Kitabı oku: «Das Kind vom anderen Stern», sayfa 3

Yazı tipi:

Vier Tage zuvor


8. Kapitel


Heiligabend war oben im Moor Schnee gefallen. Alle haben wohl gehofft, dass sich eine dicke Schneedecke über das Dorf legen würde wie im Bilderbuch, aber Fehlanzeige. So ein Postkartendorf ist Kielder auch gar nicht.

Es ist lang gezogen, mit einer Mischung aus alten und neuen Häusern. Eine nette kleine Dorfstraße mit Bäcker, Metzgerei und einem süßen Tante-Emma-Lädchen sucht man vergebens. Wald, See und Sternwarte sorgen im Sommer zwar für haufenweise Gäste, aber im Winter macht das meiste davon dicht, die Teestuben, der Irrgarten und Mad Mick’s Mental Rentals, der Fahrradverleih. Tammy hat Kielder nur noch Schnarchkaff genannt. Sie meinte mal: »Ich passe nicht hierher. Ich bin ein Stadtmensch.« Dabei war Tynemouth, wo wir vorher gewohnt haben, auch nicht gerade New York.

Immerhin gibt es einen Pub hier, den Mam und Dad jetzt betreiben. Der Stargazer liegt ein wenig zurückgesetzt an der Hauptstraße. Am Ende der kurzen Auffahrt hängt ein Kneipenschild, daneben steht ein riesiger Weihnachtsbaum. Die Fenster schmücken bunte Lichterketten, dazu stehen jede Menge Kerzen herum, schließlich ist Mam halb Dänin und die Dänen sind ganz versessen auf Kerzen.

Ich erinnere mich an den Abend bis ins kleinste Detail, obwohl ich ihn lieber vergessen würde. X-mal bin ich alles durchgegangen, mit den Polizisten, mit Mam, Dad, Gran, mit den Journalisten und vor allem in meinem Kopf – immer wieder und wieder.

Hier kommt der Abend »noch einmal von Anfang an«, wie Miss Swann, unsere Musiklehrerin, gern sagt.

Es war fünf nach sechs. Mam war gerade zum Weihnachtssingen in den Pub hinübergegangen. Dad war auch schon drüben, musste sich aber noch verkleiden. Tammy und ich sollten später dazukommen, nachdem wir den alten Leuten im Dorf Weihnachtsgeschenke von Mam und Dad vorbeigebracht hatten. Sheila, Tommy Natrass, die Bell-Schwestern und ein paar andere sollten eine Flasche Wodka mit einem Kärtchen bekommen: Frohe Weihnachten wünschen Mel und Adam vom Stargazer.

Meine Aufgabe war es gewesen, die Flaschen einzupacken.

Tammy kam mit der Tragetasche nach unten, in die ich die in rotes Geschenkpapier eingeschlagenen und mit einer Schleife verzierten Schachteln gelegt hatte. Da kriegten wir uns in die Haare. Es fing damit an, dass Tammy eine der Schachteln in die Hand nahm und sarkastisch sagte: »Super eingepackt!«

»Ich habe mein Bestes gegeben«, antwortete ich.

Das Geschenkpapier war verknittert, überall klebte Tesafilm und die Schleife war schludrig gebunden. Und nun fiel auch noch das Schildchen ab. Geschenke einzupacken ist auch wirklich nicht leicht.

»Ich habe mein Bestes gegeben, Tammy«, äffte sie mich mit Babystimme nach. »Das sagst du immer! Aber du gibst doch nie dein Bestes, oder? Du tust nur so. Du gibst dir gerade so viel Mühe, dass die Leute dir den Spruch abkaufen. Ach, der arme Ethan. Er hat sich so bemüht. Aber ich weiß, was rauskäme, wenn du dein Bestes geben würdest, Ethan. Ich bin deine Zwillingsschwester, schon vergessen? Deine andere Hälfte. Du machst mir nichts vor. Und du hast dir mal wieder null Mühe gegeben, also laber nicht rum.« Wie zum Beweis schwenkte sie ein weiteres schlampig eingepacktes Geschenk, bis auch da das Schildchen abfiel.

»Wo ist dein Kostüm?«, fragte ich, um abzulenken. Wir hatten abgemacht, dass wir uns diesmal als Weihnachtselfen verkleiden würden. Die Kostüme hatten wir noch von unserer Schulaufführung im letzten Jahr.

Tammy verdrehte die Augen. »Oh Mann, du bist so kindisch, Ethan.«

Wenn sie so mit mir redet, könnte ich ausflippen. Bloß weil sie zehn Minuten älter ist als ich, braucht sie sich nicht so aufzuspielen. Ich sah an mir hinunter: gestreifte Strumpfhose, grüne Jacke mit Schnalle und dazu noch ein spitzer Hut, den ich in der Hand hielt.

»Aber wir waren uns doch einig!« Ich wollte nicht weinerlich klingen, was mir leider nicht gelang.

Tammy trug wie immer Jeans, Turnschuhe und einen dicken Fleece-Pulli. Mode ist einfach nicht ihr Ding. Jetzt zog sie sich noch die wattierte rote Jacke über, ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk von Gran.

»Man kann seine Meinung auch ändern. Ups, gerade passiert! Ich hab keinen Bock, mich zu verkleiden und wie eine Sechsjährige durchs Schnarchkaff zu pilgern. Du kannst das ja gern machen, keiner hindert dich. Siehst toll aus!«

»Ich lauf bestimmt nicht als Einziger verkleidet durch die Gegend. Dann zieh ich mich jetzt um«, fauchte ich und stampfte die Treppe hoch.

»Okay, wir sehen uns bei der alten Sheila. Ich fahr los.«

»Wartest du nicht auf mich?«

»Nein, wir sind eh schon zu spät dran. Tschau.« Tammy öffnete die Haustür und trat in die Kälte. Und da habe ich es ihr nachgerufen:

»Ich hasse dich!«

(Insgeheim hoffe ich, dass sie mich nicht gehört hat, aber das hat sie bestimmt, denn ich habe ziemlich laut gebrüllt und die Tür war noch offen.)

Fünf Minuten später war meine Wut schon wieder verraucht, das alberne Elfenkostüm hatte ich auszogen. Vielleicht hat sie recht, dachte ich. Als Kompromiss zog ich den Weihnachtspulli mit der leuchtend roten Rentiernase an. (Ganz klein beigeben wollte ich nun auch wieder nicht.) Ich schloss die Haustür hinter mir und schwang mich aufs Rad, um Tammy einzuholen.

Kurz darauf fand ich am Waldweg ihr Rad im Gebüsch, Vorder- und Rücklicht erleuchteten den mit Frost überzogenen Boden. Von Tammy keine Spur.

Seither habe ich sie nicht mehr gesehen.

9. Kapitel


Wenn die Leute mitkriegen, dass Tammy und ich Zwillinge sind, heißt es manchmal: »Könnt ihr gegenseitig eure Gedanken lesen?« Weil die Frage so bescheuert ist, spielen wir immer ein bisschen Theater. Ich sage: »Klar. Tammy, an welche Zahl denke ich gerade?« Und ganz egal, welche Zahl Tammy nennt, rufe ich: »Stimmt haargenau!«

Auf jeden Fall fanden wir’s witzig. Manche sind auch tatsächlich drauf reingefallen, so wie Tammys neue Freundin Nadia, aber die glaubt sowieso alles.

Also, nein, wir stehen nicht in telepathischer Verbindung. Doch als ich an dem Abend Tammys Rad am Wegrand sah, wusste ich gleich, dass etwas passiert war. Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Sofort hielt ich an. Mir lief es eiskalt den Rücken runter, als hätte mir jemand Eiswürfel in den Halsausschnitt geschüttet.

»Tammy?« Anfangs rief ich noch nicht so laut, weil ich zwar irgendwie wusste, dass was passiert war, aber nicht ganz sicher sein konnte. »Tam?«

Der Mond wurde von einer dicken Wolke verdeckt, und ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie dunkel es dann in Kielder ist. Das einzige Licht stammte von den Fahrradlampen.

»TAMMY!«, brüllte ich und legte den Kopf schief, um zu horchen. Es ging nur ein leichter Wind, der lautlos zwischen den Bäumen hindurchstrich.

Tammys Rad lag an der Stelle, an der ein überwucherter Pfad die Böschung hinunter zum See und dem kleinen Holzsteg führt. Ich schnappte mir mein Vorderlicht und folgte dem Pfad.

Das macht doch keinen Sinn!, schoss es mir durch den Kopf. Warum sollte sie da runtergehen?

»Tammy! Tam!«, rief ich immerzu.

An dieser Stelle geht es steil bergab und ich stolperte durch die Dunkelheit, bis ich an den kleinen Kiesstrand gelangte. Schwarz wie Tinte lag Kielder Water vor mir. In dem Moment hörte ich dieses Geräusch, dieses Surren – erst tiefer und dann immer höher.

OOOOOOMMMMMMMM ooooooooommmmmmmm. Es erinnerte an ein Flugzeug, war aber garantiert kein Flugzeug. Oder an ein Motorboot, war aber garantiert auch kein Motorboot.

Hier unten am Wasser war der Himmel etwas heller, der wolkenverhangene Mond gab ein wenig graues Licht ab. Mit zusammengekniffenen Augen spähte ich auf den See hinaus, über dem eine seltsame Nebelsäule erschienen war, die bis in den Himmel hinaufragte. Sie stand ein paar Augenblicke in der Luft, bevor der Wind sie davonwehte.

Dazu hing so ein Geruch in der Luft. Ein Gestank nach Schweiß und verstopftem Abfluss, der sich aber auch bald verflüchtigt hatte.

Ob Tammy vielleicht zum Steg gegangen war, um Steine ins Wasser zu werfen? Vielleicht schlug sie mich deshalb immer, weil sie heimlich übte? Natürlich war das eine total bekloppte Idee, aber das kam wahrscheinlich schon von der Panik.

Mir schlug das Herz bis zum Hals, als ich die Böschung wieder hochkletterte. Tammys Rad lag noch an Ort und Stelle.

Wieder rief ich nach ihr und hoffte, dass sie aus dem Wald gestapft kam und irgend so was sagte wie: »Iii-than, was brüllst du denn so? Ich war doch nur kurz pinkeln!«

Aber sie kam nicht und mir wurde klar, dass ich Hilfe holen musste. Ich zog das Handy raus. Kein Empfang. Typisch! Rund um den See ist Niemandsland.

Ich schwang mich aufs Fahrrad und strampelte, so schnell ich konnte, zur alten Sheila. Dabei schrie ich die ganze Zeit nach Tammy, bis ich fast heiser war.

10. Kapitel


So glasklar mir auch alles vor Augen steht, was bis zum Fund des Fahrrads geschah, danach verschwimmen die Erinnerungen.

Unterwegs spielte ich die verschiedenen Gründe durch, warum Tammys Rad verlassen im Wald gelegen haben könnte.

Sie hatte es dort liegen lassen, weil sie lieber zu Fuß weitergegangen war. Nicht sehr wahrscheinlich. So unwahrscheinlich, dass es sofort ausschied.

Sie hatte sich von jemandem im Auto mitnehmen lassen. Auch wieder nicht sehr wahrscheinlich. Warum sollte sie das tun? Und wer sollte sie mitgenommen haben? Da fährt ja kaum jemand lang. Und warum sollte die Person ihr dann anbieten, sie mitzunehmen, aber das Rad dalassen? Und … ach, das war alles totaler Schwachsinn.

Als ich die Brücke über den Bach nahm, war ich überzeugt, dass Tammy etwas Schreckliches zugestoßen sein musste.

Der südliche Teil des Dorfs besteht hauptsächlich aus einer einzigen Straße mit alten Cottages. Vor Sheilas Haus sprang ich vom Rad, ließ es einfach zu Boden fallen und hämmerte an die Tür.

»Schon gut, schon gut!«, kam eine Stimme von drinnen.

Noch bevor die Tür geöffnet wurde, plapperte ich los.

»Ist Tammy da? Haben Sie sie gesehen?«

»Hallo, junger Mann«, sagte Sheila lächelnd, als hätte sie kein Wort von dem verstanden, was ich gesagt hatte.

»Ja oder nein?«, blaffte ich sie an.

Sheila guckte verdattert. »Ja oder nein, was …«

»Haben Sie Tammy gesehen?«, brüllte ich. In meiner Panik hatte ich alle guten Manieren über Bord geworfen.

»Nein, heute noch nicht. Ich dachte …«

»Tschüs!«, rief ich, packte mein Rad und raste ans andere Ende des Dorfs, wo unser Pub lag.

Der Stargazer war hell erleuchtet. Draußen am großen Weihnachtsbaum brannten die Lichterketten, die Tammy und ich letzte Woche mit aufgehängt hatten. Als ich die Auffahrt hochradelte, hörte ich schon den Gesang. Die hatten aber früh mit den Weihnachtsliedern angefangen. Durchs Fenster sah ich Iggys Mutter, Cora Fox-Templeton, die die anderen auf dem alten, verstimmten Klavier begleitete. Iggy stand neben ihr und Suzy saß oben auf dem Klavier, als wollte sie gleich ein Ei legen.

» Hört, die Engelschöre singen: Heil dem neugebor’nen Kind!«

Ich sprang vom Rad und stürzte durch den Vorraum direkt in die Gaststube, wo mir Lärm und Hitze entgegenschlugen.

»Gnad und Friede allen Menschen, die erlöst sind von der Sünd …«

An der Bar brach Jubel aus. Dad rief: »Genau! Wer ist bereit für einen Feuerkelch?«

Das ist einer seiner Barkeeper-Tricks: Auf einem Tablett steht eine Reihe mit Cocktails, und sobald er ein Feuerzeug dranhält, fangen sie zu brennen an. Normalerweise schaue ich dabei gern zu.

Mam hatte das Tablett in die Hand genommen. Ich drängte mich durch die Menge bis zu ihr durch.

»Mam! Mam!«

Verärgert drehte sie sich zu mir um, schüttelte den Kopf und sang weiter.

»Mam! Hör doch mal!«

»Vorsicht! Verbrenn dich nicht!«, raunte sie mir zu. »Okay, wer möchte denn ein Glas? Nicht jetzt, Ethan

»Doch, genau jetzt!«, brüllte ich.

Ein paar Leute kriegten es mit, stießen sich an und hörten auf zu singen. Mir blieb nichts anderes übrig. Ich trat ans Klavier und schlug den Deckel mit Karacho zu. Iggys Mutter schrie auf, konnte aber im allerletzten Moment die Hände wegziehen. Es gab einen lauten Knall, Coras Armreifen klirrten, Suzy sträubte empört das Gefieder. Kurz darauf brach der Gesang ab.

»Ethan? Hast du den Verstand …«, begann Mam und schob sich durch die Leute zu mir. Doch ich nahm keine Notiz von ihr.

Stattdessen wandte ich mich den Leuten im Pub zu. »Tammy ist verschwunden! Ihr Fahrrad liegt im Wald, aber ich kann sie nirgends finden.«

Ein Raunen ging durch den Raum. Jemand, der weiter hinten saß und mich nicht verstanden hatte, fragte: »He! Wo bleibt denn die Musik?« Daraufhin ein anderer: »Schhh!«

Dad, der als Spielzeugsoldat verkleidet war, kam hinter der Theke hervor und hob beschwichtigend die Hände. »Alles gut, alles gut«, sagte er ruhig. »Was ist los, Ethan?«

Also erzählte ich ihm erneut, was passiert war, dass ich nach Tammy gerufen hatte und dass die Lichter an ihrem Rad noch brannten und dass auch die alte Sheila sie nicht gesehen hatte. Alles sprudelte nur so aus mir heraus und Dad musste mich zweimal unterbrechen: »Nicht so schnell, Ethan. Sprich langsamer.«

Dann suchte ich Mams Blick. Ihr war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen, ihre Wangen waren gespenstisch grau.

Zwei Minuten später leerte sich die Bar und die Leute stürmten zu ihren Autos.

»Nimm du den Waldweg, Jack!«

»Ich fahr die North Road entlang. Komm doch mit, Jen.«

»Hatte sie ein Handy dabei?«

»Ist die Polizei schon benachrichtigt?«

»In ’ner halben Stunde treffen wir uns alle wieder hier, einverstanden?«

»Habt ihr meine Nummer? Ruft mich an, wenn ihr sie gefunden habt!«

… und so weiter. Mir kam es vor, als würde das gesamte Dorf in Aktion treten, die Wagen brausten in alle Himmelsrichtungen davon.

Dad koordinierte die Suche oder versuchte es zumindest, denn es ging trotzdem ziemlich chaotisch zu. Ich steckte mittendrin, ohne was zu tun zu haben. Gran zog sich die Laufschuhe an und setzte sich eine Stirnlampe auf. Sie wollte ihre übliche Strecke durch den Wald ablaufen, wo keine Autos durchkamen. In all dem Durcheinander sah ich zu Iggy hinüber, der mit gerunzelter Stirn auf dem Klavierhocker saß und seine Mütze in den Händen knetete. Cora stand neben ihm und wirkte mit ihrer rot-weißen Weihnachtsmannmütze irgendwie verloren.

»Mel«, sagte Dad zu Mam, »warum wartest du nicht einfach zu Hause.«

»Auf keinen Fall!«, rief Mam empört. »Ich komme mit und suche nach meiner Tochter!«

Als Nächstes sah Dad mich an. »Macht es dir was aus hierzubleiben? Falls sie zurückkommt?« Dann tauschte er einen Blick mit Cora Fox-Templeton, der wohl bedeuten sollte, dass sie nun die verantwortliche Erwachsene hier war.

Als sie nickte, bimmelte das Glöckchen an ihrer Mütze.

»Haltet eure Handys bereit. Verlasst den Pub nicht«, sagte Dad und zog sich eine Jacke über die Soldatenuniform. »Wir geben euch Bescheid, wenn wir sie gefunden haben.«

Wenn. Das klang gut.

Und so wartete ich mit Iggy, seiner Mutter und seinem eigenartigen Huhn in der Sofaecke im Pub, während die Suchtrupps ausschwärmten.

Betreten schwiegen wir. Ich kannte die beiden ja kaum.

Schließlich sagte Iggy: »Meinen Vater haben sie auch gefunden.«

Fragend sah ich ihn an.

»Als ich klein war, ist er auch mal verschwunden. Die Polizei hat ihn zwei Wochen später in London gefunden, da hat er auf der Straße gelebt. Also …«

»Geht’s … geht’s ihm gut?«, fragte ich.

Seine Mutter sah abwesend aus dem Fenster.

Iggy nickte. »Ja. Er hat jetzt eine neue Familie. Aber nach Weihnachten kommt er mich besuchen, stimmt’s, Cora?«

Jetzt sah Cora ihn an. »Er will es versuchen, Iggy. New York ist nicht eben um die Ecke und du kennst ihn ja.«

Iggy sackte regelrecht in sich zusammen. Verlegen zog ich mein Handy raus und rief Tammy zum x-ten Mal an.

»Hallo, hier ist Tammy. Ich bin nicht da, hinterlasst mir eine Nachricht!«

Mir gingen die schlimmsten Gedanken durch den Kopf. Tammy ist entführt worden. Ermordet …

Aber wer sollte es gewesen sein? Und wie?

Deshalb erzählte ich Iggy und seiner Mutter die ganze Geschichte noch mal. In aller Ausführlichkeit berichtete ich von dem See, dem Summen und der Nebelsäule …

Sie hörten zu und nickten nachdenklich. Dann klingelte mein Handy. Es war Mam. Ich versuchte, mir keine großen Hoffnungen zu machen. Doch genau wie vorhin, als ich mir vorstellte, dass Tammy aus dem Wald auf mich zukommen würde, wünschte ich mir sehnlichst, Mam sagen zu hören: »Wir haben sie gefunden.«

Aber stattdessen sagte sie: »Nichts. Wir machen uns auf den Rückweg. Die Polizei kommt vorbei, bestimmt will sie mit dir sprechen, Ethan.«

Iggy kriegte auch ohne Lautsprecher alles mit und zuckte bei dem Stichwort »Polizei« merklich zusammen. Ich hatte schon vorher gewusst, dass es ernst war, doch jetzt hatte ich Gewissheit.

11. Kapitel


Iggy Fox-Templeton wird in dieser Geschichte eine wichtige Rolle spielen. Ich hätte selbst nie damit gerechnet, dass wir mal so gute Freunde werden würden. Oder dass es überhaupt eine gute Idee sein könnte, sich mit ihm anzufreunden.

Iggy ist nämlich der Junge, der die Schule in Brand gesteckt hat. Obwohl das gar nicht stimmt, denn ich war zufällig dabei. Bloß der Junge, der den Mülleimer in Brand gesteckt hat klingt einfach nicht so toll.

Mam und Dad finden, dass Iggy kein guter Umgang ist, weil er besagte Tüte Chips aus dem Lagerhaus geklaut hat.

»Und dann nennt er seine Mutter auch noch Cora«, sagte Dad abfällig. »Durchgeknallte Hippietante trifft es wohl eher!« Das ging Mam aber zu weit und sie bat ihn, nicht so gemein zu sein.

Ich bin zwar erst seit September hier auf der Schule, aber Iggy war fast nie da, entweder schwänzte er oder er war vom Unterricht suspendiert, weil er mal wieder was ausgefressen hatte.

Und neulich hat er dann den Mülleimer auf einem der Schulspielplätze abgefackelt.

So schlimm war es eigentlich gar nicht. Niemand ist verletzt worden, wobei das natürlich hätte passieren können. Und Iggy wäre sogar ungeschoren davongekommen, wenn Nadia Kowalski ihn nicht verpetzt hätte. Mit der hatte er es sich kurz zuvor gründlich verscherzt und sie war auf Rache aus.

Es fing alles im Physikunterricht an. Unser Lehrer Mr Springham sprach über Lichtbrechung. Oder Spiegelung. Vielleicht auch beides, so genau erinnere ich mich nicht mehr. Allerdings weiß ich noch, dass Iggy nach vorn gerückt war und fasziniert beobachtete, wie Mr Springham einen Lichtstrahl mithilfe einer Wasserflasche auf einen einzelnen Punkt ablenkte. Iggy schrieb sogar mit, was ich sonst bei ihm noch nie erlebt hatte.

Am nächsten Tag saß er hinter mir im Schulbus.

Vor mir war Tammy mit Nadia Kowalski. Außer uns fuhren noch sechs weitere Schüler regelmäßig mit, alle aus verschiedenen Jahrgangsstufen, aber die kannte ich kaum. Manche unterhielten sich, andere hörten Musik oder spielten auf ihren Handys herum.

»Grüß dich, Tait.« Iggy beugte sich von hinten über die Lehne. Das war im Oktober, ein paar Monate nach unserem Umzug nach Kielder, da kannte ich ihn erst flüchtig. Außer Tammy war er im Dorf der Einzige in meinem Alter. Er ist sogar ein Jahr älter als Tammy und ich, aber weil er in der Schule so häufig gefehlt hat, geht er noch in die siebte Klasse.

»Willst du mal meinen Todesstrahl sehen?«, flüsterte er mit Seitenblick auf Tammy und Nadia.

Ohne meine Antwort abzuwarten (ich hätte ohnehin Ja gesagt, wer würde nicht gern einen Todesstrahl sehen, was immer sich dahinter verbarg?), drängte er sich an mir vorbei an den Fensterplatz.

»Versprichst du mir, dass du dichthältst?«, fragte er.

Ich zuckte die Achseln. »Klar.«

Dann nahm Iggy die Brille ab. »Warte, bis wir anhalten.«

An dem Tag war es echt warm, es fühlte sich mehr wie August als Oktober an. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel. Kurz darauf hielt der Bus an einem Feldweg, da würden wir jetzt eine Weile stehen, denn das Mädchen, das da wohnte, kam immer zu spät. Die Fahrerin stellte den Motor ab und alles wurde still. Iggy wühlte in seiner Tasche herum und förderte eine kleine, runde Glasflasche zutage, die genauso aussah wie die, mit der Mr Springham die Lichtbrechung demonstriert hatte.

»Hey, ist das …«, setzte ich an.

»Schhhh. Habe ich mir nur ausgeliehen. Jetzt pass auf.«

Er hielt die Flasche ans Fenster, nahm die Brille von der Nase und bewegte sie vor der Flasche auf und ab.

Die Sonne schien durch die Flasche und die dicken Brillengläser auf den Sitz vor uns und bildete da ein Lichtdreieck, an dessen Spitze ein heller Kreis thronte. Iggy drehte die Brille ein wenig, sodass sich der Kreis zu einem scharfen Lichtpunkt zusammenzog, den Iggy sogar bewegen konnte. Ganz langsam ließ er den Punkt die Lehne hinaufwandern, bis er auf Nadia Kowalskis Nacken ruhte.

»Das ist elementare Physik«, flüsterte Iggy, als wäre das sein Spezialgebiet. »Die Linse meiner Brille bündelt die Sonnenstrahlen zu einem Brennpunkt. Pass auf!«

Es dauerte nicht lange. Sekunden später schon schrie Nadia »Au!« und ihre Hand schoss in den Nacken. Nachdem sie zu Tammy gesehen hatte, drehte sie sich zu uns herum.

Iggy hatte sich die Brille wieder aufgesetzt und trank einen Schluck Wasser aus der Flasche.

»Habt ihr … habt ihr gerade …?«

Mit großen, unschuldigen Augen sahen Iggy und ich erst uns und dann Nadia an.

»Was?«, fragten wir im Chor. Nadia wendete sich wieder ab.

An ihrem Nacken konnte ich einen winzigen Brandfleck von Iggys »Todesstrahl« ausmachen. Und ich konnte erkennen, dass sie knallrot geworden war, denn alle im Bus hatten sich bei ihrem Aufschrei zu ihr umgedreht, auch ein Junge namens Damien aus der Neunten. Wir wussten alle, wie sehr sie für ihn schwärmte.

Mit einem fiesen Grinsen machte sich Iggy aufs Neue ans Werk, nahm die Brille ab und brachte sie in Position, doch in dem Moment wurde der Motor wieder angelassen. Bei der Vibration war es ihm unmöglich, den Todesstrahl ruhig zu halten.

So leicht wollte Iggy allerdings nicht aufgeben. Zwanzig Minuten später hielten wir vorm Schultor. Der Motor wurde ausgeschaltet und alle erhoben sich von den Plätzen.

»Nicht so eilig!«, brüllte Maureen, die Busfahrerin, die die Türen immer erst öffnete, wenn sie ihren Bogen auf dem Klemmbrett ausgefüllt hatte.

Iggy nutzte die Gunst der Stunde, riss sich die Brille von der Nase und lenkte den Todesstrahl auf Nadias Kniekehle.

Nadia stand ganz still, der Lichtpunkt war spitz und grell. Sie unterhielt sich gerade mit Damien Sonstwie und warf das Haar zurück, als sie plötzlich laut aufkreischte.

»Auuuuuuu!« Die Bücher, die sie im Arm hielt, fielen zu Boden. Alle starrten sie an, als sie sich runterbeugte und die schmerzende Kniekehle rieb.

Dabei rammte sie Damien ihren Kopf in die Brust, sodass er in die anderen hinter sich stolperte, woraufhin Maureen losbrüllte: »Jetzt reißt euch doch mal zusammen, Leute!«

Mir gelang es, keine Miene zu verziehen, doch Iggy schüttete sich aus vor Lachen.

Als wir dann irgendwann den Bus verlassen durften, hörte ich, wie Damien zu seinen Kumpels sagte: »Die hat ja echt ’nen Hau!« Und zwar so laut, dass Nadia es hören musste.

Tammy lief neben mir. »Das war ganz schön gemein von euch«, sagte sie, aber auch sie konnte sich das Grinsen kaum verkneifen.

»Ich habe damit nichts zu tun. Das war Iggys Todesstrahl.«

Tammy schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Die rächt sich. Wart’s ab.«

Da musste Iggy nicht lange warten.

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Hacim:
257 s. 12 illüstrasyon
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9783649640110
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