Kitabı oku: «Das Kind vom anderen Stern», sayfa 2

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4. Kapitel


Ein paar Sekunden später schießt eine zweite, etwas kleinere Fontäne in die Höhe, aber sie ist immer noch gewaltig. Im Licht des aufgehenden Mondes glitzern unzählige herabfallende Wassertropfen. Kurz darauf folgt eine dritte, dann eine vierte Fontäne, jedes Mal ein Stückchen näher, als würde ein riesiger unsichtbarer Stein auf der Wasseroberfläche zu uns herüberspringen. Die fünft e Fontäne schießt nur noch wenige Meter vor uns hoch und bringt das Kanu heftig ins Schwanken.

»Was ist da los?«, rufe ich mit schriller Stimme.

Dann trifft uns das Spritzwasser und wir ducken uns schutzsuchend ins wild schaukelnde Boot. Auch wenn ich nichts sehe, spüre ich, dass etwas knapp über unsere Köpfe hinwegfegt. Suzy kreischt alarmiert auf.

»Was ist das?«, brülle ich.

Iggy reagiert nicht.

Als ich den Kopf hebe, schießt die sechste Fontäne jenseits des Kanus hoch. Die siebte ist schon viel kleiner. Was auch immer das ist, es verliert an Kraft. Mit der achten Fontäne schwappt eine Wasserwelle über den Steg und dann … ist da nichts mehr. Nur noch der dunkle Himmel, der lila See und der schwarz-grüne Wald ringsherum …

… und Stille, die lediglich von den kleinen kräuseligen Wellen durchbrochen wird, die gegen das Kanu klatschen.

Schließlich richtet Iggy sich auf. »Mein Gott! Hast du das gesehen?« Aber weil ich nicht weiß, was überhaupt, bewege ich bloß wortlos die Lippen.

Jetzt ist nichts mehr auszumachen. Was immer diese Fontänen verursacht hat, muss etwa zehn Meter vorm Ufer gesunken sein, da wo das Wasser flacher und klarer ist.

Gemeinsam paddeln Iggy und ich zu der Stelle. Ob wir in der Dunkelheit was erkennen werden? Vielleicht wenn wir mit einer Lampe ins Wasser leuchten?

Als wir uns nähern, habe ich so ein Surren im Ohr. Wir ziehen die Paddel ein und lassen uns treiben. Ich lausche.

»Hör mal«, zische ich. »Das ist es! Das Geräusch habe ich auch gehört, als Tammy verschwunden ist.«

Da ist es wieder. Ein tiefes, kaum vernehmbares Surren, wie bei einer Biene hinter einer Fensterscheibe.

Mir kommt die Wasseroberfläche vorm Steg irgendwie anders vor, so seltsam glatt, als läge eine große Glasscheibe darüber. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein, im Licht des Halbmonds ist das nicht gut zu erkennen.

Langsam treibt das Kanu auf die Stelle zu. Auf einmal stoßen wir mit der Spitze irgendwo gegen. Im ersten Moment denke ich, es ist wieder ein Baumstamm, doch ich sehe keinen. Nicht mal einen Felsen. Ich schnappe mir das Paddel und ziehe es durchs Wasser, aber es gibt nur wieder einen Rums und wir kommen nicht weiter. Etwas ist uns im Weg. Dem Geräusch nach zu urteilen, ragt das Ding vor uns aus dem See, aber das ist eigentlich unmöglich, denn es ist nichts zu sehen, bloß Luft.

»Was ist das? Warum kommen wir nicht weiter, Tait? Wo stoßen wir gegen?«

Als das Kanu zum dritten Mal gegen das Nichts prallt, ändere ich die Richtung und paddle außen um dieses Dreieck aus glattem Wasser herum. Kurz vorm Ufer bremse ich ab.

»Gib mir mal den Laserköder«, sagt Iggy.

Vorsichtig, um nicht in die scharfen Haken zu greifen, nimmt er mir das spitze Ding ab und drückt den winzigen Knopf, mit dem man das Blinklicht einschaltet, das die Fische anlocken soll. Dann richtet er den Strahl vor uns auf das unsichtbare Ding.

»Ich glaub’s nicht. Sieh dir das an!«

Das grüne Licht strahlt auf den See hinaus, wird aber nach links abgelenkt und beschreibt eine Kurve, bevor es weiter geradeaus leuchtet. Das bleibt auch so, als Iggy den Laserköder hin und her schwenkt, das Licht wird von etwas gebrochen, das wir nicht sehen können.

Im Kanu liegt ein Stein, den werfe ich auf das Ding. Es macht pling. Der Stein springt zurück und landet im Wasser, als hätte ich eine Glasscheibe getroffen. Nur ist da keine Scheibe.

Ich werfe einen weiteren Stein. Wieder dieses Pling. Nun krame ich aus Iggys Anglertasche ein Bleigewicht hervor und schmeiße das, diesmal härter. Gleiches Ergebnis.

Iggy und ich sind schon kurz vorm Durchdrehen. Da wird aus dem Surren auf einmal ein Brummen, das Wasser wird aufgewirbelt und das unsichtbare Etwas bewegt sich auf unser Kanu zu.

»Schnell weg!«, brüllt Iggy.

Als wir beide nach demselben Paddel greifen, kentert das Kanu. In einer einzigen Bewegung werden Iggy und ich ins dunkle Wasser gekippt. Nicht mal mehr schreien können wir.

Die Kälte spüre ich nicht sofort, doch als ich untergehe, schlucke ich Wasser. Prustend tauche ich wieder auf, die schweren Klamotten ziehen mich hinab. Nur mit Mühe und Not kann ich den Kopf über Wasser halten. Da erst trifft mich die Kälte, sie raubt mir fast den Atem.

Immer wieder schnappe ich nach Luft und rufe: »Ig-Iggy!«

Wir tragen keine Rettungswesten, denke ich voller Angst.

Neben mir taucht erst ein roter Haarschopf und dann Iggys erschrockenes Gesicht auf.

»Ah … ah … Hier bin ich.« Er hält sich an mir fest. »Los … los, weg hier. Das Dingsbums ko-ko-kommt näher.« Vor Kälte kann er kaum sprechen. Er macht ein paar Züge aufs Ufer zu, hält inne. »W-wo ist Suzy?«

Da rumst es unter dem gekenterten Kanu.

»Suzy!«, schreit Iggy verzweifelt. Und bevor ich einen Ton rausbringe, ist er schon untergetaucht.

Die Sekunden verstreichen, meine Klamotten werden immer schwerer. Ich habe panische Angst.

»Iggy!«, brülle ich und schwimme im Kreis. »Iiiiiggyyyy!«

Da taucht Iggy endlich neben dem Kanu auf, mit ihm die verstörte Suzy. Ihr braunrotes Federkleid ist triefnass.

Ich bin näher am Steg als Iggy und mir fällt das Schwimmen auch leichter, denn ich habe ja nicht noch ein Huhn im Schlepptau. Schwerfällig hieve ich mich die glitschige Eisenleiter hoch. Als ich zurückschaue, sehe ich, dass das seltsame durchsichtige Etwas Iggy fast erreicht hat.

Iggy ist bloß noch fünfzehn Meter vom Steg entfernt. Ihm steht das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als er merkt, was vor sich geht.

»Schwimm, Iggy. Schwimm! Dreh dich nicht um. Schwimm einfach!«, brülle ich aus Leibeskräften.

Er dreht sich trotzdem um und erstarrt für einen Moment vor Schreck. Dann beginnt er mit seinem freien Arm, wild um sich zu schlagen, die Beine strampeln hilflos, Suzys Kopf hält er weiterhin über Wasser.

»Los, Iggy! Das schaffst du!«

Noch zehn Meter. Fünf. Wieder höre ich das Surren. Das Ding bewegt sich übers Wasser und kommt mit jedem Zug, den Iggy macht, näher. Ich lege mich flach auf den Stegboden und strecke ihm die Hand hin.

»Du schaffst es! Komm!«

Dann schreit Iggy auf, lässt Suzy los und verschwindet unter der schwarzen Wasseroberfläche.

5. Kapitel


Kurz darauf taucht Iggy wieder auf und kreischt: »Es … es … hat … hat …« Anscheinend kämpft er mit irgendetwas im Wasser, als würde er mit den Beinen festhängen.

Wie durch ein Wunder hat er noch immer seine Brille auf dem Kopf. Er schnappt sich Suzy und rudert einarmig zum Steg. Ich ziehe ihn rauf.

»Mein … mein Bein«, stöhnt er. »Mich hat’s … erwischt.«

Iggys Fahrradlicht liegt noch auf dem Steg. Ich hole es, und als der Strahl sein Bein trifft, weiche ich entsetzt zurück.

»Ist … ist es sehr schlimm?«, fragt er.

Ich nicke. Der Drillingshaken steckt tief in seiner Wade und hat durch das Strampeln schon ein großes Stück Fleisch rausgerissen. Iggy muss sich beim Schwimmen in seiner Angelschnur verfangen haben, die ihn jetzt wie einen Fisch am Haken hat. Ein rotes Rinnsal aus Blut und Wasser strömt zurück in den See. Als Iggy sich ans Bein fasst, stöhnt er erneut auf.

»Ruf meine Mutter an«, krächzt er.

»Klar, mach ich. Halte durch. Alles wird gut.«

Ich zerre mein Handy aus der klitschnassen Jeans.

So schlimm ist es auch wieder nicht, sage ich mir. Iggy wird schon nicht gleich hier auf dem Steg verbluten.

Ich versuche, das Handy einzuschalten. Nichts.

Handys und Wasser sind keine gute Kombi. Ich probiere es wieder und wieder.

»Wo ist denn deins?«, frage ich Iggy.

Sein Atem geht schnell und stoßweise. »Meine Mumeine Mutter hat es einkassiert.«

Das glaube ich jetzt nicht.

In meiner Verzweiflung springe ich auf und brülle: »Hilfe! Hilfe!« Iggy liegt flach auf dem Steg, er keucht und ächzt.

»Hört … hört dich ja doch keiner«, presst er hervor und stöhnt vor Schmerz auf.

»Ich renn hoch zum Weg. Wenn ein Wagen vorbeikommt, halte ich den an. Du wartest hier.«

Was denke ich mir bloß dabei? Da fährt doch nie einer lang, höchstens alle Jubeljahre mal ein Waldarbeiter. Kann ich in meiner Panik nicht mehr klar denken? Als ich halb die Böschung hoch bin, wird mir klar, dass ich einen Verletzten, triefnass und unterkühlt, ganz allein in der Dunkelheit zurückgelassen habe. Total daneben.

Nur kurz hüpfe ich unschlüssig von einem Bein aufs andere, dann kehre ich um und renne zurück zum Ufer. Ich sehe Iggy da unten am Steg liegen, genau wie ich ihn verlassen habe. Doch plötzlich … Ich bleibe stehen und schnappe nach Luft.

Aus dem Nichts ist noch jemand aufgetaucht.

Ich weiß, wie verrückt das klingt, wie nach einem Zaubertrick oder einem Spezialeffekt. Zuerst liegt da bloß Iggy. Und im nächsten Moment … steht da eine Gestalt vor ihm. Woher soll die denn gekommen sein? Es gibt doch nur diesen einen Weg zum Steg.

Als ich unten angelangt bin, höre ich diesen Jemand sprechen. Er oder sie steht mit dem Rücken zu mir und hat mich noch nicht bemerkt, auch Iggy scheint mich noch nicht gesehen zu haben. Na ja, er friert und blutet sich ja halb zu Tode, da hat er andere Sorgen. Immer noch flach atmend liegt er da, den Kopf Richtung See gewandt. Die Person gibt erst eigenartige quiekende Laute von sich. Dann kann ich auf einmal Worte ausmachen.

»Ich habe dich gehört. Ich helfe dir.«

Iggy fährt herum und weicht sofort erschrocken zurück, dabei glitscht er in seinem eigenen Blut aus.

Ich eile ihm zu Hilfe, vorbei an dieser Person, die einen zotteligen Pelzmantel zu tragen scheint. Mehr nehme ich im ersten Moment nicht wahr, denn ich habe nur Augen für Iggy.

»Alles okay?«, frage ich. »Tut mir leid, dass ich dich allein gelassen habe. Aber nun ist ja jemand da, der uns helfen kann, gut, was?« Iggy schielt durch die verschmierten Brillengläser an mir vorbei zu der Gestalt hinter mir. Keine Ahnung, warum er so panisch aussieht.

»Tai-Tait. Was … was …?« Iggy bekommt kaum einen Ton raus.

Seine Augen sind noch immer auf die fremde Person geheftet, also drehe ich mich um. Was ich da sehe, ist so schrecklich, dass ich nach hinten stolpere und der Länge nach hinfalle. Panisch krabble ich rückwärts bis ans Ende des Stegs. Ich kann den Blick nicht abwenden und will doch nur so schnell wie möglich weg.

Iggy verrenkt sich fast den Hals nach mir, kann aber nicht so rasch weg wie ich und liegt da, keuchend vor Angst.

Das Wesen hat eine schimmernde silberne Mähne und ein Gesicht. Ein menschliches Gesicht. Oder zumindest menschenähnlich. Es ist geformt wie ein Gesicht, nur ist es behaart, mit weit auseinanderstehenden blassen Augen und einer riesigen Nase, die wie bei einem Hamster zuckt.

Wäre ich noch ein bisschen jünger, hätte ich mir jetzt glatt in die Hose gemacht, solche Angst habe ich. Aber das tue ich zum Glück nicht.

Irgendwie ähnelt das Wesen einem Menschen. Es hat zum Beispiel zwei Arme und zwei Beine. Abgesehen von der langen Mähne auf dem Kopf ist der übrige Körper mit einem hellen gräulichen Flaum überzogen, wie aufgeplustert. Hinten hat es einen langen Schwanz, der sich geschmeidig wie der einer Katze bewegt. Also beides: Es ist irgendwie menschlich und irgendwie ganz und gar nicht menschlich.

Es sieht mich eine Weile mit seinen großen Augen an, bevor es sich zum Wald umdreht, die Nase in die Höhe reckt und schnuppert. Dann wendet es sich wieder um und macht einen Schritt auf uns zu. Als Iggy und ich uns wegducken, bleibt es stehen und schnüffelt erneut. Schließlich schüttelt es sich so heftig, dass sein Fell in Bewegung gerät. Es zieht die Oberlippe zurück und ein paar lange gelbe Zähne kommen zum Vorschein.

Jemand wimmert. Im ersten Moment merke ich nicht mal, dass ich das bin.

6. Kapitel


Iggy findet als Erster die Fassung wieder. »Wer … wer bist du?

Was willst du? Bitte, tu mir nicht weh.«

Wortlos schreitet das Wesen zu uns und wir weichen weiter von ihm ab, bis wir am Ende des Stegs angelangt sind. Von da geht es jetzt bloß noch in den See. Sogar Suzy hat den Rückzug angetreten, nachdem sie sich das Wasser aus dem Gefieder geschüttelt hat.

Das Wesen beugt sich vor, sodass es mit dem Kopf nicht mehr als eine Armlänge entfernt ist. Erst schnüffelt es und dann grunzt und quiekt es wieder, bevor es sagt: »Du hassst dirrr ja schon selbssst wehgetan.«

Seine Stimme klingt eigenartig, schrill und kehlig zugleich. Das Etwas spricht scharf und überdeutlich wie die alte Sheila aus dem Dorf. Vielleicht hat es die Sprache erst neu erlernt. Mit seinem dünnen, haarigen Finger zeigt es auf Iggys Wunde.

Iggy bringt vor lauter Angst keinen Ton heraus.

»Sssoll ich helfen?«, fragt es nach kurzem Schnüffeln und Quieken.

Sein Atem ist wie bei einem Hund, sauer und ein bisschen fischig. Von Zeit zu Zeit leckt es sich die Lippen mit einer langen grauen Zunge.

Es will uns helfen? Das bezweifle ich. Ich überlege, ob ich aufspringen, es ins Wasser stoßen und dann hoch zu den Rädern stürmen sollte … Nur ist Iggy nicht in der Verfassung wegzurennen. Ich müsste ihn dann diesem … Geschöpf überlassen. Das würde er mir niemals antun, ganz sicher nicht.

Iggy blickt das Wesen fest an und nickt.

Wir zucken zusammen, als das Geschöpf beide Hände hebt, um eine Tasche vom Rücken zu nehmen, einen kleinen Rucksack.

Das ist also mit Tammy passiert, schießt es mir durch den Kopf. Jetzt sitzen wir in der Falle. Das ist kein Monster, sondern ein Mensch. Ein Verrückter in einer schrägen Verkleidung, gleich zieht er ein Messer oder eine Knarre …

Ich sehe ganz genau hin. Wenn das ein Kostüm ist, wo sind dann die Nähte? Gibt es da irgendwo einen Reißverschluss? Die Nase ist doch nie im Leben echt! Im Fernsehen habe ich schon mal gesehen, wie Visagisten solche künstlichen Teile aus Latex ankleben. Bloß führt jemand, der hier im Dunkeln so rumläuft, doch nichts Gutes im Schilde. Zu Halloween wär’s okay, aber das ist ja schon zwei Monate her.

Langsam zieht das Wesen einen Stock oder etwas Stockähnliches aus dem Rucksack, eine Art Besenstiel, glatt und dunkel, ungefähr dreißig Zentimeter lang. Es hält ihn in der Faust und betrachtet ihn, während Iggy und ich vor Kälte und blanker Angst schlottern. Iggy nimmt meine Hand, ich drücke seine. Wenn ich schon sterben muss, dann nicht allein.

»Vielleicht funktioniert es, vielleicht nicht«, sagt der Kostümierte (inzwischen bin ich überzeugt, dass sich da jemand verkleidet hat). »Unsere Zellstrrruktur ist fast identisch. Strrreck dein Bein ausss.«

Iggy weicht zurück, zieht das Bein zu sich heran.

»Dasss tut nicht weh.« Das Wesen wartet. »Losss jetzt!«

Langsam wie eine Schildkröte, die unter ihrem Panzer hervorkommt, streckt Iggy das blutige Bein aus. Er wimmert ängstlich.

Ein heiseres Schnüffeln ist zu hören, dann: »Licht!«

Das Etwas sieht mich an.

Ich greife nach der Fahrradlampe. In Iggys Wade klafft nicht nur eine lange Wunde, der Haken steckt auch noch tief im Fleisch. Blut rinnt auf den Steg.

Das Wesen kommt näher und schwenkt den Stock über Iggys Bein. Vor unseren Augen kommt die Blutung zum Stillstand und die Wunde schließt sich. Der Drillingshaken mit der Angelschnur wird von dem heilenden Fleisch herausgeschoben und landet mit einem Plumps auf den Planken. Die Kruste wird erst braun, dann schwarz, alles innerhalb von etwa dreißig Sekunden. Zum Schluss verstaut das Wesen den Stock wieder im Rucksack und schnippt mit seinem langen Finger die Kruste weg. Darunter kommt frische rosa Haut zum Vorschein.

Als es sich aufrichtet, schaue ich mir seine bloßen Füße an. Sie sind haarig, garantiert keine künstlichen Überzieher. Er – oder sie? – ist zierlich, nicht winzig, aber auch nicht so groß wie ich. Das Wesen läuft nicht gekrümmt und ist auch sonst nicht so gruselig wie Gollum aus Der Herr der Ringe, gar nicht. Und obwohl es splitternackt ist, scheint es sich nicht zu schämen.

Ohne den Blick von dem Geschöpf zu nehmen, sagt Iggy zu mir: »Das ist ein Mädchen.«

»Woher weißt du das?«

»Tss, komm schon, Tait. Keine, ähm … Jungsteile.«

War mir gar nicht aufgefallen, aber er hat recht. Jetzt ist es mir richtig peinlich, es oder besser sie so anzustarren. Ich werde rot.

In der kühlen, windstillen Luft nehme ich ihren Geruch wahr. Verstopftes Abflussrohr? Saure Milch? Ohrenschmalz? All diese Gerüche zusammen ergeben einen satten fauligen Gestank. Und es ist nicht bloß ihr Atem.

»Puh, Iggy. Die stinkt vielleicht!«, flüstere ich.

Iggy hat sich die Mütze abgenommen und hält sie vor die Nase.

»Ich hatte schon dich im Verdacht«, sagt er mit erstickter Stimme.

Langsam rappeln Iggy und ich uns auf, dann stehen wir drei schweigend im Kreis und sind einfach nur baff. Iggy bewegt das frisch verheilte Bein.

Dann setzt er sich mit einem Ruck die Mütze wieder auf und klopft sich zweimal auf die Brust. »Ich, Iggy.«

Die Kreatur blinzelt ein paarmal.

Wetten, dass sie denkt: Was redet der wie ein Schwachkopf?

Trotzdem eifere ich Iggy nach und zeige auf mich: »Ich, Ethan.«

Obwohl sie nicht nach Luft schnappt oder verwundert die Augen aufreißt, spüre ich ihre Überraschung. »Ii-sen?«

»Ja.«

Sie hebt das Kinn und senkt es wieder. Es ist wie ein Nicken, bloß rückwärts. Dann sagt sie so etwas wie »Helly-ann« und schlägt sich auf die Brust.

Iggy wirft mir einen triumphierenden Blick zu. »Siehst du? So heißt sie. Hellyann!«

Doch dann hören wir auf einmal laute Rufe und Hundegebell; zwischen den Bäumen blitzen die Lichtkegel von Taschenlampen auf.

Im haarigen Gesicht der Kreatur steht blanke Angst.

»Sagt nichtsss«, quiekt sie mit ihrer Schnuffelstimme.

»Was?«, fragt Iggy.

»Sagt nichtsss. Sagt nichtsss von mir. Lügt. Darin seid ihr doch so gut.«

»Moment mal«, erwidere ich. »Wer bist du? Und warum sollten wir lügen?«

Das Hundegebell ist schon ganz nah, ein riesiger Schäferhund schießt die Böschung herunter und rast über das steinige Ufer auf uns zu.

»Was hast du denn, Sheba? Hast du was gefunden?«, ruft jemand.

Das Wesen mit dem Namen Hellyann sieht mich mit seinen bleichen Augen durchdringend an.

»Denn sonssst siehst du deine Schwessster nie wieder … Iisen.«

Meine Schwester. Tammy.

Iggy hatte recht. Der Angelausflug hat großartig funktioniert. Ich habe bestimmt eine Stunde lang kaum an Tammy gedacht.

Doch nun stehe ich auf diesem Steg, durchnässt bis auf die Knochen und bibbernd, und der Kummer kehrt mit aller Wucht zurück. Jetzt weiß ich wieder, warum ich hier bin.

7. Kapitel


Ich hasse dich!

Das ist das Letzte, was ich zu Tammy gesagt habe. Es will mir nicht mehr aus dem Kopf, natürlich ist das Gegenteil wahr.

Meine Zwillingsschwester. Meine »andere Hälfte«, sagt Mam immer, und da hat sie recht.

Tamara »Tammy« Tait. Cooler Name, vor allem wegen derselben Anfangsbuchstaben. Tammy Tait. Und seit sie verschwunden ist, ist kaum eine Stunde vergangen, in der ich nicht an sie gedacht habe.

Kaum eine Stunde? Eher keine fünf Minuten. Oder keine fünf Sekunden. Echt zermürbend.

Und wenn ich mal ein paar Minuten nicht an sie gedacht habe, ist es eigentlich noch schlimmer, dann zwinge ich mich, sie mir in Erinnerung zu rufen. Wie sie »Oh, Iii-than!« sagt, wenn sie von mir genervt ist (was oft vorkommt). Oder wie sie, als wir klein waren, mal in der Badewanne gepupst hat und so darüber lachen musste, dass sie sich den Kopf am Wasserhahn angeschlagen hat, woraufhin sie noch heftiger lachen musste, obwohl es blutete.

Irgendwann lande ich dann immer bei den letzten Monaten, der Zeit nach unserem Umzug nach Kielder und dem Wechsel auf die weiterführende Schule. Auf einmal waren wir in unterschiedlichen Klassen. Manche ihrer Freunde kenne ich nicht mal (und zumindest eine Freundin kann mich nicht leiden. Kein Ding, Nadia Kowalski, das beruht auf Gegenseitigkeit).

Bei diesen Gedanken werde ich sofort wieder traurig, wodurch es mir seltsamerweise besser geht, dann habe ich nämlich das Gefühl, es wieder wettgemacht zu haben, dass ich nicht unentwegt an sie denke.

Und wenn ich traurig bin, kommen mir meine letzten Worte wieder in den Sinn: Ich hasse dich.

Mam habe ich nichts davon erzählt. Das würde sie nur fertigmachen, und Mam und Dad sind schon fertig genug. Mal ehrlich, Tammy und ich haben uns viel öfter gesagt, dass wir uns hassen, als dass wir uns lieb haben.

Ist ja auch keine Kunst – dass wir uns lieb haben, haben wir uns eigentlich nie gesagt. Warum auch? Das wäre fast so, als würde man es zu sich selbst sagen.

Trotzdem quält es mich, dass das meine letzten Worte zu ihr waren.

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Yaş sınırı:
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Hacim:
257 s. 12 illüstrasyon
ISBN:
9783649640110
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