Kitabı oku: «Liebe und Tod im Grenzland», sayfa 10

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Sie holte Noten, die sie bereits gesammelt hatte und spielte als Willkommensgruß für das Klavier in ihrem kleinen Reich ‚Für Elise‘ von Franz Schubert. Endlich! Endlich ihr Klavier.

Es ließ sie vergessen, dass Winter war, dass sie kalte Hände hatte, dass sie sich in eine Decke einhüllen musste, weil sich ihre Beine wie Eiszapfen anfühlten, dass sie Hunger hatte und auch heute nur eine Steckrübensuppe, auf ihrem ebenfalls neu erworbenen Kanonenofen zubereitet, ihr Abendessen sein würde. Sie konnte vorübergehend das Leid ihrer Kollegen vergessen, die sich mit Tränen im Gesicht von ihr verabschiedet hatten, weil sie nicht bleiben konnten.

Emma konnte von nun an die Welt da draußen mit all ihrem nicht enden wollenden Elend für Stunden ausschalten. Sie schlief weniger und übte lieber. Ihre Freude war so überwältigend, dass sie keine Müdigkeit verspürte. Sie aß noch weniger, um schneller von ihren Ratenverpflichtungen herunterzukommen. Schließlich hatte sie wegen der schwindenden Kaufkraft des Geldes bereits ihre Nähmaschine auf Raten gekauft. Sie hatte beschlossen, für sich nur das Nötigste zu nähen, bis der größte Teil ihrer Schulden abgestottert sein würde. Sie ahnte, dass die böse Inflation ihr helfen würde, bald schuldenfrei zu sein. Dass es dann noch schneller gehen würde als vermutet, hatte sie nicht zu hoffen gewagt.

Die Tageseinnahmen, die sie an jedem Abend in ihrem Büro zusammen mit einer Kollegin zählte, bewegten sich in immer größeren Zahlen. Im Juni 1923, die Geldentwertung war noch nicht auf ihrem Höhepunkt angekommen, ließen ihre Kollegin Thea und sie die sechs Nullen auf den Geldscheinen jeweils weg und zählten nur noch die Zahlen davor. Sie bündelten das Geld und warfen es in einen Waschkorb. Aus diesem Waschkorb verteilten sie im Wochenrhythmus die Löhne in Form solcher Geldscheinbündel in kleinere Körbe, die die Mitarbeiter abholten und noch am selben Tag in ihren Laden trugen, um die Grundnahrungsmittel zu kaufen, die auf Lebensmittelmarken zu haben waren. Geld, das man nicht ausgab, war am nächsten Tag nur noch die Hälfte oder weniger wert. Der Anblick wirkte grotesk: Menschen gingen mit Geldkörben zum Einkaufen und kamen zuweilen mit einem Brot als Gegenwert zurück.

Emma hatte, seit sie eigenes Geld verdiente, ein Wirtschaftsbuch geführt, um verfolgen zu können, wo ihr Geld geblieben war. So konnte sie eines Tages die Preisentwicklung nachvollziehen. Aus ihren Notizen und ihrem Wirtschaftsbuch gingen die folgenden Daten hervor, die sie am Jahresende 1923 anlässlich einer kleinen internen Silvesterfeier mit spendierter Extrascheibe Brot von ihrem Chef und einer heißen Tasse Pfefferminztee ihren Kollegen vorlas:

„1914 betrug der Preis für einen Dollar 4,20 Goldmark. Im Jahr 1923 kostete ein Dollar 4,21 Billionen Goldmark. Gegenwärtig ändert sich der Preis eines Dollars fast stündlich. Im Januar 1923 betrug der Preis für ein Brot 250, im August 69.000, im September 1,5 Millionen, im Dezember 399 Milliarden Goldmark.

Im Juni 1923 kostete ein Ei 800, ein Pfund Kaffee 26.000 – 36.000 Mark, im Dezember 1923 ein Kilo Kartoffeln 90 Milliarden, 1 Ei 320 Milliarden, ein Pfund Butter 2.800 Milliarden, ein Zentner – Briketts 1981 Milliarden Goldmark.“

Die meisten Kollegen schütteln fassungslos den Kopf. Weil diese Preisentwicklung derart aberwitzig ist, können einige mit Galgenhumor darüber lachen in völliger Ohnmacht und dem Gefühl, diesen undurchschaubaren Mechanismen ausgeliefert zu sein, die sich verselbständigt zu haben scheinen.

1924 streiken 140.000 Metaller gegen Lohnkürzungen und geplante Arbeitszeitverkürzung und werden ausgesperrt. 1927 wird der Achtstundentag zur Regel. Wer mehr arbeitet, kann Lohnzuschüsse erhalten. Die Arbeitslosenzahl sinkt auf 700.000.

Der Betrieb Meier & Söhne hat die dramatische Zeit nicht überlebt. 1924 ging er in Konkurs.

Emma fand eine neue Stelle im Lungensanatorium in Bad Reinerz als Bürokraft, teils für Buchhaltung, in der sie inzwischen erfahren war und als Schreibkraft für den Chefarzt, für den sie nach Stichworten den Schriftwechsel erledigte.

Viele Soldaten waren lungenkrank aus dem Krieg heimgekehrt. Die Betten in den Sanatorien reichten kaum für alle Kranken. Die völlig unzureichende Ernährung und die schlecht oder nicht geheizten Räume hatten auch in der Zivilbevölkerung zu schweren Lungenschäden geführt. Viele Menschen, die wegen Arbeitslosigkeit ihre Kohlen oder ihre Miete nicht mehr bezahlen konnten, waren in den kalten Hungerwintern in ihrer ungeheizten Wohnung, einem Hauseingang oder auf einer Parkbank verhungert und erfroren. Die Suppenküchen reichten nicht aus, um für jeden Hungrigen oder Frierenden einen Teller heißer Wassersuppe aus Kohlrüben und Kartoffeln bereitzuhalten.

Emma war nicht nur eine verlässliche Mitarbeiterin im Sanatorium, sie war auch eine Bereicherung an den Patientenabenden mit Gesangsbeiträgen sowie ihrem Klavier- und Zitherspiel. In der Berglandschaft um sie herum ergaben sich in den Wintern Möglichkeiten zum Skifahren und Rodeln, die sie und ihre Kolleginnen nutzten.

In ihrer Breslauer Zeit ohne ihre Familie hatte sie ihre Besuche bei Tante Selma wieder aufgenommen. Tante Selma gab jungen Frauen, die allein in der Stadt lebten, die Möglichkeit, sich mit den schönen Künsten zu beschäftigen. Sie lasen mit verteilten Rollen Texte klassischer oder moderner Literatur, besprachen deren Inhalt und konnten sich zuweilen mit der einen oder anderen Rolle identifizieren. Sie bekamen Einblick in die Grafologie, da Tante Selma als vereidigte Grafologin am Amtsgericht in Breslau ein fundiertes Wissen aufzuweisen hatte. Die sechs bis acht jungen Frauen, die regelmäßig in ihre Gruppenstunden kamen, waren begeistert von der Aussagekraft einer Handschrift und deuteten gegenseitig ihre Handschriften, für sie eine neue Möglichkeit, Näheres über einen Menschen zu erfahren.

Da Tante Selma außerdem als Schriftstellerin arbeitete und mehrere Bücher veröffentlicht hatte, versuchten sich Emma und ihre Freundinnen auch darin, eigene Texte zu verfassen.

Sie betrachteten Bilder großer Meister und lernten gute von weniger guten Werken zu unterscheiden. Sie sangen Volkslieder zur Laute oder das eine oder andere Kunstlied mit Klavierbegleitung.

Sie schufen sich auf diese Weise eine neue, unerschöpfliche Innenwelt parallel zu der Welt politischer und wirtschaftlicher Turbulenzen draußen. Diese Welt des Geistes und der schönen Künste half ihnen abzutauchen, ihre Mitte wiederzufinden und gestärkt in den Arbeitsalltag zurückzugehen. Emma spürte, hier bekam ihre Seele die Kraftnahrung, die sie brauchte, aber im normalen Alltag nicht mehr fand, weil die Sorgen und Bedrückungen zu groß geworden waren. Die jungen Frauen trugen diese neu gewonnenen Kraftquellen für Zufriedenheit, ja sogar Glück, in ihre Familien, zu ihren Müttern und Geschwistern und halfen ihnen, ebenso diese Zeiten großer Not besser zu durchstehen.

10. Kapitel
Paul besucht Tante Selma von Görlitz aus in Breslau

Die rotierenden Pleuelstangen der Dampflok schufen den gleichmäßigen Takt, der sich im Zug rollend und vibrierend Holzbänken und Fußboden mitteilte. Er fuhr Paul in die Glieder und dünkte ihm wie ein zweiter Herzschlag neben dem eigenen. Herzschlag des Lebens, sinnierte er, von außen kommend, unabänderlich und als gegeben hinzunehmen. Eine Metapher für sein gegenwärtiges Leben, das sich anscheinend ohne sein Einwirken wundersam gefügt hatte. War alles Zufall? Er neigte dazu, an Schicksal zu glauben.

Vor seinem Bahnfenster waberten grauweiße Rauchschwaden aus dem Schornstein der Lok und vernebelten die Landschaft ganz oder teilweise. Auch hier Symbolik, glaubte Paul: Die Zukunft, sich teils andeutend, teils verborgen in Nebelschwaden. Zurückschauend ein ähnliches Bild: Manches klar leuchtend, anderes ganz oder in Teilen entschwunden.

Paul war auf dem Weg von Görlitz, seinem neuen Wohnort, zurück nach Breslau, der Stätte seiner Kindheit, die er vor dreizehn Jahren zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern verlassen hatte. Vater Gustav hatte in Allenstein seinen ersten eigenen Betrieb aufgebaut. Durch den Krieg, der den Polnischen Korridor aus Posen und Westpreußen als Ergebnis des Versailler Vertrages schuf, und die daraus entstandene Insellage Allensteins in Ostpreußen mit Zollschwierigkeiten an zwei neuen innerdeutschen Grenzübergängen, war sein Handelsbetrieb ins Schlingern geraten und nicht zu halten gewesen. Die Familie hätte vom Ertrag nur unter großen Opfern überlebt.

Mehrere Ereignisse waren eingetroffen, die sich so ineinanderfügten, dass Gustav und Hermine ein Schicksal, das ihnen hier den Ausweg wies, am Werke wähnten.

Als Arthur, im letzten Kriegsjahr verschüttet, kriegsversehrt dem Lazarett übergeben wurde, hatte Paul alle Pflichten seines älteren Bruders übernommen. Die beträchtliche Mehrbelastung war für einen Schüler der Oberstufe des Gymnasiums dauerhaft nicht durchzuhalten. Paul war durch die gesundheitlichen Belastungen während seiner frühen Jahre noch immer schmächtiger als seine Altersgenossen. So brach Paul ein Jahr vor dem Abitur schweren Herzens, aber notgedrungen und zum Bedauern seiner Lehrer, er war fleißig und begabt, die Schule ab. Seine ganze Kraft widmete er nunmehr dem väterlichen Betrieb und erhielt seinem Bruder bis zu dessen Rückkehr den Arbeitsplatz.

Als Arthur soweit genesen war, dass er, anfangs stundenweise im Büro, später wieder in allen Bereichen, wirken konnte, kam es zunehmend zu Reibereien zwischen den beiden nun erwachsenen Brüdern. Arthur, als der Ältere, versuchte wieder und wieder, sich als Juniorchef aufzuspielen. Paul, den Jüngeren, aber Begabteren von beiden, verdross zunehmend, dass Arthur aus seinem Altersvorsprung Vorrechte ableitete. Dem Vater glückte immer seltener, Frieden zwischen den Brüdern zu stiften. Seine Aussöhnungsbemühungen gab er eines Tages auf und überließ die Streithähne sich selbst.

Paul arbeitete gut und schaffte viel. Die Dauerspannung mit Arthur kostete ihn jedoch mehr wertvolle Kraft, als ihm zu Gebote stand.

Der Vater, seit Arthurs Rückkehr aus dem Krieg von dessen überheblichem Verhalten ungünstig beeinflusst, ließ zuweilen ebenfalls Paul gegenüber in herabwürdigender Weise eine Bemerkung fallen wie: ‚Geh mal weg, das kannst du nicht.‘ Damit traf der Vater die Achillesferse des jüngeren Sohnes.

Dieser hatte nicht vergessen, wie hilfsbedürftig er wegen seiner geringen Sehfähigkeit in der Kindheit gewesen war und wie er sich seitdem bemüht hatte, ein gleichwertiger Teilnehmer der Gesellschaft zu sein, ohne über Gebühr die Unterstützung und fürsorglichen Hilfe seiner Mitmenschen zu beanspruchen. Er spürte, er musste sich herauslösen aus diesem eingefahrenen Gleis von brüderlicher Anmaßung und gelegentlicher väterlicher Geringschätzung.

Seinem Vater hielt er Gedankenlosigkeit zugute, dem Bruder, für das Vaterland seine Gesundheit ruiniert zu haben, während er selbst zur Schule gehen und in seinem warmen Bett schlafen konnte.

Arthur hatte als Kriegsversehrter im Lazarett die Krankenschwester Sigrid kennengelernt und entschieden, sie zu heiraten. Sigrid wohnte bei ihren Eltern in Görlitz. Sigrids Großvater hatte ihr und Arthur angeboten, nach deren Heirat in seinem Haus zu leben. Ausreichend Platz war vorhanden, seit die Kinder auf eigenen Füßen standen und seine Frau verstorben war. Arthur sah sich vor dem Problem: Arbeitsplatz in Allenstein und künftige Frau mit Wohnung in Görlitz.

In diesen Tagen ergaben sich zwei weitere denkwürdige Geschehnisse annähernd gleichzeitig.

Sigrids Eltern in Görlitz hatten in der Lokalzeitung gelesen, in ihrer Nähe stünde eine Baustoffhandlung vor dem Konkurs und würde zum Kauf angeboten.

In Allenstein suchte der dortige Ziegeleibesitzer Gewerbegelände für eine Betriebserweiterung. Diesen Teilbetrieb sollte später der jüngste Sohn übernehmen, sodass ein Zusammenhang des Gewerbegeländes mit einer Wohnung angestrebt wurde.

Gustav war bei diesen beiden Nachrichten hellwach geworden. Er erkundigte sich umgehend nach den Konditionen.

Das Ganze war für ihn ein Nullsummenspiel. Der Erlös aus dem Allensteiner Betrieb ermöglichte den Kauf der Görlitzer Baustoffhandlung. Durch längere Erkrankung des Inhabers und infolge schwerwiegender Fehler von dessen Bruder, der ihn ohne kaufmännische Vorkenntnisse vertreten hatte, war der Betrieb in eine unabwendbare Abwärtsspirale geraten.

Eine nennenswerte Anzahl an Stammkunden ließ sich mit einigem Geschick voraussichtlich zügig reaktivieren.

Angesichts der in Allenstein erworbenen Erfahrungen, einen eigenen Betrieb zu führen, machte ihm dieser Neustart im Alter von 49 Jahren keine Sorge. Im Gegenteil, durch das neuerlich zu bewältigende Werk fühlte er sich einmal mehr angefeuert und herausgefordert. Zwar würde der Weg noch einmal mit Schweiß und Anstrengung verbunden sein, aber, dessen war er sicher, mit seiner Familie im Rücken auch nach oben führen.

Hermine behagte durchaus der Gedanke, Allenstein wieder zu verlassen. Die Insellage, umgeben vom Land Polen, missfiel ihr seit deren Bestehen durch den Friedensvertrag von 1919. Auch die wortkarge Gemütsart der ostpreußischen Menschen war für sie, die rede- und erzählfreudige Sächsin, eine harte Nuss. Görlitz war keine hundert Kilometer von ihrer alten Heimat entfernt und von ihren sächsischen Landsleuten, die sprachen und sich verhielten wie sie und Gustav. Zudem reizte sie die größere Stadt. Wie sie einem Stadtplan von Görlitz entnehmen konnte, den ihr Sigrid, ihre Schwiegertochter, zugesandt hatte, war das ein Ort mit vielen Parks, an einem Fluss gelegen wie Breslau, einem Kegelberg, der Landeskrone, und zahlreichen Sehenswürdigkeiten wie der Peterskirche, der Muschel-Minna, dem dicken Turm, den Laubengängen am Unter- und Obermarkt und anderem. Sie freute sich darauf, ihre Freunde und Verwandten in der alten Heimat, mit geringerem Aufwand an Zeit und Fahrgeld nun des Öfteren per Bahn besuchen zu können und mit ihnen in ihrer Heimatsprache zu reden, ohne dass Umstehende ihres sächsischen Dialekts wegen einen mehr oder minder verborgenen Lachanfall bekamen.

Paul, der vom Sitzen auf seiner Holzbank allmählich steife Glieder bekam, erhob sich und öffnete das Abteil-Fenster. „Sie, junger Mann, entschuldigen Sie ock vielmals, es tut mir wirklich leid, aber das zieht“, rief eine ältere Frau hinter ihm mit weher, belegt-rauer Erkältungsstimme bescheiden, „tut mir wirklich leid, aber ich bin fürchterlich erkältet, müssen Sie wissen. Wären Sie so gutt, dass Sie vielleicht das andere Fenster gegenüber könnten aufmachen? Es tut mir wirklich leid, aber wenn es zieht, fang’ ich gleich wieder zu husten an, und dann kann ich nicht mehr mit dem blöden Husten aufhören.“ Jetzt hustete sie wirklich, und das klang nicht gut. Nachdem Paul das Fenster geschlossen hatte, wandte er sich der älteren Frau zu und entgegnete gebührlich und bedauernd: „Tut mir wirklich leid. Entschuldigung. Ich hab nicht überlegt. Ich hätt’ ja auch vorher fragen können.“ Die Frau mit dem weißen Kopftuch hinter ihm schaute ihn zutraulich aus ihrem gebräunten Gesicht mit den blanken, gütigen Augen und den vielen kleinen Lachfältchen an und hob, wie winkend, versöhnlich ihre Hand, die nach viel Arbeit aussah.

Auf ihrem Schoß stand ein Korb mit einem lebenden Huhn, das sie bis zum Hals mit einem rot-weiß karierten Küchenhandtuch bedeckt hatte. Das Huhn gab bei ihren Worten einen langgezogenen, weinerlichen Ton von sich, und die alte Frau lachte Paul herzlich entgegen. „Das hier ist unser Paulinchen. Meine Tochter hat Geburtstag, und ich will ihr Paulinchen schenken. Sie wünscht sich schon lange eine Henne, nu ja, für ein Paar Eier in der Woche. Drei Kinder hat sie, müssen Sie wissen. Viele hungrige Mäuler sind da jeden Tag zu stopfen. Ne junge Mutter hat’s nicht leicht heutzutage, ne wah?“, sagte sie besorgt, aber tapfer lächelnd und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. „Paulinchen wird’s da gutt haben“, verbürgte sie sich und wischte erneut scheu eine Träne aus ihrem Augenwinkel.

Die gute alte Frau hatte ein helles Glöckchen aus Kindertagen in seinem Inneren zum Klingen gebracht. Ihm wurde warm ums Herz. Ja, so redeten die Leute hier. Das hatte er in den zehn Jahren in Ostpreußen fast vergessen.

Er legte seine Hände auf den Rücken und versuchte, zwischen den Rauchschwaden der Lokomotive hindurch etwas von der Landschaft wahrzunehmen. Er sah Getreide, noch grün, mit wildem Mohn gesprenkelt, an den Rändern Kornblumen und Margueriten. Dazwischen einzelne kleine Wäldchen wie eingestreut. Er sah hin und wieder die roten Dächer eines Dorfes, sah Kinder und Erwachsene an einem unbeschrankten Bahnübergang warten und winken, sah eine lange Reihe Kühe und eine Gänseherde auf einer Dorfstraße gemächlich entlangtrotten. Hinter den Gänsen lief ein kleines Mädchen barfuß mit einer Gerte. Aus einem Feldweg bog ein Leiterwagen in die mit Kopfstein gepflasterte Fahrbahn neben den Bahnschienen. Er war zur Hälfte mit frischem Grünfutter beladen, obenauf lagen Rechen, Sense und Heugabel. Den Wagen mit den kleinen Gummirädern zog gemächlich und schwerfällig eine Kuh. Wunderbare heile Welt, dachte Paul.

Kaum zu glauben, dass vor kurzem noch ein böser Krieg in anderen Teilen Europas gewütet hatte, der viel zu viele Menschen umgebracht oder für den Rest ihres Lebens an Leib und Seele beschädigt hatte. Mit den Vätern und Söhnen waren auch viele Pferde, die nun in der Landwirtschaft fehlten, auf den Schlachtfeldern gestorben, reflektierte Paul bei diesen Friedensbildern.

In der Fensterscheibe des Zuges sah Paul einen jungen Mann mit blond gewelltem Haar, weißem Sporthemd, roter Fliege, runder Nickelbrille und hoher Denkerstirn. ‚Guter Typ, intellektuell, nachdenklich, introvertiert‘, dachte er, bis er überrascht feststellte, dass ihn da sein eigenes Spiegelbild anschaute. ‚Merkwürdig‘, dachte er, ‚gerade war ich noch ein Knabe, dem Tante Selma vor den ersten Geigenstunden die Hände mit viel Seife wusch und die Fingernägel mit einer Nagelfeile reinigte.‘ Jetzt sah Paul einen jungen Mann vor sich, zwar nicht sehr groß, mit Brille, sonst aber ansehnlich und gut für einen zweiten Blick. Beinahe hätte er sich nicht erkannt und weiter über den jungen Mann im Fenster oder hinter sich gemutmaßt, wer oder was er wohl sei.

Die Entscheidung seiner Eltern, den Betrieb in Allenstein aufzugeben und in Görlitz einen gescheiterten Betrieb wieder aufzubauen, fand Paul richtig und mutig.

Arthur hatte Sigrid geheiratet, und sie hatten inzwischen ein kleines Mädchen, Betti. Gustav und Hermine, nun Großeltern, waren glücklich über ihr Enkelkind.

Paul hatte sich wieder auf der ratternden Holzbank im Zug niedergesetzt und nahm aus seinem Rucksack ein Päckchen mit einer Schnitte, dünn mit Margarine bestrichen. Dazu aß er, genüsslich und ausgiebig kauend, ein kleines Stück Knoblauchwurst, vor seiner Reise nach Breslau zu Tante Selma beim Metzger auf Lebensmittelmarken erstanden. Aus dem Becher, der Verschlusskappe seiner Thermosflasche, trank er Pfefferminztee. Der Duft der Knoblauchwurst und des Tees breitete sich aus und vermischte sich mit dem rauchigen Mief nach Kohlenruß aus dem Schornstein der Lok, der beim Öffnen des Fensters ins Abteil gedrungen war. Köpfe von Mitreisenden drehten sich neugierig für einen Moment in seine Richtung. Andere Reisende begannen nun ebenfalls, Proviant-Päckchen auszuwickeln und mit Appetit in ihre Brote zu beißen. Halblinks vor ihm kaute ein kleines Mädchen mit genüsslichem Knacken an einem schon etwas schrumpeligen Apfel. Der Tee seiner Nachbarin duftete nach Brombeerblättern. Sie nahm eine kleine Wasserrübe, deren weiß-lila Schale sie mit einem Taschenmesser zuvor sternförmig eingeritzt und so zurückgezogen hatte, dass die weiße Rübe wie eine glänzende Kugel in der Mitte des Schalensterns stand. Der Radieschen ähnliche Duft der Wasserrübe stieg Paul in die Nase. Gern hätte auch er jetzt eine solche weiße Wasserrübe gegessen. Als die Nachbarin hineinbiss, hörte Paul, wie saftig die Rübe war. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, und er schluckte.

Gleichmäßig ruckelte und rumpelte der Wagen.

Allein zu wirtschaften als möbliert wohnender Herr war für Paul eine neue Erfahrung, immer noch merkwürdig und ein wenig befremdlich. Für die gewonnene Unabhängigkeit nahm er die Notwendigkeit in Kauf, seine Wäsche in der Waschküche der Vermieterin selbst zu waschen und für Nahrungsmittel anzustehen.

Die jetzige Wohnung seiner Eltern war klein. Das beengte Kinderzimmer bewohnte zunächst seine Schwester, die inzwischen den Molkereibesitzer Eugen geheiratet hatte und ausgezogen war. Die Wohnung war auch für die Eltern klein im Vergleich zu Allenstein. Ansonsten war sie in vielem ähnlich: Kein fließendes Wasser, die Pumpe vor dem Haus, das Klohäuschen auf der Hinterseite des Hauses, dahinter der kleinere Garten. Da Gustav und Hermine nun allein lebten, genügte ihnen der Wohnraum. Vorrangig war, den Betrieb in Gang zu setzen und ihr Auskommen in der Nähe ihrer alten Heimat zu haben, umgeben von Landsleuten, deren Sprache und Lebensart ihnen vertraut war. Sparsam und einfach zu leben waren sie gewöhnt.

Paul erinnerte sich, wie er Tante Selma, die er heut wiedersehen würde, erstmals gegenüberstand. Er war sieben Jahre alt. Seine Mutter Hermine hatte seine Liebe zu klassischer Musik bemerkt und wollte ihm ermöglichen, ein Instrument zu erlernen. Ein Element von Kostbarkeit und Schönheit sollte dadurch in Pauls neues Leben kommen, in dem er nach sieben Augenoperationen endlich sehen konnte. Schule und Geigenunterricht waren für Paul ein Erwachen zu einem hellen, glücklichen Leben mit unendlich viel Neuem, was es zu sehen und kennenzulernen gab.

Tante Selma hatte damals vor ihm gestanden wie ein Geistwesen aus einer anderen Welt. Wie zart sie war, wie durchsichtig ihre Haut, blaugeädert Schläfen und Handrücken, wie weich und warm ihre eher leise, etwas brüchige Stimme. Als sie Paul die Hand gab, war ihm ein sanfter Schauer in die Seele gefahren. Wie schlank und fein diese Hand war. Er nahm sie vorsichtig und drückte sie nur leicht, um ihr nicht wehzutun.

Diesen ersten Augenblick würde er nie vergessen. Dieses wirkliche und gefühlte Bild hatte sich als eines der klaren Bilder eingegraben, einem scharfen Bild zwischen all den unscharfen oder undurchsichtig gewordenen Nebel- und Rauchschwadenbildern seiner Erinnerung.

Er liebte diese Frau von diesem Augenblick an, und er würde sie ein Leben lang lieben. Sie war seine Seelenverwandte, das fühlte er hellsichtig und tief. Einmal hatte er ihr gesagt, wenn er groß wäre, würde er sie heiraten. Sie hatte ihm mit einem wehmütigen Lächeln, das eher einem großen Schmerz glich, still geantwortet: ‚Ich bin keine Frau zum Heiraten.‘ Mehr musste sie nicht sagen. Paul sah selbst, dass sie verwachsen war. Sie hatte linksseitig einen Buckel, weil die Kinderfrau sie als Baby fallengelassen hatte. Damit war ihre Zukunft besiegelt. Sie hatte ‚ja‘ zu ihrem Schicksal gesagt und sich damit eingerichtet. Sie erlernte die Grafologie und arbeitete als vereidigte Grafologin am Amtsgericht Breslau. Jungen, Mädchen und Frauen, die aufgeschlossen waren für Musik, Kunst und Literatur, gab sie Geigen- und Lautenunterricht und hatte auf diese Weise ihre besondere Schar von Kindern und Jugendlichen um sich versammelt. Für diese jungen Menschen war Tante Selma die Eintrittspforte in eine neue Welt mit vielen wunderbaren weiteren Toren, die es zu öffnen und zu durchschreiten galt. Sie lernten Bücher kennen, Autoren, Noten und Komponisten, spielten Theater, diskutierten und schlossen Freundschaften fürs Leben. Tante Selma blieb für sie die gute Fee, die auch dann noch ihr Leben aufwertete und bestrahlte, als sie längst in oder über den Wolken webte als sublimierter Geist des Guten in ihrem Leben.

Wenn Paul an Tante Selma dachte, so ahnte er, dass es im Leben etwas gäbe wie eine weise Hand, die Geschicke lenkt, und dass es gut sei, darauf zu vertrauen. Dieser Gedanke war ihm zum ersten Mal gekommen, als er nach Jahren der Dunkelheit entgegen jeder Hoffnung doch noch eines Tages das Licht dieser Erde erblicken durfte. Und er für seine Dankbarkeit und sein Glück keine Worte fand. Er konnte nur die Hände falten und sagen: „Danke, lieber Gott.“ Er hatte sich vorgenommen, ein Leben lang dafür dankbar zu sein und sich dieses Himmelsgeschenks würdig zu erweisen.

Heut würde er Tante Selma wiedersehen nach dreizehn Jahren. In der Zwischenzeit war ein böser Weltkrieg verwüstend und vernichtend über Europa gerollt; die Menschen hatten gehungert, hungerten noch und erholten sich nur langsam. Millionen Soldaten waren auf den Schlachtfeldern verblutet. Kinder hatten ihre Väter, Mütter ihre Söhne verloren. Herbes Leid war in viele Gesichter geschrieben. Deutschlands Wirtschaft und Moral lagen am Boden. Die Friedensbedingungen der Siegermächte nahmen den Deutschen die Luft zum Atmen und die wirtschaftlichen Bedingungen, sich wieder zu erholen.

Er war herangewachsen. Aus einem Knaben mit ungewaschenen Händen und unsauberen Fingernägeln war ein gepflegter junger Mann mit scharfen Bügelfalten geworden.

Was Tante Selma wohl dazu sagen würde, dass er mit 23 Jahren der jüngste Geschäftsstellenleiter der größten Krankenkasse geworden war? Glücklich war er und ein wenig stolz, so gut vorangekommen zu sein. Immer wieder erlebte er Augenblicke, in denen er glaubte, aufzuwachen und alles sei nur ein wunderbarer Traum gewesen.

Als Paul vor Selmas Wohnungstür stand, die Hand nahe der Klingel, hämmerte sein Herz zum Bersten. Ein letztes Mal holte er tief Luft, dann klingelte er.

Da stand seine Seelenfreundin vor ihm, zart und viel kleiner als das Bild seiner Erinnerung und lächelte ihm voller Liebe entgegen. Als sie sich die Hand gaben, spürte er ein leichtes Beben. Ihn tröstete, auch Tante Selma war bei seinem Besuch nicht seelenruhig geblieben. Sein inneres Beben versuchte er nicht zu verbergen. Die Freude des Wiedersehens überwältigte ihn vollkommen. Gern hätte er Selma in beide Arme genommen und fest an sich gedrückt. Aber er spürte klar, das durfte nicht sein. Sie war kein Mensch aus Fleisch und Blut. Sie war Selma, ein Wesen, das einer anderen Sphäre angehörte.

Sie bedeutete alles Feine, Unkörperliche. Sie nahm seine Hand mit ihren beiden Händen, die sich seidig und zart anfühlten. Auch Paul wagte, seine zweite Hand um ihre beiden Hände zu legen. So blieben sie einen Moment und sahen scheu auf ihre Hände. Paul vernahm seinen eigenen Herzschlag so dröhnend, dass er bangte, Selma könne dieses Hämmern hören. Was für wunderbar große Augen sie hatte, Augen, die mehr sahen, die intensiver wahrnahmen, Goethe-Augen, sann er.

Ihre Frisur trug sie noch wie damals, das aschblonde, glatte Haar in zwei schwere Zöpfe geflochten, die sie als Krone auf dem Kopf hochgesteckt hatte. Diese schweren Zöpfe hatten ihr schon früher an manchem Tag Kopfschmerzen bereitet. Aber keiner ihrer Schüler-Freunde hätte zugestimmt, sie abzuschneiden.

Während Selma Pauls Erscheinung und Ausstrahlung, seine Liebe zu ihr wahrnahm, durchbebte sie sekundenlang der Schmerz über ihren körperlichen Mangel. Ein dunkler Schleier überzog einen Augenblick lang ihr Gesicht. Schon in ihren jungen Jahren hatte sie entschieden, sich niemals zu beklagen, war ihr Leben doch auf eine andere, wundersame Weise ausgefüllt und gut. Dass sie auch ein Mensch aus Fleisch und Blut war und kein übermenschliches Wesen, hatte sie soeben verspürt. Sie schob diesen verstörenden Gedanken so schnell beiseite, wie er aufgetaucht war, und ihr Gesicht hellte sich wieder auf.

„Mein lieber Paul“, sagte Selma mit ihrer weichen, leisen, etwas brüchigen Stimme schließlich, „wie groß du geworden bist.“

„Und ich hatte dich so ehrerbietig groß in Erinnerung“, entgegnete Paul schmunzelnd. „Wie sich die Relationen wandeln, wenn aus einem Knaben ein junger Mann wird“, sann Selma und öffnete die Tür zu ihrem Wohnzimmer, das vom Nachmittags-Licht, durch das geöffnete Fenster dringend, durchflutet war. Der Tisch war mit ihrer handgestickten Tischdecke in Blau und Weiß fein gedeckt, an die er sich von früher erinnerte. Auch das Service in Blau-Weiß aus Arzberg erkannte er wieder. Paul nahm alles in sich auf wie Bilderbuchblätter aus seiner Kindheit. Auf dem Tisch stand ein Erdbeerkuchen, eine Schale mit geschlagener Sahne daneben, und ein herrlicher Kaffeeduft erfüllte den Raum. Paul fühlte sich allein durch den Duft des Kaffees erfrischt und belebt nach seiner Bahnreise. „Die Zutaten sind allesamt Geschenke von meinen Schülern“, bemerkte Selma lächelnd. „Es macht Freude, wenn weißes Mehl, Eier, Zucker und Erdbeeren nebeneinander in der Küche stehen und man nur noch anzufangen braucht mit Backen. Ich weiß, ein Luxus in diesen Tagen. Komm, wir wollen ihn genießen zur Feier unseres Wiedersehens.“ Selma nahm Paul an der Hand, führte ihn zu einem Stuhl, den sie zurechtrückte und forderte ihn herzlich auf, Platz zu nehmen. Sie schenkte den Kaffee ein, der unter einer Kaffeehaube auf der Tischmitte stand, stülpte die ebenfalls passend zur Tischdecke gearbeitete Kaffeemütze wieder über die Kanne mit dem geschwungenen Griff und setzte sich Paul gegenüber.

Nachdem die beiden Freunde gemeinsame Erinnerungen ausgetauscht hatten und sich den wunderbaren Erdbeerkuchen mit Sahne hatten munden lassen, bat Selma, Paul möge nun berichten, wie es in Görlitz beruflich mit ihm weitergegangen war.

Paul erzählte, wie er sofort nach der Ankunft der Familie in Görlitz mit einem Bank-Volontariat begonnen hatte. Sooft als möglich half er noch bei seinem Vater, wo jede Hand benötigt wurde. Im zweiten Jahr erkrankte Paul an einer Gelbsucht, die sechs Monate anhielt und ihn so schwächte, dass er kaum für einfachste Verrichtungen Kraft hatte.

Jede Woche ging er zu seiner Krankenkasse, um sein Krankengeld, drei Mark fünfzig pro Woche, abzuholen. Durch die häufigen Besuche bei der Kasse kam er mit den dort tätigen Damen ins Gespräch, auch mit der Leiterin, Fräulein Hauf. Sie klagte ihm ihr Leid, sie habe zu wenige Mitarbeiter und die Fülle ihrer Aufgaben, vor allem die Mitarbeiterführung und Gesamtverantwortung, bereite ihr häufig schlaflose Nächte. Zuweilen fühle sie sich schlicht überfordert.

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22 aralık 2023
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9783954888016
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