Kitabı oku: «Janowitz», sayfa 3
Karl von Nádherný, von Angehörigen und Freunden Charlie gerufen, begab sich, als seine Schwester den Dichter Rilke in ihr Automobil gesetzt hatte, um ihn nach Beneschau zu fahren, in sein Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch häuften sich Unterlagen und Akten. Seine Aufgabe war es, sämtliche wirtschaftlichen Entscheidungen der Domäne zu fällen und zu überwachen, das betraf Äcker, Weiden, Gebäude, Teiche, Viehbesitz, Ernteerträge, Fischfänge, Einkäufe, Fahrzeuge, Maschinen, Pachten und Löhne. Sidonie war an Ökonomie nicht interessiert und verließ sich dabei völlig auf ihren Bruder. Nach dem Tode des Vaters hatte zunächst sein Bruder Johannes die Verwaltung übernommen. Charlie hatte ihm bloß dabei geholfen. Johannes hatte auch den Einfall gehabt, zusätzliches Land einschließlich zweier Siedlungen zu kaufen, bezahlt aus einer auf die Familie gekommenen Erbschaft. Die Nádhernýs rückten damit zu einem der größten agrarischen Unternehmer der Region auf.
Johannes war tot. Er war der Liebling der Mutter gewesen, und ebenso hatte Sidonie sich entschiedener an Johannes angeschlossen als an ihn, Charlie, den das etwas kränkte und der sich auch sonst von der Familie zurückgesetzt fühlte.
Johannes hatte sich vor einem Jahr umgebracht. Über seine Gründe wurde ungern gesprochen, meist war von Schwermut die Rede. Gesund war Johannes schon länger nicht gewesen, er war abgemagert, hatte sich eine schwere Gelenkverletzung zugezogen und war depressiv, doch zeigte er sich dann auch wieder überraschend fröhlich und genesen. In etlichen renommierten Sanatorien hatte er Kuren angetreten, die ihm zu helfen schienen.
Johannes war liebenswürdig. Die Leute mochten ihn. Er war umfassend interessiert, las viel, besuchte Kunstausstellungen, sammelte Bilder und Möbel, an der Prager Universität hatte er Philosophie belegt. Die intime Beziehung zu seiner Schwester änderte sich, als Sidonie ihre wechselvolle Liebesbeziehung mit dem Kunstmaler Švabinsky begann, von der niemand erfahren sollte und von der die gesamte Familie gleichwohl wusste. Johannes seinerseits fasste eine leidenschaftliche Neigung zu Niny Mladota, seiner Jugendfreundin aus dem Nachbarschloss Červeny Hrádek, der er Liebesbriefe schrieb und die seine Gefühle leider nicht erwiderte. Er tröstete sich damit, dass er in Prager Bordellen verkehrte, wo er sich gleich zwei Krankheiten einfing, Gonorrhoe und Lues. Davon sollte niemand erfahren, und die gesamte Familie wusste es gleichwohl. Johannes ließ sich behandeln. Die Therapie schien anzuschlagen, aber dies war nicht von Dauer. Schwarz wie der Himmel stehe vor ihm die Welt, schrieb er in einer Notiz. Am 28. Mai 1913 nahm er sich in München das Leben.
Sidonie war unterwegs, als es geschah. Sie hatte mit May-May, ihrer Vertrauten, eine längere Reise angetreten, nach Livorno, Neapel, Sizilien und schließlich, auf einem Schiff, nach Tunesien. Als der Selbstmord geschah, befand sie sich in Paris, wo die Frau des Schriftstellers Rilke eine Porträtbüste von ihr anfertigte. Die Nachricht vom Tod ihres geliebten Bruders, wusste Charlie, erschütterte sie zutiefst. Sie war verzweifelt. Sie gab sich eine Mitschuld, da sie sich zuletzt mit Johannes mehrmals gestritten hatte. Rilke wusste sie aufs Einfühlsamste zu trösten, mit langen Briefen, die sie Charlie zu lesen gab, schon weil darin regelmäßig Grüße an ihn standen. Rilke schickte immer wieder Briefe nach Janowitz.
Er, Charlie, hatte den sonderbaren Dichter eigentlich gern. Die von ihm gemachten Verse verstand er nicht, aber der Mensch gefiel ihm, und die Eigentümlichkeiten, die Rilke an den Tag legte, fand er putzig. Rilke machte seiner Schwester den Hof, was ihr guttat, da sie es zu genießen schien, immer waren es abwechslungsreiche Tage und Abende, wenn Rilke, wie eben jetzt wieder, sich in Janowitz zu Besuch aufhielt. Auch sonst sorgte Sidonie dafür, dass Gäste kamen, es gab Gespräche, es gab Musik, sie spielte auf dem Flügel, Stücke von Frédéric Chopin, den sie sehr mochte.
Draußen hielt ein Automobil. Offenbar waren Sidonie und Rilke aus Beneschau zurückgekehrt. Charlie verließ sein Arbeitszimmer. Es war, sah er dann, nicht Sidonies Wagen, der angekommen war, vielmehr ein anderes Fahrzeug. Der Mann, der ihm entstieg, war der Schriftsteller Karl Kraus aus Wien.
Als er ausstieg, kam der Hund auf ihn zugelaufen, Bobby, Sidis Leonberger. Charlie rief das Tier zurück, Charlie reichte ihm die Hand und sagte, Sidonie sei noch unterwegs, sie bringe den Dichter Rilke zu einer Zahnbehandlung, nach Beneschau. Also gab es einen weiteren Gast in Janowitz. Kraus wusste, dass Sidi die Dichtungen Rainer Maria Rilkes schätzte, was er so hinnahm.
Er entlohnte den Mietchauffeur, der ihn nach Janowitz gebracht hatte. Der Domestik Ludvik übernahm das Gepäck. Charlie geleitete ihn ins Schloss.
Sidi kam kurz darauf. Kraus sah vom Fenster aus, wie sie vorfuhr. Der zierliche Mensch, der zusammen mit ihr dem Automobil entstieg, war der Dichter Rilke, den er flüchtig kannte, von einer Veranstaltung in Wien. Rilke hielt die linke Hand an der Wange, während er mit der rechten Sidonies bloßen Oberarm streichelte, was Kraus missfiel.
Seine Begrüßung Sidonies geschah überaus förmlich. Wenn, wie jetzt, Dritte zugegen waren, pflegten die beiden einander mit Sie anzureden. Sidonie wollte ihre zwei Gäste miteinander bekannt machen, worauf Kraus sagte, man sei sich schon früher begegnet. Rilke war sichtlich erstaunt: Ach, sagte er, wir kennen einander?
Wir sind uns in Wien begegnet.
Sehen Sie mir nach, wenn ich es vergessen habe? Ich treffe zahllose Menschen.
Ich auch.
Behalten Sie alle im Gedächtnis?
Alle.
Ich weiß nicht, ob ich Sie darum beneiden soll. Das Vergessen kann eine Gnade sein.
Worauf Kraus entgegnen wollte, dergleichen sei die übliche Behauptung von Leuten mit mangelhaftem Erinnerungsvermögen. Er unterließ es. Rilke nahm seine linke Hand herab. Kraus sah, dass die Wange des Dichters geschwollen war, es flößte ihm etwas Mitleid ein. Zudem mochte er jetzt, in Sidis Anwesenheit, Rilke nicht kränken.
Er kannte sie nun seit fast einem Jahr. Die erste Begegnung hatte im pompösen Plüsch des Wiener Café Imperial stattgefunden, wo er sich mit Thun getroffen hatte, einem guten Bekannten, der mit vollem Namen Maximilian Graf von Thun und Hohenstein hieß, aus der böhmischen Linie des Hauses. Im Widerspruch zu den Gepflogenheiten seiner Familie war er nicht Offizier geworden, sondern hatte Medizin studiert und praktizierte als Sportarzt und Spezialist für Bewegungsschäden. Er vertrat die Theorie, die ursprüngliche Gangart des Menschen sei jene auf allen vieren, was er auch als gymnastische Therapie zu verordnen pflegte, mit unterschiedlichem Erfolg. Außerdem hatte er die Absicht, sich zu Studienzwecken Affen zuzulegen, was Kraus höchst possierlich fand.
Max war weitläufig verwandt mit den Nádhernýs, wovon Kraus anfangs nichts wusste. Max und Sidonie waren an jenem Nachmittag verabredet, wovon Kraus gleichfalls nichts wusste. Er sah, dass eine groß gewachsene, sehr elegante und ungewöhnlich schöne Frau an ihren Tisch trat, wo sie von Max überschwänglich begrüßt wurde, ehe er sie mit Kraus bekannt machte. Kraus bemerkte, dass die Baronesse ihn unentwegt anstarrte, in einer sonderbaren Mischung aus Erstaunen und Erschrecken. Später würde er erfahren, dass er sie an ihren soeben aus dem Leben geschiedenen Bruder erinnerte. Sie würde ihm fotografische Bilder von Johannes zeigen, auf denen er kaum Ähnlichkeiten mit sich selbst entdecken konnte, schon da Johannes groß gewachsen war, größer noch als Sidonie und ihr Zwillingsbruder Karl. Wie auch immer, Sidonies Blicke waren fast eine Berührung. Er spürte, wie das Blut in seinen Schläfen zu klopfen begann.
Sie redeten. Sie redeten viel. Sidonies Stimme klang angenehm, ihre Äußerungen waren eigenwillig und in der Wortwahl präzis. Max mischte sich ständig ein, es wurde deutlich, dass er intensiv um Sidonies Zuneigung warb, was Kraus verstörte. Zu dritt brachen sie auf, um eine Ausstellung zu besuchen.
Der Rundgang dort dauerte eine Stunde. Sie besahen und beredeten Exponate, denen es um Schönheit, die Kultur, die Geschichte von Landschaften rund um die Adria ging. Dann musste Max sich verabschieden, zu seinem heftigen Bedauern, wie er sagte, doch seine ärztliche Sprechstunde werde in Kürze beginnen. Kraus und Sidonie blieben zusammen. Ihm war jetzt, als sei sie ihm schon sehr lange bekannt. Seit dem Tode von Annie Kalmar hatte er keine Frau getroffen, die ihn derart beeindruckte. Aber was hieß hier beeindruckt: Er war dabei, dieser Frau zu verfallen.
Er winkte einer Droschke. Es war ein schöner Septembertag. Zusammen ließen sie sich in den Prater fahren. Sie verließen das Gefährt, Sidonie nahm seinen Arm, durch den Stoff des Ärmels hindurch spürte er ihre Hand. Sie gingen und redeten. Sie erzählte von ihrem Bruder Johannes, den sie sehr geliebt habe, den sie nun vermisse und dessen unerwarteter Tod ihr weiterhin zusetze. Ihm fielen Verse ein, die er geschrieben und veröffentlicht hatte, zwei Jahre nach dem Tod von Annie Kalmar, in Erinnerung an sie und als Trost für sich selber:
Der Tod kommt bald und sicher,
Hält stets sich in der Näh.
Er ist ein fürchterlicher
Tröster im Erdenweh.
Ich hasse ihn nicht aus Liebe,
Ich liebe ihn nur aus Hass.
Wenn man unsterblich bliebe,
Wie grauenvoll wäre das!
Er sagte die Verse auf, ohne an Annie Kalmar nur zu denken. Sidonie nickte dankbar. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Er spürte, wie das Blut in seinen Schläfen stärker zu klopfen begann.
So fing es an. Sie trafen sich schon am nächsten Tag wieder. Sie trafen sich in seiner Wohnung an der Lothringer Straße, später waren sie gemeinsam auf Reisen und trafen sich in Hotels. Noch lieber fuhr er zu ihr nach Janowitz. Das Schloss wurde ihm vertraut, er liebte den Park, die Wege im Park, den Teich, die Umgebung, die von Sidonie angelegten Rabatten. Dass der Pianist, der ihn bei seinen öffentlichen Auftritten begleitete, Janowitz hieß, mit Vornamen Franz, war ein hübscher Zufall und vielleicht mehr als das.
Er lernte Sidonies Bruder Karl kennen, den er manchmal dann auch in Wien traf, wenn der junge Baron in Geschäftsdingen unterwegs war und vielleicht noch zu irgendwelcher Zerstreuung. Nach geltendem Recht hatte Karl mitzuentscheiden, wenn seine Schwester eine Ehe zu schließen gedachte. Entgegen früheren Überzeugungen, zu denen er sich in der »Fackel« wiederholt bekannt hatte, dachte Kraus jetzt ernsthaft darüber nach, ob er die Baronesse Sidonie von Nádherný und Borutín vielleicht heiraten sollte.
Am Abend, nach dem Diner, setzte sich Sidonie an den Flügel und begann zu spielen, eine Valse von Frédéric Chopin. Karl Kraus hatte sie darum gebeten. Sie spielte, so empfand es Rilke, ziemlich gut, wiewohl nicht annähernd so perfekt wie Magda von Hattingberg. Die hatte ihn mit Beethoven verwöhnt, immer wieder, die Sonaten Beethovens wurden für ihn ein Auftakt zu körperlicher Umarmung und Liebe. Verglichen damit erschien ihm Chopin als wohlklingendes Geklimper. Freilich war es, dass er, was er wusste, mit Musik nicht so gut umgehen konnte wie mit Bildender Kunst, von der er vieles kannte und wusste, zu schweigen von der schönen Literatur, in der er, wie viele ihm nachrühmten und was er ihnen gerne glaubte, eine Art gottgleicher Herrscher war.
Er saß wenige Schritte von Kraus entfernt, in dessen scharfkantigem Gesicht Sidonies Spiel einen Ausdruck vollkommener Hingebung erzeugte. Die Beziehung zwischen dem Kritiker und der Baronesse beschäftigte ihn. Gewöhnlich gingen die beiden recht förmlich miteinander um, einmal jedoch, es war dies am späten Nachmittag gewesen, die beiden wähnten sich wohl allein, vernahm Rilke ein Gespräch zwischen den beiden.
Sidonie flüsterte: Sei leise. Ich bitte dich.
Kraus fragte: Warum?
Man könnte dich hören.
Soll man doch. Sowieso werden es bald alle erfahren.
War also die Förmlichkeit zwischen den beiden bloß vorgeschoben? War sie inszeniert, um die wahre Natur ihrer Beziehung zu verbergen? Wie aber standen sie wirklich zueinander? Welche Intimität herrschte zwischen ihnen? Hatten sie ein sexuelles Verhältnis? Der Gedanke daran beunruhigte Rilke.
Kraus war zwei Jahre älter als er. In der Größe glichen sie einander, mit schöner Literatur hatten sie beide zu tun. Rilke erinnerte sich eines Textes in der »Fackel«, darin es hieß, er, Rilke, habe einen Weg erfahren zwischen sich und der Welt, und durch die vielen Wände des Bewusstseins hindurch, auch durch sie filtriert, sei Gott in seine Welt gestiegen. Das war mehr als schmeichelhaft. Es ging um das »Stundenbuch«, das Kraus in der Nachfolge des großen Angelus Silesius sah. Auch das war mehr als schmeichelhaft. Rilke hatte daraufhin der »Fackel« einen eigenen Prosatext angeboten, es ging darin um Franz Werfel, der, wie er selbst, aus Prag stammte und dessen Verse er ausführlich lobte, Kraus hatte seinerseits Werfel abgedruckt, was als ein Sympathiebeweis gelten musste. Leider hatte Rilke übersehen, dass der Lyriker bei Kraus inzwischen in Ungnade gefallen war: Er sei ein Kindheitsvirtuos, der in Prag alle befruchte, sodass dort die Lyriker sich vermehrten wie Bisamratten. Nun war es nicht so, dass Rilke eine unbedingte Begeisterung für Werfels Gedichte spürte. Werfel war nichts als ein kleiner dicker Jude aus Prag. Jedenfalls wurde Rilkes Text in der »Fackel« nicht abgedruckt und auch nicht retourniert.
Die Chopin-Valse war zu Ende. Kraus klatschte enthusiastisch, was durch Rilke eine höfliche Ergänzung erfuhr. Charlie und Mary Cooney taten es ihm gleich. Sidonie nickte und sagte, sie wolle jetzt eine Nocturne spielen, wiederum von Chopin.
Rilke empfand die Anwesenheit von Kraus als eine lästige Störung, da er selbst es gewohnt war, im gesellschaftlichen Mittelpunkt allein zu stehen. Kraus beanspruchte das Interesse der anderen durch seine bloße Anwesenheit. Die Art, wie er redete und sich im Schloss bewegte, ließ zudem erkennen, dass er mit Janowitz vertraut war, sich also häufig hier aufhielt, jedenfalls häufiger als Rilke.
Beim Diner vorhin, Rilke aß einen Salat aus Rucola und Schafskäse, dazu Weißbrot, während den anderen am Tisch Räucherfisch, kalter Braten nebst Schinken serviert wurde, hatte Kraus das Gespräch dominiert.
Irgendwann hatte Rilke ihn gefragt: Äußern Sie immerfort nur die boshaftesten Bemerkungen?
Die Antwort von Kraus war: Ich bin berühmt dafür.
Worauf Sidonie ausführlich zu lachen anfing, was Rilke kränkte.
Während er jetzt dem Vortrag der Nocturne lauschte, dachte er darüber nach, ob es vielleicht angebracht wäre, dass er baldmöglichst aus Janowitz abreiste. Dann dachte er an seine Zahnbehandlung, die noch nicht abgeschlossen war. Er griff an seine linke Wange. Die Schwellung war fühlbar zurückgegangen. Seine Zunge betastete das von Václav Poláček in seinen Molar gebohrte Loch, das demnächst mit einer Goldplombe gefüllt werden sollte. Bis dahin würde er in Janowitz zu bleiben haben. Außerdem wäre die vorzeitige Abreise das Eingeständnis einer Niederlage, was ihm sein Selbstbewusstsein verbot.
Die Nocturne klang aus. Das Ritual des Beifalls wiederholte sich. Sidonie erhob sich von ihrem Klavierschemel, lächelte verlegen und deutete eine Verbeugung an. Sie trug ein Kleid mit weitem Ausschnitt, ähnlich jenem, das sie auf dem großen Gemälde mit ihrem Porträtbildnis trug, das Ding hing im Treppenhaus des Schlosses. Rilke bedachte, dass seine vorzeitige Abreise auch ein Verzicht auf die Nähe der schönen Baronesse bedeuten würde, und das mochte er sich keinesfalls antun.
Das Gästezimmer von Kraus in Schloss Janowitz befand sich unmittelbar neben jenem von Rainer Maria Rilke. Die beiden Männer hatten sich am Abend höflich voneinander verabschiedet. In Rilkes Zimmer war alles still. Wahrscheinlich hatte sich der Dichter bereits zu Bette begeben, vielleicht las er oder schrieb einen seiner vielen Briefe. Sidonie hatte Karl Kraus die für sie bestimmten Schreiben Rilkes gezeigt, Kraus hatte sie aufmerksam gelesen. Die Schrift war schön, entschieden schöner als seine eigene, der Wortlaut war von lyrischer Eleganz, mit einem gewissen Hang zum Pathos und manchmal stark parfümiert.
Rilke umwarb Sidonie. Das war zu erkennen, aus seinen Briefen ebenso wie in seinem Verhalten hier in Janowitz. Dies alles musste Kraus nicht verunsichern, aber es verunsicherte ihn. In seinen Augen war der Dichter ein eitler Sonderling mit traurigem Walrossbart, seine zahlreichen erotischen Erfolge, von denen der Wiener Kaffeehausklatsch wusste, ließen sich durch sein Äußeres kaum erklären. Demnach waren es seine Dichtungen, die seine Wirkung auf Frauen hervorriefen. Der Enthusiasmus, mit dem Sidonie von Rilkes Versen redete, war dafür ein Indiz. Mehr bewirkte es bei Sidonie nicht. Dass es mehr hätte bewirken können, verdross Karl Kraus.
In Rilkes Zimmer blieb es weiterhin ruhig, doch im Haus gab es Geräusche. Vielleicht war noch Dienstpersonal zugange, oder Charlie war unterwegs.
Kraus mochte Janowitz. Er mochte es sehr. Ein Aufenthalt hier war für ihn der vollkommene Gegenentwurf zu seinem Leben in Wien. Dies hatte mit Sidonie zu tun, und wiewohl er sie auch anderswo traf, in Wien oder auf Reisen, bedeutete ihm erst Janowitz die Vollendung seiner Liebe zu ihr. Um dessentwillen nahm er sich ihres Bruders Charlie an, wenn der in Wien weilte, um geschäftliche Dinge zu regeln, mit dem er dann abends ins Theater ging, um ihn anschließend beim Entree des noblen Stundenhotels Orient am Unteren Graben abzuliefern. Wie hatte er einst geschrieben? In der Liebe gibt es nichts Anstößiges, solange der unbeteiligte Moralrichter nicht seine Nase hineinsteckt und die Nachtwandler zur Besinnung ruft.
Janowitz war der Gegenentwurf zu seinem Leben in Wien, Sidonie war der Gegenentwurf zu seinem früheren, auch in der »Fackel« nachlesbaren Frauenbild. Persönlichkeit des Weibes ist die durch Unbewusstheit geadelte Wesenlosigkeit. Oder auch: Nichts ist unergründlicher als die Oberflächlichkeit des Weibes. Oder: Der Mann hat fünf Sinne, die Frau bloß einen. Bloß einen? Im Weib, als dem ausschließlich sexuellen Wesen, kann auch die Abkehrung zum eigenen Geschlecht nicht antisozial wirken. Weil: Die Natur hat dem Weib die Sinnlichkeit als den Urquell verliehen, an dem sich der Geist des Mannes Erneuerung hole.
Das alles hatte er so notiert. Es war seine Überzeugung gewesen, obschon er Annie Kalmar gekannt und geliebt hatte. Erst seit er Sidonie begegnet war, sah er die Dinge anders.
Er öffnete die Tür einen Spalt und lauschte. Im Haus war alles still. Er trat auf den Flur, er überquerte den Flur, leise, niemand sollte ihn hören. Nicht nur Rilke schlief auf dieser Etage, auch Sidonies Bruder Charlie hatte hier seine Räume. Niemand durfte hören, niemand sollte wissen, was Kraus hier unternahm. Eigentlich war die Situation mehr als peinlich, eigentlich war sie unmöglich, war geradezu demütigend, und nichts war Kraus verhasster, als gedemütigt zu werden. Sidonie hatte ihn nachdrücklich um diese Vorsicht gebeten. Allein um ihretwillen verhielt er sich so, dabei war er längst entschlossen, die Sachlage zu ändern.
Vorsichtig öffnete er die Tür zu dem Zimmer, in dem Sidonie schlief, und schlich hinein.
Sie tastete nach dem silbernen Etui auf ihrem Nachttisch, öffnete es und entnahm eine Zigarette, die sie anzündete. Es war das nach einer vollzogenen Kohabitation bei ihr übliche Verhalten. Karl Kraus missfiel dies, doch mochte sie davon nicht lassen. Die Streiterei deswegen gehörte zu den kleinen Kontroversen, die es zwischen ihnen gab.
Sie sah, wie sich die ausgeatmeten Rauchwölkchen im Licht der Nachttischlampe verloren. Neben ihr griff Kraus nach seiner Brille und setzte sie auf. Mit beiden Armen umschlang er seinen nackten Oberkörper, seine rechte Schulter stand erkennbar höher als die linke.
Sidi, sagte er, hör mir zu. Ich will mich endlich nicht mehr mit dir verstecken müssen. Ich will nachts nicht mehr heimlich in dein Zimmer schleichen.
Ach, Karl. Du weißt, dass ich Rücksichten nehmen muss. Wie sehr sie mich auch quälen. Wir sind nicht allein hier, auf dieser Etage.
Du redest von Rilke?
Auch.
Wie lang will er noch bleiben?
Ich weiß es nicht. Er hat es mir nicht gesagt. Rilke kommt und geht, wie er mag, so war er schon immer. Außerdem hat er gerade eine Zahnbehandlung, in Beneschau.
Der Kerl stört mich.
Bist du eifersüchtig?
Muss ich das sein?
Manchmal kommt es mir so vor.
Ich mag ihn nicht sonderlich. Als Person. Er ist wehleidig, affektiert und verlogen.
Du bist ungerecht.
Ich sage dir meinen Eindruck.
Dann sage ich dir den meinen. Rilke ist ein bedeutender Dichter. Seine Gedichte sind voller Empfindsamkeit und Wohlklang. Sie sind schön.
Sollte dies das Einzige sein, worin wir bei Rilke unterschiedlicher Meinung sind, wäre ich es zufrieden.
Er hat ein bedeutendes Publikum.
Das habe ich auch.
Beneidest du ihn um das seine?
Nein. Das seine besteht aus verwöhnten Adelsdamen mit viel Geld. Er feiert sie samt ihren Schlössern, zum Lohn dürfen sie ihn aushalten.
Du redest auch von mir?
Ich rede von seinen anderen Blaublüterinnen. Manche sind etwas welk. Die von Thurn und Taxis zum Beispiel, ihre Sippe wurde vor dreihundert Jahren geadelt. Du bist bloß Freifrau und bist es erst anderthalb Jahrzehnte. Ich erwähne das, damit du weißt, welchen Rang du bei Rilke einnimmst.
Mich interessiert nicht, welchen Rang ich bei ihm einnehme.
Dann ist alles gut.
Er erhob sich und zog seinen dunkelblauen Nachtmantel über. Die Bekleidung machte, dass der Stand seiner rechten Schulter weniger auffiel. Auf nackten Sohlen ging er zum Fenster und starrte hinaus. Im oberen Fensterrand, sah Sidonie, stand ein blanker Dreiviertelmond.
Vor einem Jahr, sagte sie, ist mein Bruder Johannes gestorben. Du hast ihn nicht gekannt, Rilke kannte ihn. Er hat von dem Tod erfahren und hat mir umgehend geschrieben. Ich kann seinen Brief auswendig: Niemand, der weiß, was Unfassliches Ihnen widerfahren ist, kann versuchen, in Worten etwas von dem zu versichern, was er empfindet, mag ihm das Herz noch so deutlich und innig zureden.
Das klingt verschroben. Findest du nicht?
Nein.
Begreif doch, dass dieser Mensch in Wahrheit immerfort bloß von sich selber redet.
Sein Brief hat mich damals sehr getröstet.
Rilke kennt immer nur sich.
Darin unterscheidet er sich nicht besonders von Karl Kraus.
Ich liebe dich, Sidi. Die Aufmerksamkeit, die du Rilke gibst, nimmst du mir fort.
Komm endlich schlafen.
Er drehte sich vom Fenster fort und sah sie an. Auf seinen Brillengläsern lag der Widerschein des Lichts ihrer Nachttischlampe. Er sagte:
Lass uns heiraten, Sidi.
Sie zuckte zusammen. Es war, als habe man ihr einen kleinen Stoß versetzt. Sie zerdrückte den Rest ihrer Zigarette in der Schale einer Jakobsmuschel. Einst waren solche Schalen das Erkennungszeichen von Pilgern gewesen, die ins galicische Santiago di Compostela zogen, zum Grab des heiligen Jakobus. Bedeutete ihre Profanierung der Muschel zum Aschenbecher ein willkürliches Sakrileg?
Ich habe darüber nachgedacht, sagte Kraus. Ziemlich lange, und das ist das Ergebnis: Ich möchte dich heiraten, Sidi.
Das ist dein Ernst?
Mein völliger Ernst.
Da das Halten wilder Tiere gesetzlich verboten ist und Haustiere dir kein Vergnügen machen, wolltest du lieber unverheiratet bleiben. So hast du geschrieben.
Ich habe vieles geschrieben. Ich habe auch geschrieben, die Ehe sei eine Mesalliance.
Ich erinnere mich.
Man kann seine Meinung ändern. Ich habe die meine geändert. Weil ich dich kenne und seit ich dich kenne. Ich liebe dich, Sidi. Warum wollen wir nicht heiraten?
Ich denke, mein Bruder Charlie wäre damit nicht einverstanden.
Wir brauchen seine Einwilligung nicht.
Das Gesetz schreibt es vor.
Wir werden das Gesetz missachten.
Das hätte üble Folgen. Charlie würde mir alle materielle Zuwendung sperren. Augenblicklich.
Wir brauchen seine Zuwendung nicht. Außerdem dürfte er längst wissen, wie ich zu dir stehe.
Ich fürchte, er weiß es nicht. Wir haben nie darüber geredet. Eine Ehe mit dir wäre in seinen Augen ein Missgriff. Er möchte mich standesgemäß verheiraten. Er ist stolz auf unseren Adelsrang.
Der ist keine hundert Jahre alt.
Trotzdem. Oder gerade deshalb.
Er löste sich vom Fenster und kehrte zurück zu ihrem Bett. Er hockte sich neben sie und fasste ihre Hände.
Du bist mir, sagte er, immer noch eine Antwort schuldig. Sidi.
Ich weiß. Lass mich darüber nachdenken.