Kitabı oku: «Janowitz», sayfa 4

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Rilke sollte zum Zahnarzt Václav Poláček fahren. Diesmal würde ihn nicht Sidi chauffieren, vielmehr würde er jene Kutsche benutzen müssen, die ihn vom Bahnhof Beneschau abgeholt hatte. Es war ein trüber Tag, der Niederschlag bringen konnte. Das Gefährt besaß einen Regenschutz, der fürsorglich aufgespannt worden war.

In der Kutsche würde seine Fahrt deutlich länger dauern als in Sidonies Automobil. Er trug Briefe bei sich, hellblaue Couverts, es war dies die von ihm bevorzugte Papierfarbe. Er würde die Sendungen in Beneschau aufgeben, da er vermeiden wollte, dass man in Schloss Janowitz von den Adressatinnen und dem Umfang seiner Korrespondenzen allzu viel erfuhr.

Einer der Briefe ging an Prinzessin Marie von Thurn und Taxis. Darin schilderte er eingehend seinen augenblicklichen Seelenzustand und erwähnte dabei, wie nebenher, seine finanziellen Nöte. Er hoffte, es würde der Prinzessin eine entsprechende Zuwendung entlocken. Zusätzlich wollte er erfahren, ob Marie eine neue Séance veranstaltet und ein neues Medium gefunden habe. An einer von Maries spiritistischen Sitzungen hatte er teilgenommen, und der Verlauf hatte ihn sehr bewegt.

Ein anderer Brief ging an Magda von Hattingberg. Die bestand nach wie vor auf einer raschen Wiederbegegnung, die er in ebenso höflichen wie kunstvollen Formulierungen abzulehnen wusste. Er spürte deutlich, dass er ihrer inzwischen etwas überdrüssig geworden war. Trotzdem ist alles gut, schrieb er ihr, war ich doch zutiefst in deiner Seele, in deinem Herzen, wie das Kind in der Mutter. Derart gedachte er sie zu trösten.

Der dritte Brief ging an Loulou Albert-Lazard. Sie war eine seiner jüngeren Bekanntschaften, eine Frau mit überraschend freizügigen Ansichten hinsichtlich der körperlichen Liebe, darin nicht unähnlich ihrer Vornamensschwester Andreas-Salomé. Loulou wusste einige Gedichte von ihm auswendig und ließ ihn erkennen, dass sie ihn auch körperlich begehrte, was ihn ebenso faszinierte wie erschreckte. Sie selbst war verheiratet, mit einem sehr viel älteren Münchner Fabrikanten, der durch seine Erfindungen in Sachen Fotografie und den Handel damit ein Vermögen angehäuft hatte. Es kam seiner Frau zugute und war für Rilke ein zusätzliches Motiv des Interesses. Loulou hatte ein Kind, das bei Verwandten aufwuchs. Sie liebte die Unabhängigkeit, die Kunst, den Luxus, Frankreich und Rilke. Geboren war sie in Metz, als Tochter eines Bankiers, in München hatte sie Malerei studiert. Dass Du endlich gekommen bist, schrieb ihr Rilke. Bin ich nicht von jeher auf Dich zugegangen? Loulou war allerdings nicht nur nicht adelig, sie war außerdem Jüdin.

Sie war Jüdin, wie Karl Kraus Jude war. Mit dem lebte Rilke zurzeit unter einem gemeinsamen Schlossdach und musste sich fortwährend die Frage stellen, wie es um das wahre Verhältnis zwischen Kraus und Sidonie bestellt war. Dass die beiden eine Liebesbeziehung hatten, war eindeutig. Dass sie diese Beziehung zu verbergen suchten, machte die Angelegenheit aufregend. Die Prinzessin Marie hatte ihm, Rilke, einmal geschrieben, er sei verliebt, immerzu verliebt, was die reine Wahrheit war, und derart hatte er sich in Sidonie verliebt.

Er hatte es ihr zu verstehen gegeben, in seiner Art, mit sanften Berührungen und ausführlichen Briefen. Sie schien nicht unbeeindruckt. Wem also neigte sie mehr zu, ihm oder Kraus? Rilke wusste es nicht, und dies ärgerte ihn. Noch mehr ärgerte ihn, dass er bei Sidonie einen Wettbewerber hatte, der ihm womöglich überlegen war. Gab der Umstand, dass er selbst jetzt nach Beneschau in einer Kutsche fahren musste statt mit Sidonie in deren Automobil, womöglich ein Hinweis? Oder war Sidonies Automobil bloß defekt? Solche Maschinen, das wusste er von Prinzessin Marie, verhielten sich überaus launisch.

Es begann zu regnen. Tropfen fielen auf die Überspannung und erzeugten ein Trommelgeräusch. Der Kutscher rief dem Pferd etwas zu und ließ dazu seine Peitsche schnalzen.

Rilke dachte an Kraus. Der Mann besaß einen scharfen jüdischen Verstand, für den er auch berühmt war. Seine Prosa war gelenkig, doch fehlte ihr jene Behutsamkeit, die ihm, Rilke, im Übermaß zur Verfügung stand. Worauf würde sich Sidie lieber einlassen? Sie war eine Frau, und Frauen verlangten nach Behutsamkeit, auch bei ihren Lektüren.

Die Kutsche fuhr durch Beneschau. Der Regen hatte aufgehört, Rilke bat den Kutscher zu halten. Er sprang aus dem Wagen und warf am Straßenrand seine drei Briefe in einen Postkasten. Dann stieg er wieder ein. Die Kutsche fuhr weiter, bis zu dem Haus mit der Ordination des Zahnarztes Václav Poláček.

Rilke war jetzt fest entschlossen, die Konkurrenz mit Karl Kraus durchzustehen.

Seit mehreren Jahren ließ sich Karl von Nádherný die Londoner Zeitung The Times schicken. Sie traf in Janowitz mit Verspätung ein, Charlie hatte da die wichtigen Neuigkeiten bereits den Prager und Wiener Blättern entnommen, die er sich außerdem hielt. In der Times überflog er die Wirtschaftsmeldungen, die ihn und die österreichischen Regionen selten betrafen, hauptsächlich bezog er das Blatt für May-May, seine einstige Erzieherin.

Die las The Times am späten Vormittag, unmittelbar nach deren Eintreffen. Sie las in der Bibliothek, gewöhnlich in Charlies Anwesenheit, der seinerseits in die Neue Freie Presse aus Wien vertieft war. So auch jetzt. Wie üblich suchte sie zunächst die Obituaries, die ausführlichen Nachrufe also, in denen es um Personen ging, die ihr völlig unbekannt waren. Danach las sie die Gesellschaftsnachrichten.

Auf der zweiten Seite entdeckte sie eine Überschrift betreffend die Regierung in Wien. In dem zugehörigen Artikel ging es um den Mord in Sarajevo, um Diplomatie, um Russland, Deutschland, Serbien und einen möglichen Krieg, in den auch England hineingezogen werden könnte. May-May las es und wusste nicht, ob ein solcher Krieg, wenn er denn stattfand, unmittelbare Folgen für ihre Person haben könnte, schließlich besaß sie weiterhin die britische Staatsbürgerschaft.

Sie fragte Charlie, was er von der Sache halte. Wie üblich sprachen die beiden miteinander englisch. Charlie, rauchende Tabakspfeife im Mund, ließ seine Zeitung sinken und sagte, nach seiner Kenntnis sei das Vereinigte Königreich von dem Konflikt nicht unmittelbar betroffen. May-May wollte wissen, ob man da sicher sein könne.

Sicher, sagte Charlie, sei in der großen Politik gar nichts.

Wie es denn überhaupt zu dem Konflikt gekommen sei? Was das Attentat auf den Kronprinzen damit zu tun habe?

Charlie nahm die Pfeife aus dem Mund, legte sie in einen kristallenen Aschenbecher und begann mit einer ausführlichen Erklärung.

Das Kaiserreich Österreich-Ungarn sei, wie May-May wahrscheinlich wisse, ein Vielvölkerstaat. Das sei seit Langem so, und trotz aller Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen habe es sich in dieser Form halten können. Gleich hinter Ungarn beginne der Balkan. Das sei eine mehr als unruhige und komplizierte Gegend, spätestens seit die osmanischen Türken sich von dort völlig zurückgezogen hätten. Immerfort bloß Intrigen, Spannungen, Religionsstreitigkeiten, Verschwörungen, Bürgerkrieg. Um an der Südflanke seines Reiches Frieden zu schaffen, habe Österreich vor ein paar Jahren die Herrschaft über die Territorien Bosnien und Herzegowina angetreten. Der Friede habe auch gehalten, aber er habe gefährliche Gegner erbracht, voran das Königreich Serbien. Sarajevo, Ort des Attentats, sei die Hauptstadt von Bosnien. Dort habe der Erzherzog die Ansprüche der Krone repräsentieren sollen. Mit seiner Frau sei er im offenen Wagen durch die Stadt gefahren, was vielleicht etwas leichtsinnig gewesen sei, denn an einer Straßenecke seien die beiden dann heimtückisch niedergeschossen worden. Das habe wohl eine Art Fanal des serbischen Widerstands bedeuten wollen. Der Attentäter sei ein Verschwörer, seine Hintermänner säßen im Königreich Serbien und würden von der dortigen Regierung gedeckt. Wien warte dringlich auf eine Erklärung aus Belgrad, auf eine Entschuldigung, auf die Verfolgung und Bestrafung aller Verschwörer. Soviel er wisse, werde die Wiener Regierung dies demnächst fordern.

Was denn mit England sei, wollte May-May wissen.

Serbien und Russland seien verbündet, sagte Charlie. Russland wiederum sei verbündet außer mit Frankreich auch mit England.

Und?

Falls Serbien militärisch angegriffen werde, träten diese Bündnisse in Kraft. Gegner von Russland sei neben Österreich-Ungarn noch das mit diesem verbündete und sehr mächtige Deutschland.

Ob Serbien tatsächlich angegriffen werde?

Niemand wisse das. In Wien gebe es Kräfte, die einen militärischen Angriff unbedingt wollten. Sofern er, Charlie, die Zeitungen richtig lese, gebe es ähnliche Kräfte auch in Berlin.

Ein großer Krieg also?

Der wäre die Folge.

What will happen to me?, fragte aufgeregt May-May. Was dann aus ihr würde?

Man werde schon eine Lösung finden, sagte Charlie. I’m sure we’ll find a solution.

Er nahm seine Tabakspfeife aus dem kristallenen Aschenbecher und entzündete sie neu. Er rauchte, griff nach seiner Zeitung, der Neuen Freien Presse, und las darin weiter. Dass er aktiv an einem möglichen Krieg teilnehmen müsse, war unwahrscheinlich, wusste May-May. Als er früher zu einer Offiziersausbildung hatte antreten wollen, war er ausgemustert worden, aus gesundheitlichen Gründen.

Am einem der folgenden Abende las Rilke aus seinen Arbeiten. Sidonie hatte ihn mehrmals darum gebeten. Zunächst hatte er sich etwas geziert und erwähnte körperliches Unwohlsein in der Folge seiner Zahnbehandlung. Inzwischen trug er seit Tagen eine funkelnde Goldkrone in seinem Gebiss, die, wenn er den Mund öffnete, so beim Verzehr seines Körnerbreis, auch zu erkennen war.

Als Sidonie Rilke gebeten hatte, war Kraus zugegen gewesen. Er hatte nichts gesagt, wiewohl ihn die Sache ärgerte. Selber hatte er eine öffentliche Lesung des Dichters schon erlebt, vor langer Zeit, in Wien, Sidonie kannte er damals noch nicht. Seine Erinnerung an jenen Abend war diffus, er wusste bloß, dass Rilke zu leise gesprochen hatte. Jetzt konnte er herausfinden, ob sich daran etwas geändert hatte. Wenn er selbst seine Texte vor Zuhörern sprach, geschah dies mit schneidend scharfer und für jedermann verständlicher Stimme. Er tat das regelmäßig.

Draußen im Park war Dämmerung. Das Dienstpersonal hatte Kerzen aufgestellt und angezündet. Die Zuhörer waren außer Kraus, Sidonie, Charlie und May-May Rilkes Zahnarzt aus Beneschau mit seiner Frau, einer hochbusigen Blondine, außerdem Sidonies Freundin Pejačevič, die erst diesen Nachmittag eingetroffen war, Kraus hatte sie zuvor nie gesehen. Rilke trug seinen hellen Anzug mit der fliederfarbenen Krawatte. Den für ihn bereitgestellten Sessel verschmähte er und wollte lieber, wie er es gewohnt war, im Stehen vortragen.

Er begann mit etlichen seiner Dinggedichte. Dazu hielt er ein Buch in den Händen, aus dem Papierstreifen als Lesezeichen heraushingen, kleine weiße Zungen. Manche seiner Verse wusste er auswendig. Seine Stimme war melodiös und hatte einen starken oberdeutschen Akzent.

Unter den Gedichten waren »Der Panther«, »In einem fremden Park« und »Die Fensterrose«. Der Park befand sich offensichtlich in Skandinavien, von einer Freiin Brite Sophie war die Rede, doch dieser Name hätte ganz gut Freiin Sidonie lauten können, eine gewisse Klangähnlichkeit war gegeben, und also war mit dem Park ebenso der von Janowitz gemeint.

Was stehst du oft? Was hören deine Ohren?

Und warum siehst du schließlich, wie verloren,

die Falter flimmern um den hohen Phlox.

Es blühte viel Phlox in Janowitz. Auch Schmetterlinge flatterten hier reichlich. Kraus drehte den Kopf zu der neben ihm sitzenden Sidonie, die ein dankbares Lächeln zeigte, offenbar hatte sie Rilkes Verse genau so verstanden wie von Kraus geargwöhnt und von Rilke wohl gemeint.

Draußen, hinter den Fenstern, breitete sich Dunkelheit aus. Sterne begannen zu flimmern. Sidonie winkte einem Diener, dass er die weißen Tüllgardinen vor die Scheiben zog, es machte den Raum intimer.

Kraus entdeckte, dass er sich der Eindringlichkeit von Rilkes Wortkunst nicht völlig entziehen konnte. Wieso war ihm niemals der Einfall gekommen, selbst derartige Verse zu verfassen? Hantierte er nicht gleichfalls mit Versmaß und Reim? Was er dann von sich selbst in »Die Fackel« setzte, klang durchweg kalt und spöttisch, in der Manier des von ihm geschätzten Frank Wedekind. Wieso schrieb er keine zärtlichen Verse über die Natur, über Landschaften, über Frauen, über die Liebe? Wieso probierte er dies nicht?

Rilke schien Sidonies dankbares Lächeln bemerkt zu haben. Sein Vortrag wurde sicherer. Er las weitere Park-Gedichte, er las ausführliche Strophen über eine Rosenschale und las »Archaischer Torso Apolls«. Hier lauteten die abschließenden Worte: Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern. Kraus bemerkte, wie Rilke ihn dabei ansah. Mit dem Menschen, der da sein Leben ändern sollte, sollte offenbar er, Karl Kraus, gemeint sein, was nichts anderes als eine sublime Frechheit war.

Rilke goss aus einer für ihn bereitstehenden Karaffe Wasser in ein Glas und trank. Dann sagte er, dass er seit Längerem an einer großen Arbeit sitze, eine Serie von Elegien, die zu vollenden ihm bislang nicht vergönnt gewesen sei. Drei habe er fertiggestellt und bereits aus der Hand gegeben, und es sei ihm ein Bedürfnis, die erste davon an diesem von ihm so geliebten Ort vorzutragen.

Er nahm ein paar hellblaue Papierbögen zur Hand und las ab:

Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel

Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme

einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem

stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts

als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,

und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,

uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.

Kraus war irritiert. Was wurde denn hier ausgesagt? Es ging um einen Engel, der einen menschlichen Aufschrei hörte. Möglicherweise würde er sich des Schreiers annehmen. Um welchen Engel handelte es sich? Bekannt waren Namen wie Michael, Gabriel und Raphael, alle drei Erzengel, was zu der vom Dichter behaupteten Ordnung passen würde. Engel waren himmlische Boten. Nach Lehre des Scholastikers Thomas von Aquin handelte es sich bei ihnen um wesenlose Geschöpfe, die, weil keinen Blutkreislauf, auch kein Herz hatten, an das sie jemanden hätten nehmen können. War hier das Herz bloß eine Metapher? Wie aber konnte einer Metapher ein so starkes Dasein haben, dass jemand daran verging, also sich auflöste? Alles erhabener Unsinn. Wie aber stand es um die Behauptung, das Schöne sei bloß des Schrecklichen Anfang? Sie widersprach aller normativen Ästhetik und aller allgemeinen Erfahrung. Dass dieses Schön-Schreckliche auf Zerstörung verzichtete, nun ja, man konnte es bewundern. Dass aber sämtliche Engel schrecklich seien, verstieß gegen alle christliche Theologie. War Rilke nicht römisch-katholisch getauft, so wie er, Karl Kraus?

Draußen, vor den Fenstern, wurde es Nacht. Hinter die transparenten Gardinen hatte sich ein abnehmender Mond gesetzt. Die Kerzen flackerten, in deren Widerschein der kleinwüchsige Rilke wie ein Priester wirkte.

Von sich selbst hingerissen, skandierte er weiter. Seine im Hölderlin-Ton abgefasste Klage über menschliche Unzulänglichkeiten erwähnte Getier, Bäume, Liebende, Jungverstorbene. Der wenig bekannte griechische Halbgott Linos kam vor, ebenso Gaspara Stampa, eine venezianische Hure und Dichterin aus der Renaissance. Die überquellende Flut aus dunklen Bildern und rätselhaften Anspielungen floss, hexametrisch gegliedert, aus Rilkes schnurrbärtigem Mund. Kraus entschloss sich, das aufwendige Wortgeklingel des Dichters endgültig nicht zu mögen. Er blickte auf die neben ihm sitzenden Sidonie. Diesmal lächelte sie nicht. Kraus vermutete, dass ihr die eben gehörte Elegie Verständnisprobleme bereitete. Wenn Rilke auf sie Eindruck machen wollte, hatte er sich hier vertan.

Der trank erneut aus dem Wasserglas. Er sagte dann, er wolle mit einem früheren Gedicht schließen. Es heiße »Der Dichter«, Kraus verstand dies so, dass Rilke damit sich selber meinte:

Du entfernst dich von mir, du Stunde.

Wunden schlägt mir dein Flügelschlag.

Allein: was soll ich mit meinem Munde?

mit meiner Nacht? mit meinem Tag?

Ich habe keine Geliebte, kein Haus,

keine Stelle auf der ich lebe.

Alle Dinge, an die ich mich gebe,

werden reich und geben mich aus.

Abermals erfolgte der Vortrag auswendig. Kraus sah, dass Sidonie tief beeindruckt war, ihm schien auch, als habe sie feuchte Augen. Rilke blickte zu ihr hin, während er sein Buch schloss, um es in seine Jackentasche zu tun. Er nickte, lächelte und verbeugte sich tief. Kraus hegte den Verdacht, Rilke habe mit seiner Textauswahl, seiner Lesung, seinen Inhalten seinen unbedingten Besitzanspruch auf Sidonie anmelden wollen.

Charlie wurde zu einem Unfall gerufen. Einer seiner Pächter hatte sich bei der Arbeit an einer Maschine verletzt. Es bestand die Anweisung, dass in solchen Situationen der Gutsherr umgehend zu benachrichtigen sei. Charlie ließ sein Pferd satteln und ritt ins Dorf.

Der Unfall erwies sich als nicht so schwer, wie zunächst angenommen. Der Pächter, ein junger Tscheche, hatte sich den linken Arm gebrochen, die Fraktur war offen, aus dem Ärmel tropfte Blut. Charlie veranlasste, dass ein provisorischer Verband angelegt und eine Kutsche gerufen wurde, die den Verletzten zur ärztlichen Behandlung nach Beneschau brachte.

Nach seiner Rückkehr ließ Charlie sich einen Tee servieren. Es war jetzt später Vormittag. Er griff nach der Neuen Freie Presse vom Tag und las:

Der österreichisch-ungarische Gesandte Freiherr v. Giesl hat der serbischen Regierung Donnerstag abends um sechs Uhr eine Note überreicht. Die Antwort muss binnen achtundvierzig Stunden gegeben werden, und die Frist zu einer friedlichen Auseinandersetzung wird am nächsten Samstag um sechs Uhr abends verflossen sein. Binnen achtundvierzig Stunden wird somit die Entscheidung über Krieg und Frieden fallen.

Bei der Note, von der die Rede war, handelte es sich erkennbar um jene politische Initiative, über die seit mehreren Tagen spekuliert wurde. Die Ermordung des Kronprinzen lag inzwischen fast einen Monat zurück. Dass die Serben sich zu keinerlei Maßnahme entschlossen hatten, war ebenso merkwürdig wie die vierwöchige Zurückhaltung Österreich-Ungarns. Der alte Kaiser weilte, wie um diese Jahreszeit üblich, in Bad Ischl, seinem Sommeraufenthalt. Dies ließ sich als ein Zeichen prinzipieller Friedfertigkeit deuten. Zugleich war zu lesen von auffälligem Kommen und Gehen höchstrangiger Regierungsleute bei Franz Joseph, der seinen Aufenthalt im Salzkammergut jederzeit abbrechen konnte.

Charlie legte die Zeitung beiseite. Er nahm seine Tabakspfeife und stopfte sie. Er dachte an das Gespräch, das er mit May-May über die politische Situation geführt hatte. Der Krieg war nun wahrscheinlicher geworden. Was, wenn er tatsächlich ausbrach? Aktiv würde er, Charlie, daran nicht teilnehmen können, da er keinerlei militärische Ausbildung besaß.

Musste er sich deswegen grämen? Er war eine friedfertige Natur. Seine Familie stand allem Soldatischen eher fern. Mit ihrem slawischen Herkommen hatte das wenig zu tun, der auf staatliche Eigenstaatlichkeit drängende Radikalismus der Jungtschechen war ihr fremd. Er selbst hatte in Graz studiert, Rechtswissenschaften, er war dort promoviert worden und hatte danach in einem Prager Amtsgericht gearbeitet, für einige Zeit, bis er der Bitte seines Bruders Johannes nachkam, an der Verwaltung von Janowitz mitzuwirken. Er war Jurist, und Juristen waren patriotische Gesellen.

Karl Kraus kam vorbei, sah die Zeitung und fragte, ob er sie lesen dürfe. Natürlich durfte er.

Ich hasse das Blatt, sagte Kraus. Um es hassen zu können, muss ich es ausführlich zur Kenntnis nehmen.

Sie reden von Hass?

Ja. Der muss produktiv machen. Sonst ist es gleich gescheiter, zu lieben.

Kraus griff nach der Zeitung und hielt sich die Titelseite nahe an die kurzsichtigen Augen.

Oh, sagte er. Ziemlich dramatisch, was ich lese. Schlampig formuliert, so wie immer.

Es könnte zum Krieg kommen, sagte Charlie. Oder sehen Sie das anders?

Ich sehe es nicht anders.

Vielleicht brauchen wir diesen Krieg?

Das ist nicht Ihr Ernst.

Ich denke darüber nach. Vielleicht brauchen wir so was wie einen Aufbruch.

Einen Aufbruch? So. Und was soll er uns bringen? Die Erlösung? Den Untergang?

Um das zu erfahren, müsste man ihn angehen.

Auch wenn es den Kopf kostet?

Krieg hat immer mit Tod zu tun hat.

Vorgefasstes Töten heißt Morden. Die Mörder sitzen an der Kassa der Weltgeschichte, sozusagen, sie nehmen Siege ein und notieren den Umsatz in Blut. Wenn dieser Krieg ausbricht, lieber Charlie, werden wir alle auf einem blutigen Schlachtfeld aufwachen.

Charlie hätte hier antworten können, dass der Krieg vielleicht eine nationale Prüfung sei. Alles Kranke, Überflüssige, Verderbte, das existiere, könne durch ihn beseitigt werden. Er stärke die Kräfte. Er setze neue Ziele. Er schaffe ein anderes Bewusstsein. Das alles sagte Charlie nicht. Im Disput war er Kraus unterlegen. Der war gegen diesen Krieg, und vielleicht war er gegen jeden Krieg. Wie in allen seinen Haltungen und Meiningen verhielt er sich auch hier wieder radikal.

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