürze zurückging. Hatte er, Kraus, eine Beziehung zum tschechischen Nationalbewusstsein? Er war in Böhmen geboren, in Gitschin, freilich schon als Dreijähriger mit den Eltern nach Wien gezogen, seither hatte er durchgängig in Wien gelebt. Die Tschechen waren eine österreichische Volksgruppe unter anderen, sie vertraten autonomistische Ansprüche, denen man nachgeben konnte oder nicht, jedenfalls bedrohten sie damit das ohnehin höchst fragile Gefüge des Kaiserreichs Österreich-Ungarn. Immerhin gab es auch Tschechen, die sich mit den obwaltenden Zuständen konfliktlos abfanden und es dabei zu ansehnlichen Karrieren brachten. Die Nádherný von Borutín aus Janowitz gehörten zu ihnen.

Erzherzog Franz Ferdinand, der soeben ermordete Thronfolger, hatte eine Aristokratin aus Böhmen geehelicht. Das böhmische Konopischt war sein Vorzugsaufenthalt gewesen. Er hatte sich für eine stärkere Unabhängigkeit der Tschechen eingesetzt, den sogenannten Tripelausgleich, wodurch Böhmen eine vergleichbare Autonomie erhalten sollte wie Ungarn. Das Vorhaben war in Wien auf höhnische Ablehnung gestoßen und hatte Franz Ferdinands ohnehin kümmerliches Ansehen weiter beschädigt. Sein Tod in Sarajevo war am kaiserlichen Hof auf kaum mehr als allerhöflichste Betroffenheit gestoßen.

Kraus mochte den toten Erzherzog. Er sah in ihm einen ungestümen altösterreichischen Boten, der eine kranke Zeit wecken wollte, auf dass sie nicht ihren Tod verschlafe, während diese nunmehr den seinen verschlief. So formuliert es der umfangreiche Nachruf im letzten Heft der »Fackel«. Franz Ferdinand war die Hoffnung dieses Staats für alle, die da glauben, dass gerade im Vorland des großen Chaos ein geordnetes Staatsleben durchzusetzen sei.

Er blickte zum Fenster. Auf der Scheibe saßen Fliegen, dahinter war der Turm der Marktkirche. Die beiden Offiziere riefen nach dem Kellner, sie nannten ihn Herr Jaroslav, die Offiziere benötigten neuen Veltliner.

Radikale Anhänger des Jan Hus hießen Taboriten, nach der Stadt, in der Kraus sich jetzt aufhielt. Unter den ansonsten eher sanftmütigen Böhmischen Brüdern vertraten sie die Sache der Gewalt und suchten schließlich halb Mitteleuropa militärisch heim. Kraus hasste den Krieg. Von den Böhmischen Brüdern wusste er nicht viel, er hatte sich, das war jetzt drei Jahre her, in der Wiener Karlskirche römisch-katholisch taufen lassen, nachdem er zwölf Jahre zuvor aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten war. Warum er dies getan hatte? Der gesellschaftliche Opportunismus, der den von ihm verabscheuten Heinrich Heine in die Konversion getrieben hatte, ließ sich bei ihm ausschließen. Dass er auch an der katholischen Kirche zweifelte, begann in jenem Augenblick, da er ihr beitrat. Es war möglich, dass er sie eines vielleicht gar nicht fernen Tages wieder verließ. In der »Fackel« stand: Ein Mediziner, der fromm ist? Er kann bestreiten, dass die Kirche einen guten Magen hat. Aber dass im Weihwasser Bakterien vorkommen, muss er unbedingt zugeben. Freilich hatte er dies vier Jahre vor seiner Taufe geschrieben.

Er blieb einmal geäußerten Ideen nicht unerschütterlich treu. Er verhielt sich darin nicht viel anders als in der Beziehung zu vormals geschätzten Personen. Er bekannte sich dazu. Er achtete durchaus auch Menschen, deren Überzeugungen er nicht teilen mochte, bei denen er gleichwohl Brillanz und Genialität erkannte. Das galt etwa für Otto Weininger. Ein Frauenverehrer stimme den Argumenten von dessen Frauenverachtung mit Begeisterung zu, hatte er einst dem Autor geschrieben, nach der Lektüre von »Geschlecht und Charakter«. Was faszinierte ihn an dem Mann, der sich umgebracht hatte, da er die eigene jüdische Existenz nicht länger ertrug? War es dessen Antisemitismus? Dem er, Kraus, seinerseits anhing, irgendwie? Die Juden, hatte Weininger gesagt, hielten nie etwas für echt, unumstößlich, heilig und unverletzbar, daher seien sie überall frivol und bewitzelten alles. Dem Juden Heinrich Heine hatte er, Kraus, Vergleichbares nachgeredet, der umfangreiche Aufsatz zum Thema war in jenem Jahr erschienen, da er sich hatte taufen lassen.

No, es liegt halt Pulverdampf in der Luft!, rief einer der beiden Offiziere. Er lachte dazu und hob sein Weinglas, die beiden Männer waren offenbar angetrunken. Die Aussicht auf einen Krieg schien sie zu beflügeln, sie waren Soldaten, Krieg war ihr Geschäft. Die Mordtat von Sarajevo konnte zu weiterem Blutvergießen führen, nicht bloß am Balkan; auf einem Tisch neben Kraus lagen mehrere eingespannte Zeitungen aus, die zwei deutschsprachigen Blätter Prags, auch ein tschechisches Journal, und natürlich, Kraus sah es voller Verachtung, die Neue Freie Presse aus Wien. Er sah Schlagzeilen, die von österreichischen Drohungen gegenüber Serbien handelten. Würde es zu einem militärischen Angriff führen? Gab es keine Diplomatie mehr? War die Politik ratlos oder blindwütig? Politik, hatte er einmal geschrieben, sei das, was man mache, um nicht zu zeigen, was man sei und was man selbst nicht wisse.

Hinter dem Fenster, sah er, hielt sein Automobil. Er rief nach dem Kellner, um seinen Mokka zu bezahlen. Als er aufstand, brachen die beiden Offiziere unvermutet in angetrunkenes Gelächter aus.

Sie waren eine halbe Stunde im Park unterwegs gewesen. Der Dichter schien erschöpft, offenbar hatten ihn sein Prag-Aufenthalt und die anschließende Fahrt nach Janowitz angestrengt. Auf den Wegen zwischen den Blumenrabatten hatte er Sidonies Hand ergriffen, um sie nicht mehr freizugeben, die seine war sonderbar kraftlos und etwas feucht. Sidonie fand die Berührung zudringlich, was ihr gleichwohl gefiel, sie zog ihre Hand nicht zurück.

Unter der Tür sagte Rilke, er wolle sich jetzt auf sein Zimmer begeben, um einen Brief zu vollenden. Der Brief, sagte er, gehe an Clara Westhoff, seine Frau.

Ah, sagte Sidonie, Sie sind noch verheiratet? Wollten Sie sich nicht scheiden lassen?

Es ergab sich nicht, sagte er. Ich fühle Verpflichtungen. Auch wegen Ruth, unserer Tochter. Sie wissen, wie hochbegabt Clara ist, denken Sie nur an die schöne Büste, die sie von Ihnen geschaffen hat. Sie ist eine Künstlerin durch und durch. Leider sehe ich die beiden zu selten, Clara und Ruth. Clara hat Verständnis dafür. Sie weiß, ich besitze unstete Nerven. Immerfort treiben mich Schmerzen, Neugierde, Unruhe, Sehnsüchte, auch Frauen. Sie treiben mich hierher. Wie kann ich zugleich bei Clara sein und bei Ihnen?

Hier sind Sie jedenfalls stets willkommen.

Er lächelte matt. Er liebkoste ihre Hand, verbeugte sich etwas und wandte sich der Treppe zu. Sie suchte sich einen Korbsessel und setzte sich neben ein Fenster. Sie griff nach dem Roman, den sie sich jüngst hatte schicken lassen, »The Man of Property« von John Galsworthy, der Autor, hatte sie gelesen, galt in Großbritannien als ein bedeutendes Talent. Sie blätterte in dem Buch, las ein paar Sätze und ließ es sinken.

Die Porträtbüste, die Rilkes Frau von ihr verfertigt hatte, war in Paris entstanden, auf Rilkes Drängen hin. Clara Westhoff war eine kräftige Frau mit vorspringendem Kinn, großen Händen und tiefer Stimme, der Dichter wirkte zierlich und unscheinbar neben ihr. Sidonie dachte an die Sitzungen im Atelier der Bildhauerin, die über viele Stunden gingen und in denen sie sich möglichst wenig bewegen sollte. So wie zuvor auch bei Max Švabinsky. Die Erinnerung an den Maler war nicht sehr angenehm. Er hatte ihr geschmeichelt, er hatte ihr geschrieben, er war zu Besuch nach Janowitz gekommen, zusammen mit einer ältlichen Person, die seine Ehefrau war. Er hatte von Sidonie Skizzen angefertigt, anschließend das große Porträt begonnen und sie berührt, flüchtig zunächst, dann intensiver, immer wieder, was ihr anfangs peinlich gewesen war, ehe es sie zu schmeicheln begann. Schließlich wurde sie seine Geliebte.

Für Švabinsky war es ein erotisches Abenteuer, deren er mehrere hatte. Vielleicht dachte er, dass sie es ähnlich nahm, aber sie nahm es nicht so, vielmehr brachte sie in die Beziehung ein hohes Maß an Gefühl, Zuneigung und Anhänglichkeit ein. Sie legte sich eine Wohnung zu in Prag. Sie traf den Geliebten heimlich, Švabinsky, ein verheirateter Mann, hatte bei der gutbürgerlichen Gesellschaft Prags, in der und von der er lebte, auf seinen Ruf zu achten. Die Sache ging über eine längere Zeit, bis Švabinsky erkennen ließ, dass er die Affäre zu beenden gedachte, da er dabei war, eine neue Beziehung einzugehen, die zu seiner Schwägerin Anna Vejrychová.

Bei Sidonie hinterließ das alles eine tiefe Erschütterung. Sie fühlte sich hilflos. Sie fühlte sich gedemütigt und missbraucht. War sie wirklich missbraucht worden? Sie hatte in die Affäre eingewilligt. Sie hatte es getan, ohne zu bedenken, ob die Sache beständig sein könne. Die Verbindung einer jungen Aristokratin mit einem Künstler von eher zweifelhaftem Ruf hätte, öffentlich geworden, als gesellschaftlicher Regelverstoß gegolten. Das hätte sie gerne ausgehalten. Sie war belesen genug, um die konservativen Moralvorstellungen ihres Milieus nicht zu teilen, in einer der alten Zeitschriften, die ihr Bruder Johannes mitgebracht hatte, fand sie diesen Satz: Eine je stärkere Persönlichkeit die Frau ist, desto leichter trägt sie die Bürde ihrer Erlebnisse. Hochmut kommt nach dem Fall.

Übrigens war es Johannes gewesen, der den Kontakt zwischen ihr und Švabinsky hergestellt hatte, da er die Bilder des Malers schätzte, die persönliche Begegnung mit diesem gesucht und ihm dann den Auftrag für ein Porträtbildnis seiner Schwester Sidonie erteilt hatte.

Sidonie stürzte sich in eine Italienreise. Mailand, Genua, Siena, Venedig, Florenz. Alte Gebäude, Denkmäler, Museen, Natur. In Mailand begann sie eine Affäre mit einem jungen italienischen Advokaten, auch er verheiratet, damit wollte sie die quälenden Erinnerungen an Švabinsky betäuben, was ihr leidlich gelang. Sie kehrte nach Böhmen zurück und nach Janowitz. Im Schloss hing als unübersehbare Gedächtnisstütze das große Gemälde, das Max Švabinsky von ihr angefertigt hatte. In ihr Tagebuch notierte sie die Idee, dass die schönste erquicklichste Liebe allein jene sei, die dem Temperament folge, nicht dem Herzen. Fortan wollte sie für die Liebe ihre Freiheit nicht aufgeben und ebenso wenig die Liebe für die Freiheit.

In der Zeitschrift, die ihr Bruder Johannes zurückgelassen hatte, stand noch dieser Satz: Die Dummheit einer ganzen Welt stellt sich das Geschlechtsleben als eine Sache der Einteilung oder als die geradlinige Resultante ethischer Entschließungen vor. Der Satz entsprach völlig ihrer nunmehrigen Überzeugung. In einem anderen Heft las sie einen mit »Die Frauen« überschriebenen Vierzeiler:

Ob sündig oder sittenrein?

Lasst sie doch lieber gleich begraben!

Ich teile sie in Gefallene ein

Und solche, die nicht gefallen haben.

Es waren dies die ersten Male, dass sie mit der »Fackel« von Karl Kraus in Berührung kam.

In seinem Zimmer legte Rilke den begonnenen Brief an seine Ehefrau Clara beiseite, da er zunächst an Lou Andreas-Salomé schreiben wollte. Warum wollte er dies? Lou war seine erste leidenschaftliche Liebesbeziehung gewesen, sie hatte ihn gehalten, geführt, aufgehoben und plötzlich fallen gelassen, den tiefen Schmerz darüber fühlte er immer noch. Er schrieb ihr Briefe. Er schrieb ihr alles, was ihn bewegte, wo er sich befand, wen er traf, was und wen er liebte, wie er sich fühlte, worunter er litt. Worunter litt er derzeit? Es waren so banale, doch auch existentielle Dinge wie seine Finanzen. Er hatte nicht genügend Geld. Er unterhielt eine kostspielige Bleibe in Paris, er war häufig unterwegs und wohnte, wenn er bei keiner seiner aristokratischen Freundinnen nächtigte, in hochfeinen, also teuren Hotels. Das Unterwegssein war ihm Bedürfnis und war ebenso Flucht: vor sich selber, vor seinen Liebschaften, vor der Welt. Ich bin wie die kleine Anemone, die ich einmal in Rom im Garten gesehen habe, sie war tagsüber so weit aufgegangen, dass sie sich zur Nacht nicht mehr schließen konnte. Es war furchtbar, sie zu sehen in der dunkeln Wiese, weit offen, immer noch aufnehmend in den wie rasend aufgerissenen Kelch, mit der vielzuvielen Nacht über sich, die nicht alle wurde.

In diesem Augenblick durchfuhr ihn ein Schmerz. Betroffen war wieder der rechte Unterkiefer, also jener Zahn, dessen scharfe Kante er mit seiner Zunge erspüren konnte. Das letzte Mal hatte ihn diese Beschwernis gestern ereilt, bei der Bahnfahrt von Prag nach Beneschau, der Schmerz hatte bald nachgelassen und sich dann ganz verflüchtigt, dass er nicht mehr daran denken musste. Was sollte er jetzt tun? Einst hatte ihm seine Mutter beigebracht, Zahnschmerzen zu betäuben, indem man eine Gewürznelke in die kariöse Öffnung tat. Wie sollte er hier, in Janowitz, zu einer Gewürznelke gelangen? Sollte er hinuntergehen in die Schlossküche und das Dienstpersonal fragen? Wie hieß Gewürznelke auf Tschechisch? Hastig durchkramte er seine Unterlagen, fand das Röhrchen mit dem Aspirin, nahm eine der Tabletten und schluckte sie, nachdem zuvor sich genügend Speichel in seiner Mundhöhle gesammelt hatte.

Er unterließ es auch, jetzt an Lou zu schreiben. Briefe an die einstige Geliebte waren keine den äußeren Umständen geschuldete Notwendigkeit, sie waren ein eingeübter Reflex. Er dachte an die derzeit letzte seiner Freundinnen, vor der er geflohen war, auch hierher nach Janowitz, zu der schönen Baronesse Sidonie. Magda hatte um seinetwillen auf Konzerte verzichtet, sie hing an ihm, sie hing ihm an, er war mit ihr durch halb Europa gereist, Berlin, Innsbruck, Genf, die Lombardei, Venetien, in Paris kam es, bei einem Opernbesuch, zu der unvorhergesehenen und überaus peinlichen Begegnung mit einer seiner früheren Geliebten, der hemmungslosen Marthe Hennebert. Die war, als er erstmals mit ihr schlief, noch minderjährig gewesen. Bei Bekannten, auch bei Sidonie, hatte er damals um Geld gebettelt, das Marthe zugutekommen sollte. Nunmehr, in Begleitung von Magda, traf er sie wieder, unter der pompösen Stuckdecke des Palais Garnier.

Die Aspirin-Tablette schien zu wirken. Der Schmerz in seinem Unterkiefer ließ etwas nach. Er atmete auf.

Seine Verbindung zu Magda hatte mit inständigen Briefen begonnen, die sie ihm schrieb, adressiert an seinen Leipziger Verlag, der die Schreiben an ihn weiterreichte. Er antwortete ihr umgehend, die Korrespondenz wurde lebhaft, er nannte sie Benvenuta. Schließlich trafen sie sich, in einem Berliner Hotelzimmer, und kamen voneinander nicht los. Sie spielte für ihn, Beethoven, Bach, Scarlatti, er besuchte mit ihr die Prinzessin Marie von Thurn und Taxis, seine Gönnerin, der Magda offensichtlich gefiel, und wieder einmal fasste er den Plan, sich von Clara scheiden zu lassen, damit er Magda heiraten konnte. Benvenuta, liebes, liebes Herz – bist du nicht in Wahrheit meine jungfräuliche Mutter, mein Kind, mein liebes, liebes Mädchen? Du, mit deinem goldenen Panzer, an dem alles Unechte und Verdorbene zerschellen muss! Du wirst, du musst nicht anders können, Benvenuta, als diese reine Erhebung meines Gemütes zu dir, diese Andacht meiner Natur zu fühlen, wo du auch seist.

Der Schmerz in seinem Unterkiefer war schwächer geworden, doch nicht gänzlich vergangen. Sollte er eine weitere Aspirin-Tablette schlucken? Er stellte sich vor den Spiegel, der über dem Lavoir hing, und besah sein Abbild. Der linke Unterkiefer war angeschwollen, die Schwellung war nicht auffällig, doch unübersehbar. Er musste etwas unternehmen. Er kannte einen Zahnarzt, dem er völlig vertraute, der aber in Berlin saß, und wie sollte er auf die Schnelle von Janowitz nach Berlin gelangen? Er verließ sein Zimmer, ging die Treppe hinab, suchte nach Sidonie und traf sie, sitzend in einem Korbsessel und vertieft in ein Buch. Wie zufällig verdeckte er das Kinn mit der Hand. So vertraute er sich Sidonie an. Die Angelegenheit war ihm peinlich.

Sidonie nickte. Sie stand auf und ging, um zu telefonieren. Als sie zurückkam, sagte sie, dass sie einen Termin vereinbart habe.

Sie setzte Rilke in ihr Automobil und brachte ihn nach Beneschau. Während der Fahrt dorthin kehrten die Schmerzen mit Heftigkeit zurück. Er betastete die Schwellung. Sie schien größer geworden, die Haut darüber fühlte sich taub an. Entstellte ihn die Schwellung? Machte sie ihn hässlich? Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, ich war schwer von Schweiß, und es kreiste ein betäubender Schmerz in mir, als ob in meinem Blute etwas zu Großes mittriebe, das die Adern ausdehnte, wohin es kam. So stand es in seinem Roman.

Sidonie brachte ihn in die Praxis des Zahnarztes Václav Poláček, eines jungen Menschen mit breiten Schultern und muskulösen Armen. Rilke setzte sich in den Behandlungsstuhl und öffnete seinen Mund. Sidonie wartete in einem Nebenraum. Poláček injizierte ein Betäubungsmittel, dann warf er, als die Betäubung eingetreten war, seinen Bohrer an. Rilke schloss die Augen. Er vernahm das schreckliche Bohrgeräusch und fühlte es in seinem Schädel. Als er die Augen wieder öffnete, sah er nah über sich das großporige Gesicht des Arztes, der einen rötlichen Schnurrbart trug. An der Wand stand, auf einem Regal, eine Vase mit verblühenden Pfingstrosen, darüber hing ein Kruzifixus. War Poláček nicht vielmehr ein jüdischer Name? Waren die Eltern des Arztes vielleicht rechtzeitig konvertiert, dass sie ihr Kind nach dem heiligen Wenzel benennen konnten?

Der Zahnarzt setzte den Bohrer ab. In fast akzentfreiem Deutsch sagte er, dass er Rilke eine Goldplombe einsetzen wolle. Die Rechnung dafür, wusste Rilke, würde Sidonie begleichen.

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