Kitabı oku: «Lächeln gegen die Kälte», sayfa 2
„Das ist nicht möglich“, sagte er. „Denn eine solche schwierige Reparatur darf nur ein lizenzierter Fachmann durchführen.“ (Das gebrochene Scharnier hatte auf jedem seiner zwei Flügel jeweils drei Kreuzschrauben. Ein schwer zurückgebliebener Zehnjähriger hätte diese Reparatur durchführen können.)
„Und wann kommt ein solcher?“, fragte ich.
„Der müsste mit dem Hubschrauber aus Kathmandu kommen. In den nächsten Tagen!“
Von nun an ging auf einmal alles sehr schnell. Denn Herr X, der Kölnisch-Wasser-Entwender und Gipfelbild-Kopfabschneider (er war nicht sehr großgewachsen), drängte sich plötzlich mithilfe seiner Ellenbogen durch unsere Reihen nach vorn und baute sich vor dem Captain auf.
„Kennen Sie Herrn …?“ Er nannte einen asiatischen Namen. Der Captain starrte ihn verständnislos an, und Herr X half seinen grauen Zellen auf die Sprünge: „Der Chef von …“ und nannte eine Weltvereinigung von Fluglinien. Der Captain starrte ihn an. Herr X starrte zurück. „Wenn Sie uns nicht umgehend und sofort von hier wegbringen, dann können Sie Ihre Karriere beim Reinigungspersonal in der Flughafentoilette von Kathmandu beschließen!“
Der Captain war wie ausgewechselt. Fast demütig gab er seine Zustimmung zum Verkleben der Flugzeugtür. Dann kletterte ich über das Cockpit in den Fahrgastraum und spannte die Tür mittels eines Zugknotens, den ich in das Kletterseil machte, in den Rahmen. So, es konnte losgehen.
Und während ich noch sinnierte, über welch dunkle Kanäle unser Kölnisch-Wasser-Entwender den allerhöchsten Chef dieser Weltvereinigung kennen mochte, war meine Gruppe mithilfe der Sherpas schon fleißig dabei, unser Gepäck heranzuschaffen. Doch noch einmal widersetzte sich der Pilot unseren Wünschen, ein letztes Mal erfolgreich: „Sie müssen das Gepäck hierlassen“, sagte er, „denn sonst sind wir zu schwer. Nur die allernötigsten Kleidungsstücke, die Sie am Körper tragen, und die Waschutensilien, die können Sie mitnehmen!“
„Wir werden Ihnen den Rest des Gepäcks nachschicken“, versprach der Oberkapo.
„Umgehend. Mit einem der nächsten Flugzeuge!“ (Wir sollten unsere Ausrüstung nie wieder sehen.)
Zweifelsfrei handelte es sich beim folgenden Start des Flugzeugs um den spannendsten in meinem Leben. Und das wird wohl so bleiben. Links und rechts der Rollbahn hatten sich sämtliche Touristen aufgestellt (es mussten inzwischen an die sechshundert sein), während der Captain und sein Co das Flugzeug in Startposition brachten. Die Schnauze wies nach unten. Die Piloten ließen die Motoren zur höchsten Umdrehungszahl aufheulen und lösten dann die Bremsen. Das Flugzeug raste und schleuderte und schaukelte über die butterweiche Rollbahn tiefer, während links und rechts die Touristenmenge klatschte und johlte. Die Mitglieder meiner Gruppe hatten sich angeschnallt, den Kopf auf die Arme gelegt und die Augen geschlossen, wie man es bei den Sicherheitshinweisen immer lernt, aber ich sah für mich selbst keine Veranlassung mehr dazu. Ich stand hinter dem Captain und sah, wie der Schweiß in Strömen von seinem Hinterkopf lief und sein Hemd verfärbte. Das Flugzeug schleuderte, bevor wir abhoben, wollte es noch seitlich ausbrechen, aber die Piloten hatten es im Griff und wir waren in der Luft! Sie richteten die Schnauze des Geräts wieder zur Flugrichtung. Im Fahrgastraum war es totenstill. Nicht einmal „Die Mission ist erfüllt!“ war zu hören. Und es blieb totenstill bis zur Landung. Als das Flugzeug auf dem Inlandsflughafen ausgerollt war, blieben wir alle noch eine oder zwei Minuten sitzen. Dann drehte der Captain langsam den Kopf und blickte mich lange an. Es lag in seinen Augen ein brüderlicher Ausdruck, etwas, das im Empfinden ähnlich sein mochte wie dasjenige von Flugzeugentführern und Geiseln, nachdem sie gerade eine gemeinsame Bruchlandung überlebt haben. Ich werde diesen Blick nie mehr vergessen. Er trug dazu bei, dieses Land in den folgenden Jahrzehnten wieder und wieder zu bereisen.
Es war elf Uhr. Von der Ankunftshalle konnten wir hinter einer hohen Mauer die Heckflossen unserer Thai-Maschine sehen und die Triebwerke laufen hören. Sie war knapp vor dem Start. Wir eilten im Laufschritt zur Abflughalle des Internationalen Flughafens.
Herr X steuerte, gemeinsam mit mir, eine Gruppe von Thai-Bediensteten an. Einer davon trug ein Funkgerät. Es musste der Stationsmanager sein. Herr X wechselte einige hastige Worte mit ihm, wieder verstand ich den gleichen Namen und die gleiche Vereinigung wie schon in Lukla.
Der Stationsmanager sprach aufgeregt in sein Funkgerät. Wenige Minuten später hörte man, wie die Triebwerke der Thai-Maschine gedrosselt wurden.
Ein allerletztes Riesenproblem war, dass wir keine Pässe dabei hatten. Denn in Nepal ist es üblich, am Beginn der Tour die Pässe im Büro der Expeditionsagentur in Kathmandu zu lassen, weil man sie ja zur Bergbesteigung nicht braucht, und stattdessen eine Besteigungsgenehmigung mit Namen mitführt.
Wie aber kamen wir nun möglichst schnell zu unseren Pässen? Ich wollte mir ein Taxi nehmen und in die Stadt rasen, aber der Stationsmanager wies mich darauf hin, dass gerade der König samt Gefolge von einem Staatsbesuch zurückgekehrt war.
„Und was hat das mit uns zu tun?“, fragte ich.
„Nun ja, die Straßen zwischen dem Flughafen und dem Königspalast im Zentrum sind gesperrt. Wegen der Parade!“
Auch das noch. Es blieb uns wirklich nichts erspart. Rat suchend blickte ich in die Runde, während ich draußen die Triebwerke der Thai-Maschine laufen hörte.
„Wie lange werden die Straßen gesperrt sein?“
„Nicht mehr lange, Sir. Vielleicht zwei oder drei Stunden.“
Aus. Es war vorbei. Der einzige Weiterflug der ganzen Woche würde ohne uns abheben.
„Kann man telefonieren?“
„Wir haben normalerweise ein Telefon, Sir.“ Er wies mit dem Kinn zu einer Säule, an der ein schwarzes Telefon aus Bakelit hing. „Aber leider, Sir, es ist seit einigen Tagen außer Betrieb!“
Ich ließ meinen Blick Rat suchend durch die Halle schweifen. An der Stirnwand hing ein Ölbild des Königs samt Familie. Ich beschloss, dass ich kein Monarchist war (niemand konnte damals ahnen, dass der arme Birendra samt Großfamilie fünfundzwanzig Jahre später bei einem konzertierten Attentat sein Leben lassen würde).
„Und das Telefon funktioniert wirklich nicht?“
„Nein, Sir. Leider, Sir.“
Bedauernd blickte ich noch einmal zum Telefon. Da kam mir eine Idee. Neben dem Telefon stand schon die ganze Zeit ein etwa fünfzehnjähriger Nepalese und beobachtete uns. Er hatte ein sympathisches, offenes Gesicht und lächelte mir nun zu.
„Willst du dir hundert Dollar verdienen?“, sagte ich zu ihm.
„Aber gern, Sir.“
„Hast du ein Motorrad?“
„Nein, Sir. Das kann ich mir nicht leisten.“
„Auch kein Fahrrad?“
„Nein, Sir. Aber ich könnte mir eines ausleihen.“
Ich kritzelte die Adresse des Stadtbüros unserer Expeditionsagentur auf einen Zettel. Dann übergab ich ihm fünfzig Dollar: „Nur die Pässe. So schnell wie möglich. Und wenn du zurückkommst, erhältst du die anderen fünfzig!“
„Aber ja, Sir. Gern, Sir!“
Ich sah ihn davonlaufen und wieder begann eine quälende Zeit des Wartens, in der wir die immer noch laufenden Triebwerke unserer wartenden Maschine hörten.
Nach einer Stunde war der Junge wieder da und trug in einem Plastiksäckchen unsere Pässe. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen.
Wir eilten im Laufschritt unter Begleitung der Thai-Bediensteten zum Zoll. Aufgeregt sprach der Stationsmanager in sein Funkgerät. Die Papiere meiner Gruppe waren bald abgestempelt, als ich, als Letzter, aufgehalten wurde.
„Was ist denn jetzt schon wieder?“
Der Zollbeamte wies mit dem Finger auf einen handgeschriebenen Eintrag in meinem Pass. One Walkman With Him, stand da. Mein Gott, darauf hatte ich ganz vergessen. Ich hatte den Walkman beim Rückmarsch vom Berg der Frau eines bekannten Bergsteigers geliehen, die gerade zu einem hohen Berg aufbrachen. Und nun hatte ich ihn nicht dabei, um ihn wieder auszuführen. Ich versuchte mit Händen und Füßen dem Zollbeamten zu erklären, dass es sich hier nicht um eine groß angelegte Schmuggelaktion handele, sondern um ein Missverständnis, aber er verstand kein Englisch und verweigerte mir den Ausreisestempel. Durch die verdreckten Scheiben des Flughafens sah ich schon meine Gruppe die Gangway hinaufsteigen und mich alleine zurücklassen, da ergriff einer der Thai-Bediensteten in einem günstigen Augenblick einfach den Stempel des Zollbeamten, drückte ihn in meinen Pass, und sie nahmen mich an beiden Seiten und rannten mit mir auf das Rollfeld, während uns schreiend und protestierend der Zollbeamte nachlief. Aber ich hatte die Gangway schon erreicht, fand gerade noch die Zeit, mich bei meinen Rettern zu bedanken, und wurde schon vom Bordpersonal in Empfang genommen und zum Sitz geleitet. Das Flugzeug war, mit Ausnahme unserer freien Sitze, voll besetzt mit Amerikanerinnen reiferen Alters. Sie hatten tapfer und ohne Protest stundenlang wegen uns ausharren müssen. Das Flugzeug hob endlich ab, nach Erreichen der Reiseflughöhe servierten die Stewardessen gerade das Essen, als uns der Captain über den Bordlautsprecher als Himalayabergsteiger vorstellte. Da rührte keine der Amerikanerinnen, die neben uns saßen, ihr Essen an. Sie warteten, bis wir unsere Portionen aufgegessen hatten, und schoben uns dann die ihren unter mitleidigen Blicken herüber. Nie mehr in meinem Leben sind mir ältere Damen mit blauen Haaren, strassbeklebten Brillen und grünen Lippen so sympathisch gewesen.
In Bangkok wurden wir von einem Bus abgeholt und ins reservierte Hotel gebracht. Es war das Hotel Oriental, das in diesen Jahren gerade zum wiederholten Male zum besten Hotel der Welt gekürt worden war.
Wir betraten die Halle, in deren Mitte ein etwa dreißig Meter hoher Wasserfall herunterfiel und goldbetresste Bedienstete die Messinggeländer der Treppenaufgänge polierten, und näherten uns im Gänsemarsch der riesigen Rezeption. Die meisten von uns trugen noch ihre grauen, lodenen Knickerbocker, karierte Hemden und unförmige Expeditionsschuhe aus Plastik. In den Händen hielten wir durchsichtige Plastiksäckchen, darin gut sichtbar die Zahnbürsten und Waschutensilien, das einzige Gepäck, das mitzunehmen uns erlaubt gewesen war. So standen wir also, im besten Hotel der Welt, eine müde, stoppelbärtige Karawane, und zeigten unsere Pässe. Der Chefrezeptionist hüstelte.
„Entschuldigen Sie, Sir, woher kommen Sie?“
Wenn ich behauptet hätte, dass ich Amundsen sei und der neben mir stehende Herr X mein Begleiter Hansen und der Rest meiner Gruppe meine Schlittenhunde wären und wir gerade vom Nordpol oder Südpol kämen, hätten die Rezeptionisten auch nicht verwunderter geblickt. So aber sagte ich ganz einfach: „Aus dem Himalaya.“
„Aus dem Himalaya“, wiederholte der Empfangschef.
„So ist es!“
„Sehr wohl, Sir!“
Und während die Rezeptionisten uns alle für einige Sekunden ungläubig anstarrten, hörte ich aus der Warteschlange hinter mir halblaut die Worte: „Meine Mission ist erfüllt!“
Ja, dachte ich mir. Die meine auch.
MANGALE
Die schönsten Zeiten mit Mangale waren, wenn wir um das Herdfeuer einer Hütte saßen, sich nach und nach die einheimischen Träger und Sherpas dazugesellten und er, der Sirdar, zu erzählen begann. Dann wurde es im Kreis sehr ruhig, und nur gelegentlich, wenn er sein für ihn typisches Räuspern einlegte, zündete sich der eine oder andere eine Zigarette an oder schenkte sich aus dem Krug nach.
Mangale zu beschreiben, gelingt mir am besten, indem ich eine Comicfigur aus meiner Kindheit verwende. Ich habe eine solche Figur als Miniaturpuppe besessen und musste im Fasching, beim Kindermaskenumzug, selbst solcherart maskiert gehen, wahrscheinlich, weil es für Mutter am einfachsten war, mich so zu verkleiden: als Mecki mit seiner Igelfrisur und den großen Geheimratsecken. Eine solche Maske war in jedem Geschäft billig zu erstehen, dazu ein rupfener Sack mit ausgeschnittenen Ärmeln, und der Auftritt war perfekt. Später, schon etwas größer, hab ich dann als „Neger gehen“ müssen, mit einem Bastrock und einer schwarzen Pudelmütze, das war ebenso einfach, denn schwarze Schminke ist schnell aufgetragen. Entsprechend missgelaunt sehe ich auf diesen Bildern aus, wenn ich heute im Familienalbum blättere, aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Mangale Sherpa jedenfalls hatte etwas vom Gesicht dieses Mecki, die stachelige Frisur, die Geheimratsecken, die dreieckigen Augen, die immerzu treuherzig blickten, die leicht nach oben gebogenen Mundwinkel, die ihm etwas Heiteres, Niedliches verliehen. Allerdings waren seine Lippen immer geschwollen und von Fieberblasen übersät, große, gelbe Fisteln und Flecken, und seine Unterlippe in der Mitte durch einen Hauteinriss geteilt, der mich allein durch das Hinsehen schon schmerzte. Ich brauchte Jahre, um daraufzukommen, dass die Fieberblasen immer dann besonders groß waren, wenn Mangale mit einer Gruppe unterwegs war, sie mussten durch Stress und seelischen Druck entstanden sein. Erst als ich ihm eine ganze Kurpackung Zovirax (als Salbe und in Tablettenform) mitgebracht hatte, ausreichend für drei oder vier Monate, gelang es mir, ihm zu helfen.
Damals schon fiel mir auf, dass die Sirdars häufig unter Fieberblasen litten und dass Sherpas, die von einer Expedition auf einen hohen Berg zurückkamen, wie die Schlote rauchten und wie die Bürstenbinder soffen, während andere, normale Trekking-Sherpas, kaum oder gar nicht rauchten. Es wird wohl auf die Belastungen zurückzuführen sein, die die Climbing Sherpas mit den ihnen Anvertrauten haben.
Eine der Stärken Mangales war, neben seinem Organisationstalent, zweifelsfrei sein Hang zur Komik und sein Talent, andere zu imitieren. Dazu gab es genügend Gelegenheiten, denn Mangale war ein vielbeschäftigter Mann. In der Frühjahrs- und Herbstsaison war er meistens mit mir und meiner Gruppe unterwegs, aber auch mit deutschen Gruppen. Im Sommer, während der Regenzeit, verdingte er sich für indische Agenturen und führte in Ladakh, wo der Monsun nicht hinkommt, weil er sich an der Südabdachung des Himalaya bricht. Im Winter führte er Japaner oder Inder und in manchen Sommern amerikanische Geologen im Annapurnagebiet oder im Dolpo oder Mustang. Daher konnte er auf einen reichen Fundus zurückgreifen, wenn er verschiedenste Nationen auf ihrem Weg durch die Berge imitierte. Sherpas sind ja im Allgemeinen sehr zurückhaltend, was Äußerungen über Touristen anderen Touristen gegenüber betrifft. Aber weil mich mit Mangale ein jahrelanges freundschaftliches Verhältnis verband, ließ er mich eines Abends an seinem Talent teilhaben.
„Seepp“, sagte er mit tiefer Stimme.
Jooo“, entgegnete er sich selbst.
„Pipipause.“
„Jooo.“
Mangale ging hinter einen Baum, mimte das Öffnen der Hosentür, und sein Gesicht nahm einen sinnenden Ausdruck an, während er „psch …, psch…, psch“ flüsterte.
Das war die bayrische Gruppe. Oder:
„Oh look, honey“, sagte er mit heller Stimme, und sein Blick nahm einen weltfernen, begeisterten Ausdruck an. Er blickte dorthin, wo hinter einem Rücken der Dhaulagiri und die ihn umgebenden Siebentausender stehen mussten.
Nun mimte er das Gegenüber der Amerikanerin, indem er einen Schritt zur Seite trat, und mit tiefer Stimme „yes, my dear?“ erwiderte.
„Isn’t that gorgeous?“
„Oh, it’s marvellous, honey.“
So bekamen die Amerikaner ihr Fett ab. Die eher kollektive Erscheinungsform einer japanischen Gruppe imitierte er, indem er von einem zum anderen sprang und dazu in schneller Folge japanische Entzückensbemerkungen von sich gab. Sherpas erlernen die japanische Sprache ja relativ leicht. Wir lachten uns bei dieser Darstellung schief.
Damals gab es im Solo Khumbu, der Heimat der Sherpas, noch keinen Fernseher, und natürlich auch keine Tageszeitung. Das mochte mit ein Grund dafür sein, warum die Sherpas ein dermaßen gutes Gedächtnis haben: weil sie durch nichts abgelenkt sind. Ich war oft bass erstaunt, wenn mich jemand nach zehn Jahren Abwesenheit sofort wieder erkannte und sich minutiös an jedes Wort unseres damaligen Gesprächs erinnerte.
Unsere letzte gemeinsame Tour führte im Frühjahr 2001 zum Tilicho Peak. Der Tilicho Peak ist ein Teil der Annapurnagruppe und ragt unmittelbar hinter dem Tilicho Lake etwa siebentausendzweihundert Meter in den tintenblauen Himalayahimmel hinein. Dabei ist Tilicho Lake eigentlich ein Pleonasmus, denn etymologisch stammt der Name aus dem Thakali: dili heißt entfernt, entlegen, und Tsho heißt See. Also bedeutet Tilicho entlegener See. Man sagt, es sei der höchste See der Welt.
Wir schlugen das Basislager an seinem östlichen Ufer auf. Es hatte in den Tagen vorher über einen Meter Neuschnee gegeben. Die konkav angeordneten Siebentausender wirkten in ihrem gnadenlosen Weiß wie ein Brennglas. Niemals wieder habe ich erlebt, dass man unter der Strahlung der Sonne dermaßen leiden kann, wie wir es damals taten. Manche von uns versuchten, sich gleich zwei Gletscherbrillen übereinander aufzusetzen und zusätzlich noch jede einzelne Ritze gegen den seitlichen Strahleneintritt mit Klebebändern abzudichten.
Umsonst, abends im Esszelt sitzend, mussten wir aneinander rot geränderte Augen feststellen. So ging es mit meinen Vorräten an Augensalbe und Tropfen ziemlich schnell zur Neige.
Am ersten Tag nach der Ankunft im Basislager wurde die rituelle Zeremonie für einen glücklichen Ausgang der Expedition vorgenommen: Ein kleiner, freier Platz unweit des Lagers wurde frei geschaufelt und ein Altar aus Steinplatten gebaut. Dann sammelten die Sherpas auf großen Tabletts alle notwendigen Ingredienzen für die Feier: Schokolade, Kekse, Bonbons, Tschang, Rakhsi, Bier, Whisky, Zigaretten, Reiskörner, während andere Küchenjungen inzwischen tibetische Gebetsfahnen vom Flaggenmast in der Mitte des Altars nach allen vier Windrichtungen spannten. Diese Gebetsfahnen haben fünf Farben und sind mit Gebeten bedruckt, auf dass sie der Bergwind in alle Richtungen und zu den Göttern trägt. Sie sollen dem gesamten Universum und allem Leben Schutz und Segen bringen. Die Farben stehen für die fünf Elemente, wie man sie im Tibetischen versteht: Blau repräsentiert das Element Wasser, Weiß das Element Raum, Rot das Element Feuer, Grün das Element Luft und Gelb das Element Erde.
Fast konnte man die Zusammensetzung unserer Expedition als international bezeichnen: Während Reinhard, Maria und ich aus dem Innsbrucker Stadtteil Kranebitten stammten, war Hannes ein Ur-Höttinger (was seine etwas seltsamen Regeln beim Kartenspiel und sein Eigensinn später bewiesen), und die Sherpas und Küchenjungen waren ethnisch über das ganze Land verteilt: Mangale war Sherpa (und Sirdar), dann kam Ang Phuri als Climbing Sherpa (Climbing Sherpa tragen Lasten erst ab dem Basislager), Salami Dawa war ebenfalls Climbing Sherpas, hatte aber die Gesichtszüge und den dunklen Teint eines Bihari (vielleicht hatte einer seiner Ahnen als durchwandernder Schneider oder Schmied einmal in einer Sherpahütte übernachtet). Übrigens hieß Salami Dawa deshalb so, weil er eben Salami gern mochte und man ihn so von Camera Dawa unterscheiden konnte, der auch ein Sherpa war und deshalb so hieß, weil er Maria an der Kamera assistierte. Dann war noch Kalden Sherpa, nun aber schon gefolgt von Bupat Rai, unserem Chefkoch, eben ein Rai, Thiren Sherpa, der Küchenjunge, Lalji Gurung, ein Gurung, Lal Bahadur und Ram Shresta, ebenso Küchenjungen. Camera Dawa übernahm die Rolle des Lama. Wahrscheinlich war er kein ordinierter Lama, aber würdig und religiös und geübt im Umgang mit den Ritualen. Sherpas sind ja keine Dogmatiker, deshalb ist ihnen auch jeder Fanatismus und jede Engstirnigkeit fremd. Dawa ist nicht nur mit der Ausstattung eines intelligenten Menschen gesegnet, sondern auch mit den Instinkten und der Orientierungsfähigkeit eines Hundes, was sich einige Jahre später, beim Auffinden eines vom Verfolgungswahn befallenen Sherpas meiner Gruppe, sehr bewähren sollte. Aber das ist eine andere Geschichte.
Bemerkenswert an Camera Dawa war auch der Umstand, dass er sich beharrlich weigerte, auch nur ein Wort Englisch zu sprechen oder zu lernen, aber, mit den Fähigkeiten eines aufmerksamen Menschen ausgestattet, trotzdem immer das Richtige zu tun.
In den Tagen vorher, beim Anmarsch über den Mesokantu-Pass, hatte man immer wieder vereinzelte Sherpas und Küchenjungen an den Hängen neben dem Anstiegsweg in gebückter Haltung gesehen, sie sammelten Wacholderstauden und Heilgräser in kleinen Plastiksäcken, um sie beim Opferfeuer zu verwenden.
Der Altar war nun also aufgebaut und die Gebetsfahnen verspannt. Es war ein eindrucksvolles Bild, als sie sich nach allen vier Himmelsrichtungen in einem Radius von etwa zwanzig Metern in der leichten Morgenbrise bewegten. Lange Gebete und Segnungen folgten, während denen Camera Dawa immer wieder die Entität des Universums beschwor, indem er abwechselnd Reiskörner in die Luft warf und Rakhsi, Bier, Whisky und Tschang versprühte. Der Rauch des Opferfeuers stieg fast senkrecht vom Altar in den Himmel, und es duftete nach einem Gemisch aus Gebirgskräutern und Wacholderholz. Am Ende mussten wir, die wir reihum standen, das Ritual nachmachen. Jeder hielt eine Handvoll Reis, eine Schale mit Rakhsi und auch Bier und Whisky, und das opferten wir nun den Göttern und auch uns, indem wir zuerst die Gaben weit in die Luft warfen, dazwischen aber immer wieder von den Süßigkeiten naschen und mit Alkohol hinunterspülen durften.
Als Camera Dawa seine Riten beendigt hatte, gingen wir wieder zur Tagesordnung über. Mangale gab seine Anweisungen, und die Köche und Küchenjungen werkten eifrig unter ihrer Plastikplane, während wir Bergsteiger unsere Zelte häuslich einrichteten. Rasch war die Sonne hinter den Weiten von Mustang untergegangen, und es wurde empfindlich kalt. So verschwanden wir einer nach dem anderen in den Zelten, um die Zeit bis zum Abendessen abzuwarten. Während ich mir mit Maria ein Zelt teilte, tat dies Hannes mit Reinhard, und so flogen die üblichen Witze und Scherzworte hin und her, bis wir auf einmal ein seltsam kratzendes, reißendes Geräusch hörten. Wir wurden sofort still und hörten angestrengt hin. Das Geräusch wiederholte sich noch einige Male und war dann verstummt. Wir öffneten die Reißverschlüsse und mussten entdecken, dass die große Schachtel mit Parmesan, die Hannes unter dem Vorzelt verstaut hatte, aufgebrochen war und der Käse fehlte. Augenblicklich gab es ein großes Hallo, und Mangale untersuchte zusammen mit uns die Spur, die von unserem Lager weg bis zu den großen Felsblöcken oberhalb des Sees führte. Es waren zweifelsfrei die Tatzenabdrücke eines größeren Raubtiers. „Ein Schneeleopard!“, stellte Mangale lakonisch fest. Auch wenn wir den Parmesan vermissten, waren wir nicht wenig stolz, die Ehre des Besuches eines Schneeleoparden gehabt zu haben, denn diese Tiere gehören zu den scheuesten des gesamten Himalaya.
Wenige Jahre vorher hatte der Schriftsteller Peter Matthiessen zusammen mit dem weltbekannten Wildbiologen George Schaller eine Expedition in die Gegend westlich von uns unternommen und trotz ihres professionellen Verhaltens in drei Monaten nur einmal die Spur eines Schneeleoparden sichten können. Aus dieser Fahrt war das Buch „Auf der Spur des Schneeleoparden“ entstanden und ein Weltbestseller geworden.
Wir waren uns also unseres Logenplatzes und der Ehre des Parmesandiebstahls durchaus bewusst und staunten nicht schlecht, als sich der Vorgang am nächsten Abend wiederholte. Es war noch nicht dunkel, als wir wieder ein Kratzen und Knistern direkt neben unseren Köpfen hörten, und als wir endlich die Reißverschlüsse geöffnet hatten, fehlte eine große Tafel Schokolade aus einem Karton.
Am nächsten Abend war es schon dunkel, als wir wieder die bekannten Geräusche vernahmen. Mangale und Maria verfolgten die Spur mithilfe von Stirnlampen, kehrten aber bald zurück und beschlossen für den nächsten Abend, dem Schneeleoparden aufzulauern und ihn zu fotografieren. Während also wir Bergsteiger uns zusammen auf den Weg machten, um bei tiefem Schnee zum ersten Hochlager zu spuren und die dahinführenden Seillängen zu versichern, bastelte Maria mithilfe von Mangale und den Küchenjungen eifrig an einer Fotofalle, in die der Schneeleopard tappen sollte. Ein verlockendes Stück Fleisch wurde an einer langen Stange befestigt, ein getarnter Unterstand im Esszelt geschaffen und die Kamera schussfertig gemacht. Maria wollte die ganze folgende Nacht ausharren, um eine der seltenen Aufnahmen in freier Wildbahn, die es auf der Welt von Schneeleoparden gibt, zu schießen. Ich lieh ihr dafür meinen Sturmanzug, damit sie die Kälte besser ertragen könnte, aber das Warten sollte sich als umsonst erweisen. Sie hatte nur seine Augen gesehen, zwei glühende Lichter, die in einiger Entfernung zu unserer kleinen Zeltstadt unbeweglich im Dunkel verharrten, aber nicht näher kamen.
In den folgenden Tagen errichteten wir am Berg Lager eins und zwei, letzteres auf sechstausendvierhundert Metern Höhe, die Zelte fest gegen Stürme am Boden verankert, die steilen Passagen zwischen den Lagern mit fixen Seilen versehen.
Der Tag des Gipfelganges rückte näher, und wir verbrachten noch zwei Rasttage im Basislager. Der Schneeleopard ließ sich nie mehr blicken. Schließlich brachen wir zu sechst auf. Mangale, Ang Phuri und Salami Dawa waren die Climbing Sherpas, Hannes, Reinhard und ich die members. Ich fühlte mich an diesem Tag nicht sehr wohl, litt unter einer leichten Bronchitis und einem Ziehen in der Brust. Also kehrte ich knapp unterhalb von Lager eins um, und Maria und ich beobachteten von unserem Zelt in den folgenden zwei Tagen, wie unsere Mannschaft zum Gipfel stieg und wieder erfolgreich und glücklich bei uns im Lager eintraf. Wir brachen das Lager ab und erreichten am nächsten Abend nach nur einem Tag Gewaltmarsch Jomosom im Kali-Gandaki-Tal. Hier, nicht weit vom Flughafen entfernt, feierten wir gemeinsam unseren letzten Abend, verteilten Geschenke und Trinkgelder an unsere Gruppe und gingen noch einmal die Abrechnungen durch.
Ich hatte Mangale in Dankbarkeit für seine Leistungen meinen neuwertigen Sturmanzug geschenkt und ein großzügiges Trinkgeld, doch die Abrechnungen schienen zu Tage zu bringen, dass noch immer ein größerer Betrag seiner Nachzahlung harrte. Ich war zwar völlig überrascht, im Glauben, alles schon lange bezahlt zu haben, aber dermaßen gründlich rechnete Mangale die Tabellen auf und ab, beteuerte, dass wir so viel mehr Tragtiere für den Anmarsch gebraucht hätten und die Bauern in dieser Gegend besonders geldgierig seien, und blickte mich dermaßen treuherzig mit seinen Mecki-Augen an, dass ich seufzend bezahlte. Es waren zwei Jahresgehälter eines nepalesischen Lehrers.
Im darauffolgenden Herbst war ich wieder im Himalaya unterwegs. Der Große Tendy, mein Agenturchef in Kathmandu, berichtete, dass Mangale in Amerika untergetaucht sei. Amerikanische Geologen, mit denen er während des Sommers im Dolpo oder in Mustang unterwegs gewesen war, hatten ihn danach zu sich nach Hause eingeladen. Nach Ablauf des Visums sei er untergetaucht.
Nun wusste ich, wofür Mangale die Überlinge bei der Abrechnung gebraucht hatte, und auch meinen Sturmanzug sollte ich in den nächsten Wochen wiedersehen, allerdings von jemand anderem getragen. Der Große Tendy, mit einem solchen Feingefühl ausgestattet, wie es eben den Sherpas zu eigen ist, tröstete mich, indem er erzählte, dass auch er seinem alten Freund aufgesessen sei. Er habe ihm vor der Abreise nach Amerika den Auftrag gegeben, eine Steinmauer um sein Haus zu bauen und sie einen Meter tief im Boden zu vergraben. Die Mauer war schließlich fertig, und Tendy fragte ihn, Mangale, ob er sie auch wirklich einen Meter tief in der Erde verankert habe. „Freilich“, habe Mangale treuherzig versichert, und seinen Lohn dafür bekommen. Beim nächsten Monsunregen im folgenden Sommer war die gesamte Mauer eingestürzt, weil Mangale die Steine nur auf die Wiese gelegt und aufgeschichtet hatte.
Ein Jahr später war ich wieder mit der gleichen Sherpatruppe unterwegs. Ich hatte in den Weihnachtstagen zuvor eine Karte aus New York mit Grüßen von Mangale erhalten, ohne weitere Angaben, und wohlweislich ohne Absender.
Am ersten Abend unseres Unterwegsseins saßen wir wieder mit Einheimischen in einer Hütte um ein Feuer, wie früher mit Mangale. Nur diesmal wollte keine rechte Unterhaltung aufkommen. Schließlich fragte ich in die Runde, ob einer wüsste, was eigentlich Mangale arbeite, dort in New York. Keiner wusste es.
„Weißt du es?“, fragten sie mich. Ich erinnerte mich an Mangale als stolzen Sirdar, der mir, immer wenn wir auf einem Gipfel gesessen waren, aufrechten Hauptes erklärt hatte, dass dies „ihre“ Berge, ihre Heimat sei: „aurr maunttäns“ und „aurr madderländ“. Wie alles immer um ihn ruhig geworden war, wenn er am Lagerfeuer zu erzählen begann. Dann stellte ich mir vor, wie er nun, als einer von Millionen Schwarzarbeitern, zusammen mit Chinesen und Schwarzafrikanern und Mexikanern in einem Kellerloch hausen würde, in ständiger Angst vor der Polizei, und im Hinterzimmer eines schmuddeligen Restaurants Geschirr spülte.
Ich erinnerte mich an Mangales Talent, einen Yak aufzuzäumen, mit dem richtigen Zugknoten mithilfe nur einer Hand und nur einer Bewegung die Last festzuzurren; auf fünf- oder sechstausend Metern Höhe bei Windgeschwindigkeiten von über hundert Stundenkilometern und Minusgraden eine kleine Zeltstadt aus dem Boden wachsen zu lassen, immer die Nerven zu bewahren, alle Lasten gerecht zu verteilen und eine Gruppe von fünfzig, sechzig Trägern, Küchenjungen, Köchen, Climbing Sherpas zu führen. Keine dieser Fähigkeiten würde er in New York wohl brauchen können.
„Geschirrspüler“, sagte ich schließlich. „Geschirrspüler. Was will er sonst in New York machen, allein und ohne Arbeitsgenehmigung?“
Alle um mich herum schwiegen bestürzt. Chicken Lama, einer meiner Küchenjungen und dazu der kleinste von allen, stocherte mit einem Ast im Feuer, zündete sich schließlich daran eine Shikar an.