Kitabı oku: «Ein Leben für Ruanda», sayfa 4

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Kapitel II
Kindheit, Schulen und Internat in Belgien

Margrit Fuchs kam am 28. März 1917 in der Wohnung der Familie am Kapellenweg 5 in Windisch zur Welt. Die Schwester des Vaters, die in Genf lebte, trug den gleichen Namen wie sie; Margrit war damals ein überaus beliebter Mädchenname, bei Katholiken und Reformierten. Die heilige Margrit oder Margarethe war nämlich eine Märtyrerin aus dem 3. Jahrhundert, die vor allem bei schwangeren Frauen viel Verehrung genoss. Sie versprachen sich von ihrer Fürbitte eine Geburt ohne Schmerzen und Komplikationen. Die heilige Margarethe wird auf Bildern oft mit einem Drachen dargestellt, da sie nach der Legende von einem solchen verschlungen wurde. Sie trug jedoch ein kleines Kreuz bei sich und befreite sich damit unversehrt aus dem Bauch des Untiers – eine gewisse Parallele zu Jonas aus der Bibel, der aus dem Bauch eines Wals wieder ausgespuckt wird. Wie auch ihre Schwester Elisabeth und ihre Stiefschwester Anna wurde Margrit im Familienkreis mit einer Verkleinerungsform, Gritli, angesprochen.

Unter Margrits Spielkameraden waren die Kinder der Familie Knecht, die in der Nähe des Kapellenwegs eine Fuhrhalterei betrieb; unter diesen Kindern war der zwei Jahre jüngere Walter Knecht. Damit war der Grundstein gelegt für eine Beziehung, die Margrit fast ihr ganzes Leben lang begleitete. Auf der Windischer Klosterzelg betrieben einige Frauen seit 1922 einen Kindergarten; ob Margrit diesen besuchte, lässt sich aber nicht feststellen. 1924 wurde sie in der Dorf-Primarschule in Windisch eingeschult. Rund 50 Kinder, Buben und Mädchen gemischt, wurden von einer jungen Lehrerin, Fräulein Matter, in der ersten Klasse unterrichtet. Doch eines Morgens war Fräulein Matter nicht mehr da – sie war mit einem verheirateten Mann durchgebrannt, und zwar nach Argentinien. Für die Kinder war das ein Schock. Die Erwachsenen sprachen nicht offen über die Gründe; man war peinlich berührt und wollte das vor den Kindern nicht ausbreiten. Fräulein Wacker sprang in die Lücke und unterrichtete Margrit bis zur vierten Klasse, danach übernahm für ein Jahr Lehrer Muntwiler. Er war eine markante Persönlichkeit, ein Sozialist, mit überzeugendem Engagement für die Armen und Schwachen. Später wurde er in Zürich Vorsteher des Vormundschaftsamts. Margrit konnte es aber offenbar nicht so gut mit diesem Lehrer Muntwiler. Sie empfand ihn als parteiisch und schrieb dies später dem Umstand zu, dass sie aus einer katholischen Familie stammte. Doch sie muss eine fleissige und intelligente Schülerin gewesen sein, denn 1929 wechselte sie an die Bezirksschule Brugg in die Mädchenklasse. Daneben war sie bereits in der Kirche aktiv; ein Foto aus dieser Zeit zeigt sie als stolze Erstkommunikantin.

Die Bezirksschule in Brugg war eine andere Welt. Schülerinnen und Schüler aus Windisch stellten damals das grösste auswärtige Kontingent: Eine Aufstellung nach Herkunft aus dem Schuljahr 1935/36 zeigt, dass es neben den 150 Schülern aus Brugg 84 aus Windisch gab, dazu weitere 19 aus den «Landgemeinden» des Bezirks. Die Eltern auswärtiger Kinder mussten separat bezahlen. Für die betroffenen Familien war der Besuch der Bezirksschule dadurch mit einem beträchtlichen finanziellen Aufwand verbunden. Einige der Brugger Schülerinnen und Schüler kamen aus recht wohlhabenden Familien; entsprechend auffällig waren die sozialen Unterschiede, etwa bei der Bekleidung oder den Frisuren: Die Windischer Mädchen, darunter auch Margrit, trugen noch Zöpfe, die Bruggerinnen aus vornehmen Häusern hatten modische Kurzhaarschnitte. Hinzu kam, dass Kinder aus katholischen Familien in Windisch gleich doppelt «benachteiligt» waren: einerseits als Windischer, andererseits als Katholiken. In einer nach wie vor überwiegend reformierten Gegend hielten sich die Katholiken in der Öffentlichkeit und in der Schule zurück und versuchten, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Neun Hauptlehrer, alle männlich, sowie einige, teils weibliche, Hilfslehrerinnen und Hilfslehrer, führten ein strenges Regiment an der Schule: Der Unterricht begann jeden Tag um 7 Uhr und dauerte bis 11 Uhr, danach gab es Nachmittagslektionen von 14 bis 16, manchmal auch bis 17 Uhr. Am Dienstagnachmittag standen für die Knaben, in bester Kadettentradition, militärische Übungen, Exerzieren genannt, auf dem Stundenplan, die Mädchen hatten stattdessen Koch- und Haushaltungsschule. Das Pensum und die Fächervielfalt waren beachtlich: In der dritten Klasse galt es, Kenntnisse in 16, in der vierten in 17 Fächern zu erlangen. Die meisten entsprachen den heute noch existierenden Fächern. Mathematik allerdings war unterteilt in Rechnen, Geometrie, Algebra und Buchführung. Für die Mädchen kamen in der dritten Klasse fünf, in der vierten vier Stunden Handarbeit dazu.

Auch in der Bezirksschule war Margrit eine strebsame Schülerin. Ihre Fleissnoten waren entweder gleich gut wie ihre Leistungsnote oder sogar besser. Die besten Noten erhielt sie von Anfang an im Singen, da schwankten die Bewertungen immer zwischen einer 1 und einer 2, wobei in jener Zeit die 1 die beste und die 5 die schwächste Note war. Auch im Religionsunterricht, den sie allerdings erst ab der dritten Klasse besuchte, glänzte sie mit der Bestnote. Bei den Sprachen findet sich oft eine 2 oder eine 2–3, bei den mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern lagen die Noten unter diesen Werten. Insgesamt war Margrit keine brillante, aber auch keine schlechte Schülerin – sie lief im Gros der Klasse mit.

Ein Foto aus dieser Zeit zeigt Margrit in einem Zimmer des alten Hallwyler Schulhauses als ein aufgewecktes Mädchen mit freundlichem, wenn auch etwas scheuem Lächeln. Sie sitzt in einem der vordersten Bänke, die Hände liegen brav gefaltet auf dem Pult. Auf einem anderen, früheren Bild vom Jugendfest 1929 – dem ersten Rutenzug nach ihrem Übertritt an die Bezirksschule Brugg – guckt sie ernst in die Linse, mit hoch gezogenen Schultern und verkniffenem Mund – ganz im Gegensatz zu einigen ihrer Schulkameradinnen, die wesentlich gelassener, wenn nicht lässig für die Kamera posieren.

Immer im Februar fand in der Turnhalle Schützenmatt in Brugg der Ball des städtischen Orchestervereins statt, zu dem die Bezirksschüler eingeladen waren; eine erste Gelegenheit, sich für das andere Geschlecht zu interessieren, etwa beim ersten gemeinsamen Tanz. Natürlich geschah das alles unter strenger Aufsicht der Lehrer, und um 22 Uhr war Schluss. Margrit hielt sich zurück. Sie suchte keine Bubenbekanntschaften. Hingegen versuchte sie, bei einer Schulaufführung des Stücks «Die wilden Schwäne» mitzumachen. Dies stand eigentlich nur den Schülerinnen und Schülern ab der dritten Klasse offen, doch wurde die Zweitklässlerin Margrit Fuchs zugelassen – vielleicht, weil sie gut singen konnte. Die Aufführung des Stücks erwirtschaftete den stolzen Erlös von 1352 Franken und 5 Rappen, der in die Kasse für die jährlichen Schulreisen floss. Diese waren für damalige Verhältnisse recht aufwendig: So reiste die Klasse IIc, in der Margrit war, am 1. Juli 1930 von Brugg nach Schindellegi, wanderte über den Etzel, stieg nach Pfäffikon (SZ) hinunter und liess sich per Schiff auf die Insel Ufenau bringen. In der vierten Klasse waren sogar zweitägige Reisen die Regel. Für viele Schülerinnen und Schüler waren solche Schulreisen eigentlich unerschwinglich, und immer wieder gab es welche, die nicht mitkonnten, weil es trotz Zustupf aus der Klassenkasse nicht reichte. Wie erwähnt: Der Besuch der Bezirksschule war eine kostspielige Angelegenheit. Ob Margrit an diesen Schulreisen auch teilnehmen konnte, oder ob sie zu Hause bleiben musste, lässt sich nicht feststellen. Die Ferien verbrachte sie wenigstens zum Teil bei ihrer Tante mütterlicherseits, Maria Josefa, in Stein am Rhein, wo diese zusammen mit ihrem Mann ein Restaurant führte.

Zeitweise gab es vier Gertruden in der Mädchenklasse von Margrit. Der Klassengeist war gut. Gemeinsam beschwerte man sich einmal beim Rektor über die Deutsch- und Geschichtslehrerin, die einen eher rüden Umgangston pflegte – sie sprach zum Beispiel die Mädchen nur mit Nachnamen an –, einzelne Schülerinnen immer wieder hänselte und öffentlich demütigte und überhaupt als ziemlich parteiisch galt. Eine solche Aktion war in einer Zeit, in der in der Schule die Autorität der Lehrer noch sehr hochgehalten wurde, aussergewöhnlich und erforderte einigen Mut. Andere Lehrer dagegen waren Opfer von Streichen und bekamen – meist harmlose – Übernamen zugeteilt. Der Französischlehrer etwa wurde wegen seiner markanten Nase, die an einen Vogelschnabel erinnerte, als «Spatz» veräppelt. 1931 traf die Klasse eine Tragödie, als eine Kameradin starb.

Margrit schloss die Bezirksschule im Frühjahr 1933 ab. Es war eine schwierige Zeit: Die Weltwirtschaftskrise traf die Schweiz wie andere europäische Länder mit grosser Härte. Bei den regelmässigen Elternzusammenkünften der Bezirksschule war die Berufswahl ein wichtiges Thema. Im Frühling 1934 reiste Margrit dann für ein knappes Jahr nach Belgien und setzte ihre Ausbildung fort, und zwar am Ursulinenpensionat im belgischen Vilvoorde. Ob das Zwischenjahr von Anfang an so geplant war oder ob es die Konsequenz einer vergeblichen Stellensuche war, lässt sich nicht schlüssig rekonstruieren. Dass sie diese weitere Ausbildung in Angriff nahm, passt aber dazu, dass die Mutter grossen Wert auf eine gute Ausbildung ihrer Töchter legte. Sprachaufenthalte für Mädchen nach der Schulentlassung waren in städtischen Bevölkerungsschichten zwar keine Seltenheit, wenn auch dieser Sprachaufenthalt zur Erlernung und Verbesserung des Französischen vorwiegend in der Welschschweiz und nicht im Ausland absolviert wurde. Allerdings war Belgien damals ein beliebtes Ziel; in der Erinnerung meiner Mutter begaben sich in den 1930er-Jahren mehrere Mädchen aus Brugg und Umgebung dorthin. In ihrem ersten Brief aus Vilvoorde berichtet Margrit denn auch davon, dass sie ab Basel mit einer ganzen Gruppe von Schweizer Mädchen nach Brüssel gereist sei. Der Vorteil der Ursulinen lag darin, dass sie dem unentgeltlichen Mädchenunterricht verpflichtet waren. Trotzdem: Es wird wohl nicht so selbstverständlich gewesen sein, dass eine Bähnlertochter aus Windisch zur Ausbildung ins ferne Belgien reiste. Angesichts der engen Bindung an die Mutter und die Schwestern war zudem die Trennung wohl auch nicht einfach. Andererseits hatte Margrit hier zum ersten Mal Gelegenheit, den «Duft der grossen, weiten Welt» zu schnuppern. Das war nicht ohne Auswirkungen auf die spätere Ruanda-Auswanderin.

Das Ursulinenkloster im belgischen Vilvoorde nahe Brüssel war 1858 gegründet worden und unterhielt ein angesehenes, auch international anerkanntes Mädcheninternat. Als Margrit in Vilvoorde eintraf, standen Institut und Kloster unter dem energischen Regime der 77-jährigen Mère Eleonore, die seit 1905 als Oberin tatkräftig wirkte. Die Hausordnung des Instituts liest sich sehr streng. Die Mädchen waren gehalten, gehorsam, respektvoll und fleissig zu sein. Es war untersagt, sich nur zu zweit zu unterhalten oder miteinander etwas zu unternehmen. Man wollte verhindern, dass sich Freundinnenpaare bildeten, was als dem Gemeinschaftsgeist abträglich angesehen wurde. Über weite Strecken des Tages war Stillschweigen zu wahren, so etwa beim Gang zur Messe oder während des gemeinschaftlichen Essens. Die Korrespondenz wurde kontrolliert, und Ausgang gab es nur am Sonntag, im Sommer von 9 bis 18 Uhr, im Winter eine Stunde kürzer.

Margrit polierte in Vilvoorde ihr Französisch auf und vervollständigte ihre kaufmännische Ausbildung. Diese als «technische Ausbildung» bezeichnete Unterrichtsform war im Institut sehr populär; Vilvoorde nahm in diesem Bereich unter den Ursulineneinrichtungen in Belgien einen vorderen Platz ein.

Der Briefverkehr zwischen Margrit, ihren Geschwistern und ihrer Mutter, der zum Teil erhalten ist, ist aufschlussreich. Er zeigt etwa das innige Verhältnis, das die Geschwister untereinander hatten, aber auch, dass es am Kapellenweg oft recht lustig zu- und hergegangen sein muss. So endet ein Brief der Mutter vom 1. Januar 1935 mit Grüssen der Schwestern, die sich gegenseitig aufziehen: Anna schreibt, sie habe keine Neuigkeiten, und schliesst dann einen Gruss von «Idda» an, welche das Kuvert anschreibe, und von «Lisely», die bereits ins Bett gegangen sei. Worauf Ida interveniert und mit Bleistift darunter kritzelt: «nein auf der Schäselonge [Chaiselongue]», was Anna aber nicht auf sich sitzen lässt und, da der Platz auf dem Papier immer weniger wird, in zunehmend kleinerer Schrift hinzufügt: «nein auf der Ottomane!» Und eine weitere, nicht identifizierte Handschrift verlängert am Blattrand: «Wir sitzen so fröhlich beisammen wenn Du hier wärest, wären es fünf.» In den Briefen ist Margrits Schalk und Witz allgegenwärtig. Im ersten Brief schildert sie, dass sie im Zug nach Brüssel im Gepäcknetz geschlafen habe: «Das war ein bequemes Schlafen.» Und in einem späteren Brief an Ida bittet sie darin, dass die Mutter ihr Gedichte schicke: «Sage an Mutter ob sie nicht so gut sein wolle und mir die zwei Gedichte die ich auf dem Gubel (wohl anlässlich der ewigen Profess der Cousine Bertha Mettauer) aufgesagt einmal in einen Brief tun wolle.» Und sie fügt augenzwinkernd hinzu: «aber Achtung dass er nicht zu schwer ist». Der Schriftwechsel mit der Mutter ist so liebe- wie respektvoll.

Zuerst gefiel es Margrit gut in Vilvoorde. Ausser ihr besuchte nur eine weitere Schweizerin das Institut, sie sei «ein nettes Ding». Was Margrit auffiel, war vor allem die gute Verpflegung. «Hier in Belgien hat es sehr guten Kaffee, alle Tag Fleisch manchmal zweimal, Kartoffeln und Gemüse. Das Essen gefällt mir also sehr gut. Bald hätte ich noch vergessen dass es jeden Tag Dessert gibt.» Auch mit den Klosterschwestern vertrug sie sich von Anfang an gut. Trotz der strengen Hausordnung empfand sie das Leben als nicht besonders anforderungsreich: «Schaffen müssen wir nicht allzu viel. Wir haben viel freie Zeit.» Sie arbeitete in der Kapelle und erhielt dafür grosses Lob. In der 16-jährigen Louise Marijmissen, einem einfachen, lieben, vielleicht etwas naiven belgischen Mädchen fand sie eine gute Freundin. Sie schloss offenbar auch einige Kontakte mit der lokalen Bevölkerung und kannte die Familie des Vilvoorder Bürgermeisters. In einer undatierten Karte von 1934 schreibt Margrit dann allerdings, dass es «streng» sei. Die Geschwister und die Mutter schrieben zurück, berichteten vom eigenen Alltag und von Ereignissen und Routine in Familie und Nachbarschaft.

Dann kam es zu einer Veränderung. Anfang 1935 verfasste Margrit einen Brief an Ida, konnte ihn aber offenbar nicht abschicken, da sie krank wurde. Das übernahm eine Schwester M. M. Berchmans, die für Margrit eine Art Vertrauensperson geworden war. Diese fügte dem Brief einige persönliche Zeilen bei und erwähnte, dass Margrit seit einiger Zeit sehr schlecht esse. Sie habe versprechen müssen, mehr zu sich zu nehmen, wenn sie bis Juli 1935 am Institut bleiben wolle – offenbar war das der vorgesehene Zeitpunkt, an dem Margrit die Ausbildung abschliessen und in die Schweiz zurückkehren sollte. Schwester Berchmans betonte, sie sehe keinen Anlass zur Sorge. Offenbar durchlebte Margrit eine Krise – oder einen innerlichen Kampf. Die knapp 18-Jährige trug sich ernsthaft mit dem Gedanken, in Vilvoorde ins Kloster einzutreten. Ihre Freundin Louise wurde denn auch Postulantin und trat in den Orden der Ursulinen ein. Wahrscheinlich hatten die Freundinnen die Idee gemeinsam ausgeheckt, wie in einem späteren Schreiben von Louise angedeutet wird. Ob die Unlust zum Essen damit zusammenhing oder vielmehr diesen Gedanken auslöste, lässt sich nicht feststellen. Die beunruhigte Mutter verlangte von Schwester Berchmans, dass Margrit sofort einen Arzt aufsuche. Dieser stellte indes nichts Ernstes fest und meinte, Margrit könne problemlos bis Juli bleiben, wenn sie richtig esse. Er gab ihr ein Stärkungsmittel.

Die Nachrichten aus Belgien müssen zu einem ungünstigen Zeitpunkt am Kapellenweg eingetroffen sein. Anna war nun ernstlich erkrankt. Auch mit dem Vater gab es – einmal mehr – Probleme: Entweder war er krank, oder der Wunsch seiner jüngsten Tochter löste bei ihm einen Tobsuchtsanfall aus – feststellen lässt sich das nicht mehr. Auf alle Fälle wurde Margrit nun in die Schweiz zurückbeordert, vor Ablauf der regulären Ausbildungszeit. Schwester Berchmans ermahnte Margrit, sie solle sich noch gedulden mit einer Entscheidung zum Klostereintritt. Sie sei sehr jung und solle nichts überstürzen. Wenn Gott wolle, dass sie den Schleier nehme, werde er ihr das schon rechtzeitig zeigen. In der Zwischenzeit solle sie für den richtigen Weg beten. Die Ursulinen-Schwesterngemeinschaft werde das auch für sie machen.

Ende April 1935 verliess Margrit Vilvoorde wieder in Richtung Heimat. Ob sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte oder nicht, lässt sich nicht eruieren. Die Arbeitssuche in der Schweiz gestaltete sich schwierig. Sie nahm deshalb eine weitere Ausbildung als Zahnarztgehilfin in Angriff und fand damit Ende 1935 eine Stelle beim Brugger Zahnarzt Gloor. Dort blieb sie nur kurze Zeit; bereits am 1. September 1937 wechselte sie als Sekretärin und Buchhalterin zum Landwirtschaftlichen Bauamt des Bauernverbands in Brugg.

Kontext
Die Region Brugg-Windisch 1917–1970

Das Prophetenstädtchen Brugg war lange von der Industrialisierung unberührt geblieben.3 Doch in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg ging es dann umso schneller voran: Aus dem verschlafenen Provinznest wurde ein nicht unbedeutendes Industriezentrum, zwar hinter dem nachbarlichen Rivalen Baden, das mit der Brown Boveri & Cie (BBC) schon damals einen Weltkonzern in seiner Mitte hatte, aber doch zumindest auf gleicher Augenhöhe mit der Kantonshauptstadt Aarau und weit vor allen anderen Bezirkshauptorten und Provinzstädten des Kantons. Windisch hatte, abgesehen von der schon 1829 angesiedelten Spinnerei Kunz, keinen solchen Industrialisierungsschub; aber in Windisch wohnten viele der Arbeiter und Angestellten der Brugger Industrieunternehmen. Zwischen den beiden Gemeinden entstand, bei allen politischen und mentalitätsmässigen Rivalitäten, eine enge wirtschaftliche Symbiose. Waren die beiden Orte über Jahrhunderte physisch klar voneinander getrennt, war bis 1920 der Siedlungsteppich entstanden, den wir heute kennen. Die Einwohnerzahl Windischs betrug 1920 3491, jene Bruggs 4860. Gegenüber dem frühen 19. Jahrhundert war das eine Versiebenfachung (Brugg) beziehungsweise eine Verfünffachung (Windisch) der Bevölkerung in etwas mehr als 100 Jahren. Brugg war zudem ein bedeutender Verkehrsknotenpunkt des Landes. Mit dem Bau der Bözbergbahn wurden hier die wichtigen Linien von Zürich nach Bern und von Basel nach Zürich miteinander verbunden. Nach 1882 kam noch die Strecke nach Wohlen dazu. Es gab hochtrabende Pläne, den Schienen- mit dem Flusstransport zu koppeln: Im Brugger Auschachen sollte ein grossartiges Hafenareal entstehen, die einheimischen Gewässer sollten von Basel bis zum Bodensee und bis Brugg für Lastkähne schiffbar gemacht werden.

Der Erste Weltkrieg, die Spanische Grippe und der Landesstreik von 1918 bremsten diese ungestüme Entwicklung abrupt. Die Kehrseiten der Industrialisierung traten zutage. Obwohl die Schweiz glücklicherweise von den Feindseligkeiten des Ersten Weltkriegs verschont blieb, brachen die sozialen Spannungen, die (allzu) lange unter den Teppich gekehrt worden waren, mit grosser Wucht los. Es kam zum Landesstreik vom November 1918, der in Brugg als Industrie- und Eisenbahnzentrum befolgt wurde, auch wenn es – wie im übrigen Aargau – zu keinen grösseren Zwischenfällen kam. Obwohl zumindest in seinen kurzfristigen Zielsetzungen erfolglos, löste der Landesstreik eine starke Gegenreaktion auf bürgerlicher Seite aus. Einer ihrer Anführer, der umstrittene Aarauer Arzt und Oberst Eugen Bircher, berief für den 24. November 1918 eine gesamtschweizerische Tagung ins Windischer Amphitheater ein, um gegen die Sozialdemokratie, den Landesstreik und die – wie man meinte – drohende Revolution zu demonstrieren. Dieser «Vindonissa-Tag» brachte Delegationen aus der ganzen Schweiz nach Windisch. Auf Vorschlag von Bircher und seinen Kreisen entstanden im ganzen Kanton Bürgerwehren, wobei Brugg das grösste Kontingent stellte. Der Bundesrat tolerierte die Aufstellung solcher Bürgerwehren, und im Sommer 1919 beschloss sogar die Aargauer Regierung, diese bei Bedarf zu bewaffnen. Man erwartete einen Bürgerkrieg nach russischem Muster. 1920/21 kam es in der Brugger Firma Müller AG zu einem vierteljährigen Streik, bei dem mitunter zwischen Streikbrechern und Arbeitswilligen auch die Fäuste flogen. Die Polizei musste eingreifen. Dazu kam die grosse Grippewelle von 1918/19, die die Lage weiter verschärfte. Die Aargauer Regierung erliess ein Versammlungsverbot, das bis 1920 in Kraft blieb und das öffentliche Leben stark einschränkte.

Erst in den frühen 1920er-Jahren kam es zu einer gewissen Normalisierung. Viele der Entwicklungen, die mit dem Krieg zum Stillstand gekommen waren, gingen nun weiter, aber in einem gemächlicheren Tempo. Windisch erlebte einen Bauboom, in dessen Verlauf die noch bestehenden Siedlungslücken zwischen dem alten Dorfkern und Oberburg ausgefüllt und die Gebiete von Klosterzelg und Rütenen weiter überbaut wurden. Auch im Dohlenzelgquartier und im vorderen Kirchenfeld entstanden erste Häuser. Dennoch blieb Windisch in vielerlei Hinsicht ländlich. Viele Arbeiter, die in Brugg in Fabriken ihren Lohn verdienten, hatten noch einen kleinen landwirtschaftlichen Nebenerwerb – sie hielten sich ein paar Kaninchen, vielleicht sogar ein Schwein in einem Schopf, im Garten wurden Gemüse und Früchte gezogen. Auf der Wiese, wo später die Fachhochschule zu stehen kam, weideten die Kühe des Bauernbetriebs der psychiatrischen Anstalt Königsfelden, und auch das Amphitheater wurde landwirtschaftlich genutzt.

Die SBB beschäftigte 1920 über 300 Personen in Brugg. Allerdings ging ein Teil dieser Arbeitsplätze verloren, nachdem 1928 die Bahn-Reparaturwerkstätte geschlossen wurde. Als Ersatz erhielt Brugg 1938 dafür ein Materialmagazin. Der Name der Bahnstation war lange umstritten und Gegenstand gewissermassen der Urfehde zwischen Bruggern und Windischern: Eingedenk der Tatsache, dass der Bahnhof auf Boden lag, der vor 1863 zu Windisch gehört hatte, wünschten die Windischer, dass der Halt «Brugg-Windisch» oder gar «Windisch-Brugg» lauten sollte. Doch die SBB entschieden sich für die einfachere Variante «Brugg». Anträge auf Namensänderung lehnten sie 1938 und 1948/49 ab. Margrit machte nie einen Hehl aus ihrer Meinung, dass der Bahnhof rechtens zumindest eine Referenz an Windisch in seinem Namen tragen sollte; das Thema kam regelmässig auf. Als Bähnlertochter und eingefleischte Windischerin stand sie ganz klar auf der Seite ihrer Heimatgemeinde.

Die Eisenbahner waren eine besondere Gruppe. Viele von ihnen wohnten in Windisch, sie hatten ihren eigenen Stolz und waren eine bedeutende politische Kraft. Bereits 1909 war der Eisenbahner Rudolf Iseli in den Windischer Gemeinderat gewählt worden, doch die SBB verweigerten ihm vorerst die Bewilligung zur Ausübung eines öffentlichen Amtes. Das änderte sich 1913, als er erneut gewählt wurde. Dann errang die Sozialdemokratische Partei in den ersten Proporzwahlen von 1919 auf Anhieb fast 60 Prozent der Stimmen im Arbeiterdorf Windisch. 1921 ging die Mehrheit im Gemeinderat an die Partei, und nach 1933 besetzte diese zusätzlich das Amt des Gemeindeammanns mit dem erwähnten Iseli. Die Sozialdemokraten nutzten ihre Stellung, um eigene Akzente zu setzen, soweit dies im kommunalen Kompetenzbereich lag: 1927 beschloss die Gemeindeversammlung eine Subventionierung der Arbeitslosenunterstützung, und 1933 kamen die unentgeltliche Geburtshilfe und die Milchabgabe an Schüler hinzu. Auch in anderen Dörfern um Brugg, in denen die Arbeiter der Industriebetriebe wohnten, gewannen die Sozialdemokraten kontinuierlich an Boden, wenn auch nicht im gleichen Ausmass wie in Windisch. Im kleinstädtischen Brugg dagegen hielten sich Freisinnige und Sozialdemokraten die Waage; im Stadtrat dominierten die bürgerlichen Kräfte.

Ab Spätsommer 1930 machten sich in der Schweiz die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise bemerkbar. Die Zahl der Arbeitssuchenden nahm drastisch zu. In Brugg schrumpften die Arbeitsplätze in der Industrie zwischen 1929 und 1936 um fast die Hälfte. Die Maschinenfabrik Brugg AG wurde liquidiert, und die Müller AG, ebenfalls ein Unternehmen im Bereich der Maschinentechnik, kam nur dank kräftiger Zusatzfinanzierung der Banken über die Runden. Die Behörden versuchten, die Krise durch Arbeitsbeschaffungsprogramme und andere Massnahmen zu dämpfen, zum Beispiel wurde die Strasse von Brugg nach Hausen ausgebaut. Nach Fürsprache der Stadt in Bern kam es auch zu einer Erweiterung der Kasernenanlagen der Armee – eine Massnahme, die nicht zuletzt beschäftigungspolitisch motiviert war. Erst mit der Abwertung des Schweizer Frankens nach 1936 flaute die Krise, wenn auch zögerlich, ab.

Doch bereits zogen die Schatten der nächsten grossen Prüfung herauf, jener des Zweiten Weltkriegs. Am 1. September 1939 hingen an öffentlichen Anschlägen die breitflächigen weissen Plakate mit dem roten X, die zur Generalmobilmachung der Armee aufriefen. 80 000 Mann des Grenzschutzes, 430 000 Kampftruppen und 200 000 Hilfsdienstpflichtige rückten schweizweit ein – Tausende auch in Brugg. Frauen, Alte und zum Teil auch Jugendliche sprangen für die abwesenden Männer in die Lücke und übernahmen in der Fabrik und im Büro die Arbeit. Die Industrieanlagen stellten auf kriegsbedingten Minimalbetrieb um. Die Schweiz erlebte einen ersten Boom des Recyclings – wobei das damals noch schön deutsch «Altstoffsammlung» oder «Altwarenwiederverwertung» hiess. Dahinter stand bittere Notwendigkeit angesichts des stockenden Nachschubs aus dem Ausland, nicht etwa ökologisches Bewusstsein. Lebensmittel wurden rationiert, später kam die Verdunkelung in der Nacht dazu. Es waren nervenaufreibende, schwierige Jahre. Umso grösser die Erleichterung, der Jubel, als im Mai 1945 der Krieg in Europa endete. Die Kirchenglocken läuteten, die Menschen tanzten in den Strassen, auch in der Schweiz, die zum Glück einmal mehr verschont geblieben war.

Und dann machte sich die Region auf zum nächsten Aufschwung. Die Wirtschaft florierte schweiz- und weltweit, und das stark industrialisierte Brugg profitierte davon. Die Kabelwerke wurden zum Kern regionaler Wirtschaftspotenz. Die Platzverhältnisse waren für die expandierenden Industriebetriebe oft problematisch. Man wich auf unerschlossene Landreserven aus – in den Brugger Wildischachen, ins benachbarte Birrfeld. Auch ein anderer Engpass machte sich bald bemerkbar: Fach- und Arbeitskräftemangel. Viele Arbeiter wurden aus dem Ausland geholt. 1963 waren 38 Prozent der in Brugg dem Fabrikgesetz unterstellten Arbeitnehmer Fremdarbeiter. In der Spinnerei Kunz wurden immer mehr junge Italienerinnen beschäftigt. Unter der Aufsicht von Nonnen gingen sie an ihrem freien Sonntag an der Reuss spazieren. 1920 hatte der Ausländeranteil in Windisch 7,5 Prozent betragen, bis 1970 kletterte er auf fast 20 Prozent. Die Einwohnerzahlen in der Stadt und in den umliegenden Gemeinden schnellten nochmals in die Höhe. Brugg, das nach dem Zweiten Weltkrieg etwa 5500 Einwohner zählte, wies 1970 9000 aus; Windisch erlebte eine Zunahme von 4500 (1950) auf 7500 (1970). In Windisch erstellte die Eisenbahner-Genossenschaft Mehrfamilienhäuser am Römerhof beim Amphitheater, und die Georg Fischer AG baute im Bodenacker die charakteristischen Hochhaus-Wohnblöcke, die noch heute die «Skyline» im Westen Bruggs dominieren. Auch sonst wandelten sich die Ortsbilder. Das Gebiet zwischen Eisi und Bahnhof in Brugg wurde zunehmend zu einem modernen Geschäftsviertel ausgebaut, so etwa mit dem 1959 eröffneten Kaufhaus Jelmoli.

Die raschen Veränderungen verlangten nach städtebaulicher Planung. Eine Architektengruppe namens team brugg 2000 wollte das Wachstum der Stadt systematisch angehen, Industrie und Wohngebiete sollten ebenso getrennt werden wie Autoverkehr und Fussgänger. Es war eine Zeit der grossen Würfe: Man erwartete für die Schweiz im Jahre 2000 eine Einwohnerzahl von zehn Millionen; allein im Raum Brugg-Baden-Spreitenbach hätten sich 200 000 Menschen geballt. Seitens der Bevölkerung gab es ein überraschend grosses Echo auf die Pläne des team brugg 2000. Doch dann kam es zum grossen Drama. An einer Gemeindeversammlung gab es heftige Kritik an den Bauordnungsplänen der Stadt. Mitten in der Versammlung brach Stadtammann Arthur Müller zusammen – er starb an einem Herzinfarkt. Die Versammlung musste abgebrochen und neu angesetzt werden. Die Stimmberechtigten folgten dem Stadtrat, und so endeten die Pläne des team brugg 2000 schliesslich im Papierkorb.

Unabhängig davon waren beträchtliche Investitionen in öffentliche Bauten und in die Infrastruktur notwendig. Der Strassenverkehr nahm mit der Massenmotorisierung rapide zu. Er wurde zu einer Belastung für die Altstadt, und es gab erste Pläne für Umfahrungen. Windisch seinerseits expandierte in Richtung Hausen mit einem Siedlungsteppich von Einfamilienhäusern und grossen Wohnblöcken. Windisch gewann auch das Tauziehen mit Brugg um den Standort des neuen Technikums. Vor allem Industrielle, die in einer Zeit der Hochkonjunktur begehrte Fachkräfte binden wollten, wünschten sich das Technikum. Mit der Klostermatte konnte Windisch ein einschlägiges Areal zur Verfügung stellen. 1964 bis 1966 entstanden dort die modernistischen Glaskuben des Technikums mit ihren charakteristischen farbenfrohen Kegelskulpturen, die für einige Jahre zu einem regelrechten Markenzeichen wurden.

1970 war die Region Brugg-Windisch voll im Umbruch und im Aufschwung, wie es der Fall gewesen war zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie damals herrschten Zukunftsoptimismus und Technikgläubigkeit. Doch wie der Erste Weltkrieg der Euphorie um die Jahrhundertwende ein Ende gesetzt hatte, würgte jetzt die Ölkrise von 1973/74 die Hochkonjunktur ab. Der Umbau von einer Industrie- in eine Informations-und Dienstleistungsgesellschaft begann. Und die Jugendunruhen von 1968 liessen eine soziale Liberalisierung ahnen, die unter zahlreichen Wehen das konservative und oft auch starre Klima der Zwischen- und Nachkriegszeit auflöste. Institutionen wie Wirtschaft, Kirche und Staat mussten sich neu definieren und legitimieren.

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