Kitabı oku: «Erinnerung an meine Jahre in Berlin», sayfa 3
IV.
Dem VIII. Kongreß, der nach der holländischen Hauptstadt, Den Haag, einberufen war, sah man allgemein und sah ich besonders mit großer Spannung und Besorgnis entgegen. Es handelte sich darum, ob David Wolffsohn, der auf dem VII. Kongreß zum Nachfolger Herzls gewählt wurde, vor dem Kongreß bestehen und in seinem Amte bestätigt werden würde. Als ausgesprochener Parteigänger Wolffsohns hegte ich große Besorgnisse angesichts der immer mehr wachsenden Opposition, die sich besonders in russischen und polnischen Kreisen gebildet hatte. Es handelte sich um jenen, von mir schon gekennzeichneten Zwiespalt zwischen den sogenannten „politischen“ und „praktischen“ Zionisten. Es war ja seltsam genug, daß sich die Partei der „Praktischen“, größtenteils ostjüdische Menschen, um die Person des deutschen Juden Otto Warburg gruppiert hatte, während der Exponent der „Politischen“ der russische Jude Wolffsohn war. Die Protagonisten, welche auf diesem und den nächsten Kongressen gegeneinander kämpften, waren Leo Motzkin, als Führer der Wolffsohnschen Partei, und Chaim Weizmann als der Exponent seiner Gegner. Die Rededuelle zwischen diesen beiden hervorragenden Persönlichkeiten bildeten stets den Höhepunkt der Debatten, und es war vom rein ästhetischen Standpunkte aus ein Genuß, diesen Diskussionen zu folgen. Motzkin, schwer und gewichtig, formulierte in streng logischer, klarer und wuchtiger Art seinen Standpunkt, keinen Zoll breit von seinem Posten weichend, während Weizmann, gleich einem brillanten Florettfechter mit spitzen Pointen jede Schwäche und Blöße des Gegners erspähend, blitzschnell zuzustoßen wußte. Es waren zwei grundverschiedene Fechter, die sich gegenüber standen, und jeder in seiner Art vollendet. Wir, die Anhänger Wolffsohns, waren aber ziemlich kleinlaut gegenüber der geräuschvollen Agitation gegen ihn, nachdem wir wußten, daß auch in dem engen Kreise um ihn, um den Präsidenten in Köln viele seiner Gegner saßen. Er war wirklich auf seinem Posten recht vereinsamt. Bei seiner schon geschilderten Einstellung, der Liebe zur praktischen Palästina-Arbeit und verurteilt zu rein politischer Tätigkeit gemeinsam mit Mitarbeitern, die wenig Verständnis für die besondere Situation zeigten, kam es so, daß er, summarisch gesprochen, seine Feinde liebte und seinen Freunden mißtraute. Er sah sich oft vergeblich nach Beistand um. Seine besten Freunde, Kazenelson in Riga und Eduard Leschinsky in Berlin, konnten nur wenig dazu tun, um seinen Mut aufrechtzuerhalten. Allenfalls war ihm Jacobus Kann eine Stütze.
Mitte 1909 begann der Kongreß. Wer nur irgendwie konnte, hatte sich in Scheveningen einquartiert und fuhr morgens durch den herrlichen Bosch zum Kongreßgebäude. Wolffsohn ärgerte sich nicht wenig, als der Mainzer „Israelit“ ihn hämisch anklagte, daß er am Sabbat in der Haager Synagoge erschienen war, voraussetzend nämlich, daß er sicher den Sabbat durch Fahren mit der Straßenbahn entweiht hatte. Wolffsohn hatte aber, taktvoll genug, den Weg zu Fuß zurückgelegt. Man bemerkte anfangs mit großer Freude, daß eine große Anzahl stattlicher Gebäude unsere, die blau-weiße Fahne gehißt hatten. Die Freude wurde aber einigermaßen gedämpft, als es sich herausstellte, daß es die Häuser des Deli-Klubs und anderer Spielklubs waren, welche sich wohl von dem Zustrom vieler Gäste große Einnahmen erwarteten. Die Delegierten wurden mit Einladungen von diesen Klubs überhäuft, aber ich glaube kaum, daß sie auf ihre Rechnung gekommen sind. Es war doch charakteristisch genug, daß in der Umgebung unserer Kongresse man nirgends auf Kartenspieler traf, obwohl doch gerade bei den russischen Juden das Kartenspiel eine sehr beliebte Unterhaltung ist. Ich selbst liebte Scheveningen sehr und verbrachte manche Feriensommer da, wobei ich auch dann jenen Deli-Klub gern besuchte, da ich, wie ich gestehen muß, die Roulette sehr liebe, die übrigens meine Liebe erwidert, da ich fast immer mit Erfolg abschneide, da ich rechtzeitig im Gewinn aufzuhören verstehe. Aber diesmal mußte ich mir das Vergnügen versagen.
Die Eröffnungssitzungen waren besonders eindrucksvoll. Neben dem Vizepräsidenten des Hohen Rats der Niederlande und Leiter der jüdischen Gemeinde im Haag, de Pinto, der den Kongreß mit einer freundlichen, wenn auch etwas zurückhaltenden Rede begrüßte, war auch der große Maler Josef Israels anwesend. Max Nordaus diesmalige Rede gehört zu den glänzendsten dieses wundervollen Sprechers. Sein Appell an die Gerechtigkeit rief einen unbeschreiblichen Enthusiasmus hervor, dann begannen die sachlichen Debatten. Dem Kongreßstenogramm kann man nicht entnehmen, welche Kämpfe sich hinter den Kulissen abspielten, und wie geschickt es Wolffsohn verstand, die verschiedenen Parteien gegeneinander auszuspielen, so daß er schließlich doch mit einer gewaltigen Majorität gegen nur 59 Stimmen wiedergewählt wurde. Er nahm die Wahl mit den Worten an: „Ich werde mich bemühen, beim nächsten Kongreß auch diese Stimmen für mich zu haben.“
Eine der Hauptaufgaben des Kongresses war die Reform der Organisation. Ich gehörte der Organisationskommission an und fungierte als Schriftführer, so daß ich neben Dr. Max Nordau, welcher die Sitzungen dieser Kommission leitete, arbeitete, und ich konnte feststellen, mit welchem Eifer und welcher Gewissenhaftigkeit Nordau sich diesen Arbeiten widmete. Er war stets pünktlich zu Beginn jeder Sitzung zur Stelle und hat bei den tagelangen Arbeiten nie ausgesetzt. Alle seine glänzende Rhetorik und Schlagfertigkeit zeigte er dort in dem kleinen Kreise genauso wie vor der Öffentlichkeit, und er widmete sich dieser im Grunde langweiligen Paragraphenarbeit mit äußerster Hingebung. Ich hebe das hervor, weil man vielfach diesen Mann ganz anders einschätzte, so als ob er nur als Heldentenor sich vor der Öffentlichkeit zu produzieren geneigt war. Hier aber sah man, wie er wirklich um der Sache willen sich Arbeiten hingab, die doch schließlich weit unter seinem Niveau lagen. Referent vor dem Kongreß war eigentlich Arthur Hantke, aber im letzten Moment mußte ich, da Hantke unpäßlich war, das Referat übernehmen. Ich bat gleich zu Beginn meines Referates um Nachsicht, da ich die Sache erst in die Hand bekommen habe, und der Schriftführer eine unglaublich schlechte Handschrift habe, ohne daß ich für nötig fand mitzuteilen, daß ich eben dieser Schriftführer war. – Auf jenem Kongreß wurde dann die Grundlage jener Föderationsbildung gelegt, über deren Nutzen man verschiedener Meinung sein kann. Ich selbst konnte ja als Referent meine persönliche Meinung nicht wohl zum Ausdruck bringen, und als der Präsident mich daraufhin apostrophierte, antwortete ich mit den Worten des Obristen Wrangel im „Wallenstein“: „Ich hab’ hier bloß ein Amt und keine Meinung.“ Wenn ich nicht irre, war es auf diesem Kongreß, wo folgende komische Episode geschah: Dr. Posmanik traf mich in einem halbdunkeln Seitengang und, mich mit Dr. Hantke verwechselnd, bat er mich um eine freimütige Äußerung über die von ihm eben gehaltene Rede. Ich hielt mit meiner Meinung denn auch nicht zurück und sagte sie ihm so gründlich, daß er, wie ich glaube, mit Hantke monatelang kein Wort sprach.
Während jenes Kongresses wurde auch der „Kulturverband jüdischer Frauen für Palästina“ gegründet, der dann Jahre hindurch unter der Leitung von Betty Leschinsky und meiner Frau gewirkt hat, bis sich dann später daraus die „WIZO“ entwikelte. Dieser Kulturverband hat Jahre hindurch ausgezeichnete praktische Arbeit geleistet. Die von ihm ins Leben gerufene palästinensische Spitzenindustrie hat für unser Werk viele Freunde gewonnen. Die Erzeugnisse wurden überall hin versandt und fanden viel Beifall. Es war kurios zu sehen, wie so viele jüdische Frauen, denen man vergebens von all dem Großen erzählte, was in Palästina geschah, wenn ihnen ein kleines Spitzentüchlein gezeigt wurde, enthusiasmiert wurden. Das war eigentlich ein Beweis dafür, wie wirklich irgendwelche praktischen Erfolge, etwas, was man zeigen kann, durchschlagender wirken als die schönsten Theorien.
Auf diesem Kongreß wurde auch auf Antrag von Nahum Sokolow die hebräische Sprache als offizielle Sprache des Kongresses und der Bewegung anerkannt, wenn auch nur unter Widerständen. Bemerkenswert ist, daß Sokolow bei anderer Gelegenheit auf dem Kongreß, als man von ihm verlangte, er solle hebräisch und nicht deutsch reden, sich dagegen erklärte, mit der hebräischen Sprache zu demonstrieren. Er sagte, die Zeiten seien vorüber, wo man das für gut gehalten hätte.
Der Kongreß endete, wie gesagt, mit einem Sieg Wolffsohns über die Opposition, und Wolffsohn freute sich beinahe kindlich über seinen Erfolg. Der wurde dann auch ausgiebig gefeiert. Wolffsohn und ein Teil der Delegierten blieben noch einige Wochen in Scheveningen, und ich kann mich kaum an angenehmere Wochen als die, die wir dort verlebten, erinnern. In dem jüdischen Restaurant Keyl war eine vergnügte Tafelrunde täglich vereint, zu der neben dem Ehepaar Wolffsohn die Leschinskys und Sokolow, Alexander Marmorek, Schmarjahu Levin, der Maler Pilichowski und einige holländische Freunde gehörten. Wir speisten in der Glasveranda, und Neugierige drückten sich ihre Nasen an den Fensterscheiben platt, um den jüdischen Hofstaat anzustaunen. Levin, Pilichowski und ich aber heckten täglich neue übermütige Streiche aus. Wenn wir abends in irgendeinem Caféhaus saßen, zahlte immer Sokolow, und dann wurde die Summe repartiert. Wir verstanden es aber stets, ihn durch Zwischenbemerkungen so konfus zu machen, daß er die Rechnung unzählige Mal von neuem beginnen mußte, was er dann schmunzelnd und in guter Laune auch duldete. Vor allem aber wurde damals von Pilichowski, Levin und mir mit großem Erfolge die sogenannte „Witz-Obstruktion“ betrieben, eine Methode, um unerträgliche Anekdotenerzähler mundtot zu machen. Ich werde mich schwer hüten, das Rezept zu verraten.
Wolffsohn spielte täglich mit Josef Israels einige Schachpartien. Beide taten sich auf ihre Meisterschaft viel zu Gute, spielten aber in Wirklichkeit sehr mäßig. Es ist seltsam zu sehen, wie so viele bedeutende Menschen viel mehr Gewicht auf ihr Hobby oder auf irgendeine Nebenbeschäftigung legen, selbst wenn sie darin nicht Besonderes leisten, als auf ihre wirkliche erfolgreiche Tätigkeit. So war es kurios festzustellen, daß der große Maler Israels auf nichts so stolz war als auf ein kleines Buch, das er über Spanien geschrieben hatte.
Bevor die Gesellschaft auseinander flatterte veranstaltete Wolffsohn bei Keyl ein Diner. Auch Josef Israels hatte sein Erscheinen in Aussicht gestellt und den dringenden Wunsch ausgesprochen, einmal wieder gefüllten Fisch zu essen, ein Gericht, an das sich bei ihm Jugenderinnerungen knüpften. Das gab große Aufregung bei Keyl, da dem holländischen Traiteur dieses Gericht unbekannt war, – aber einen solch berühmten Gast hatte Keyl noch nie bei sich gesehen, und es wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um seinen Wunsch zu erfüllen. Schließlich gab meine Frau das Rezept, ein Spezialbote holte den Hecht aus Rotterdam, und dann verbot der Arzt wegen des schlechten Wetters Josef Israels die Teilnahme. Er bekam aber das Gewünschte in seine Villa geschickt.
V.
So schien der Frieden im zionistischen Lager, zunächst wenigstens, gesichert, und ich konnte mit gutem Gewissen mich meiner Anwaltspraxis widmen. Das tat ich mit großer Lust und Hingabe, denn ich liebte meinen Beruf von ganzem Herzen. Und ich wußte mir, falls ich noch einmal im Wege der Seelenwanderung auf diese Welt kommen sollte, keinen besseren und meinen Anlagen mehr entsprechenden. Ich vermute freilich, daß, wie ich freimütig gestehen will, bei dieser meiner Liebe zur Advokatentätigkeit auch wieder ein nicht eben nur ideales Motiv mitspielen mag, nämlich meine Vorliebe für jede Art Gedankensport. Juristerei – oder besser gesagt Prozeßführung – ist ja im Grunde nichts anderes als eine Art Schachspiel, bei dem an Stelle der Figuren juristische Begriffe treten, und das Spiel wird in beiden Fällen nach ein-für allemal festgesetzten, an sich ganz willkürlichen Regeln gespielt. Wenn der Turm im Schachspiel nur gerade, der Läufer nur schräg gehen darf, beruht das auf einer ganz willkürlich aufgestellten Norm, – an sich könnte es ebensogut umgekehrt sein. Und wenn der Gesetzgeber für manche Handlungen bestimmte Formvorschriften statuiert, oder wenn etwa eine Berufungsfrist auf eine Woche, eine Verjährungsfrist auf drei Jahre festgesetzt werden, ist das nach gewöhnlichen logischen Maßstäben nicht zu begründen. Nach solchen Normen also wird Schach gespielt oder werden Prozesse geführt. Ein bedeutsamer Unterschied besteht freilich: Beim Prozeßführen sind es die Kiebitze, – als solche kann man wohl die Advokaten bezeichnen – die das Spiel machen, während die Parteien zusehen.
Natürlich hat der Advokat nicht nur Denksport zu treiben, sondern er hat die Aufgabe, der gerechten Sache, oder die er als solche erkennt, zum Siege zu verhelfen. Und er hat das volle Recht der Subjektivität, von der im weitesten Umfang Gebrauch zu machen sogar seine Pflicht ist. Seltsam ist und nachdenklich stimmt es, daß die deutsche Sprache Rechtsanwalt und Staatsanwalt in Gegensatz stellt. Recht und Staat, d. h. Recht und Gesetz stehen wirklich in einem gewissen Gegensatz. Das Gesetz humpelt immer hinter der Rechtsentwicklung hinterher. Eine Kodifikation erfolgt regelmäßig erst dann, wenn eine Rechtsanschauung sich bereits allgemein im Bewußtsein des Volkes durchgesetzt hat. In diesem Moment ist ja nun die Rechtsentwicklung schon weiter fortgeschritten, so daß das neue Gesetz dieser wieder nicht entspricht, so daß also, theoretisch gesehen, das Gesetz das Recht nicht einholen kann. Es ist ungefähr die Geschichte von Achilles und der Schildkröte. – Nun hat mich meine Praxis so ziemlich mit allen Schichten der Bevölkerung in Berührung gebracht und allerlei Einblicke in die verschiedensten Milieus eröffnet. Meine Erinnerungen wären nicht vollständig, wenn ich nicht einiges aus diesen meinen Erfahrungen erzählen wollte. Zunächst will ich noch einige Fälle skizzieren, die Einblicke in das Milieu jener aus dem Osten nach Berlin verschlagenen Juden eröffneten, die sich nur schwer in die Sitten und Gebräuche Westeuropas einfügen konnten. Es wird sich dabei nicht immer vermeiden lassen, daß ich auch Dinge erzähle, die schon in früheren Büchern von mir skizziert sind, die aber hier kaum fehlen dürfen.
Da ist es bisweilen schon sehr schwierig, die Identität solch eines Klienten festzustellen. Sehr oft wurden z. B. in Galizien Ehen nur vor dem Rabbiner geschlossen, denen der Staat die Anerkennung versagte, so daß die Kinder aus solchen Ehen offiziell als unehelich galten und eigentlich den Namen der Mutter führen mußten. So stand es auch im Passe. Sie aber nannten sich im Leben nach ihrem Vater. – Da kam einmal zu mir ein Kaufmann namens Förster in Gesellschaft eines mir auch schon bekannten jungen Mannes, der sich Apfelbaum nannte, den er als Reisenden anstellen wollte. Er bat mich, den Vertrag zu machen. Ich stutzte und bat Förster, einige Augenblicke ins Wartezimmer zu gehen, da ich mit Apfelbaum etwas zu besprechen hätte. Förster entfernte sich, offensichtlich befremdet, und ich sagte nun dem Herren Apfelbaum, daß mir ja bekannt sei, daß er gesetzlich den Namen Apfelbaum gar nicht führe, denn er hatte mich mit der Regelung seiner Paßangelegenheit betraut. Ich fühlte mich verpflichtet, erklärte ich ihm, bevor ich den Vertrag formulieren würde, Förster hierüber aufzuklären. Wohl oder übel mußte Apfelbaum sich dem fügen, und ich rief nun Förster herein und setzte ihm, der recht unruhig auf meine Eröffnung wartete, den Fall auseinander, erleichtert atmete er auf. „Ach“, sagte er, „das ist alles? – Meinen Sie, ich heiße Förster?“
Tragischer lag der Fall eines Mannes, der aus Galizien nach Berlin gekommen war, um sich bei einem berühmten Chirurgen operieren zu lassen. Er konnte sich nicht rechtzeitig die Papiere verschaffen und fuhr mit dem Paß eines Vetters. Unter dessen Namen wurde er in das Krankenregister eingetragen, operiert und begraben. Aber nun setzten recht peinliche Verlegenheiten ein. Der Vetter hatte alle Mühe zu beweisen, daß er noch lebte, während die Erben des Verstorbenen lange Zeit nicht in den Besitz der Erbschaft gelangen konnten.
Kurios war das Begehren eines alten, emeritierten Chasan, eines Mannes von über 80 Jahren, der an mich das Ansinnen stellte, ich möchte die Anfechtung seiner vor 60 Jahren geschlossenen Ehe durchsetzen. Diese hätte auf einem Irrtum beruht, den seine damalige Verlobte vorsätzlich herbeigeführt hätte. Er hätte jetzt gerade festgestellt, daß sie sich damals um drei Jahren jünger gemacht hätte. Ich hatte Mühe, ihm klar zu machen, daß dieser Versuch der Anfechtung aussichtslos wäre. Mich interessierte der Fall psychologisch, und ich fragte, wieso er denn auf diese Idee gekommen sei. Darauf gab er mir die denkwürdige Antwort: „Bei uns Juden ist es doch üblich, daß Ehepaare nebeneinander begraben werden – 60 Jahre lebe ich neben dem „Schlag“, wenigstens will ich im Grabe meine Ruhe haben“.
Das Gegenstück zu dieser sich jünger machenden Frau war der alte Reches, ein schon sehr betagter, immer zu Scherzen aufgelegter galizianischer Jude, der der richtige Prozeß-Hansl war. Die pittoreske Erscheinung des alten Mannes mit dem rot-grau gesprenkelten Bart war in allen Gerichtsstuben bekannt. Er pflegte immer auf sein ehrwürdiges Alter hinzuweisen, und es kam vor, daß im Laufe einer Verhandlung er von Minute zu Minute um Jahre älter wurde. Ich führte einmal für ihn einen Prozeß, bei dem es sich um Beischaffung einer Urkunde handelte, aus der die Berechtigung seiner Ansprüche klar hervorging. Diese Urkunde lag irgendwo bei einer galizischen Behörde. Es machte Mühe, sie heranzuschaffen, und am Tage vor dem Termin kam mein Mandant aufgeregt zu mir: er hatte ein Telegramm bekommen, daß die Urkunde abgesandt sei, und er bat mich unter allen Umständen eine Vertagung herbeizuführen, weil er fürchtete, abgewiesen zu werden, wenn die Urkunde nicht zur Stelle sei. Ich erklärte ihm, daß ich keine Möglichkeit zur Vertagung sehe, ein gesetzlicher Grund lag nicht vor, eine Vertagung sei nur möglich, wenn der gegnerische Anwalt einwilligen würde. Das würde er ja unter keinen Umständen tun. Der alte Mann entfernte sich niedergeschlagen. In der Tür drehte er sich um und sagte: „Und es wird doch vertagt!“ – Wie groß war mein Erstaunen, als am anderen Tage an Gerichts Stelle der gegnerische Kollege mich bat, eine Vertagung zu bewilligen. Über die Gründe ließ er sich nicht aus, aber ich war natürlich sehr damit einverstanden. Der Termin wurde um vier Wochen vertagt, und inzwischen traf die Urkunde ein. Zu dem neuen Termin erschien nun Freund Reches persönlich neben mir vor der Schranke. Der Kollege von der Gegenseite starrte ihn entgeistert an, warf die Akten wütend auf das Pult und erklärte zornbebend vor Gericht: „So etwas ist mir noch nicht vorgekommen. Am Tage vor dem vorigen Termin erschien bei mir ein alter Mann und erklärte mir, er beschäftige sich seit Jahrzehnten nur damit, Frieden zwischen streitenden Parteien herbeizuführen: Er hoffte, daß es ihm auch in diesem Falle gelingen würde, und bat mich deshalb, den Termin zu vertagen. Das habe ich, sehr beeindruckt von diesem würdigen Friedensapostel, denn auch getan. Und nun sehe ich, das war der Gegner selbst, der bei mir erschienen ist.“ – Seine Entrüstung half ihm natürlich nicht. Den Prozeß hatte er verloren, und das mit Fug und Recht, denn jene Urkunde war unwiderleglich.
Dieser mein alter Klient kam übrigens einmal unerwartet zu militärischen Ehren. Der Vorsitzende in einem seiner zahlreichen Prozesse hatte das persönliche Erscheinen der Parteien angeordnet, und als er nun beim Aufrufen den „Major“ Reches zitierte, – er hatte nämlich den Vornamen Majer als Major gelesen – war er nicht minder verblüfft, wie er Majer Reches erblickte, als dieser über die ihm verliehene militärische Würde. Er verwahrte sich dann auch mit Entschiedenheit unter stürmischer Heiterkeit des zahlreichen Auditoriums gegen jene Rangerhöhung. Es gab Vorsitzende, welche Parteien mit kriegerischer Vergangenheit mit besonderer Sympathie betrachteten. So kam es, daß sich in einem Falle auf diese Weise ein Mann aus dem Osten die ganz besondere Sympathie eines solchen preußischen Richters erwarb. Es war in einer Strafverhandlung und der betreffende Vorsitzende war durch und durch preußisch militärisch eingestellt, Vorsitzender einer Gruppe des „Alldeutschen Flottenvereins.“ Und gerade vor ihm mußte Lipschitz erscheinen, angeklagt wegen Hehlerei. Er hatte einen Pelz zu verdächtig niedrigem Preise erworben. Der Vorsitzende musterte den „Landfremden“ mißmutig und nahm mit höhnischem Lächeln die Personalien auf: In Galizien geboren, jüdischer Religion etc., Beruf:...? – Da kam die allen, nur nicht dem Verteidiger unerwartete Antwort: „Seemann.“ Ungläubig starrte der Richter ihn an. „Seemann? – Wie lange waren Sie auf See?“ – „Fast 20 Jahre“, lautete die gleichmütige Antwort, und der Angeklagte legte dem verblüfften Gericht Papiere des „Norddeutschen Lloyd“ und der „Hamburg-Amerika-Linie“ vor, aus denen hervorging, daß er lange Jahre auf den Schiffen dieser Gesellschaft beschäftigt war. Der Grimm des Gerichts schwand angesichts dieser Tatsache. Man sah den alten Seebären freundlicher an, und es fiel Klee nicht schwer, das Gericht davon zu überzeugen, daß der alte Seefahrer unmöglich über die auf dem Lande üblichen Preise orientiert sein konnte. So gab es einen Freispruch. Des Rätsels Lösung: Jener Mann war auf den Schiffen als „Koscher – Wächter“ angestellt gewesen, d. h. er hatte in den für die Auswanderer eingerichteten rituellen Küchen für die Beobachtung der religiösen Vorschriften zu sorgen.
Jene Verwechslung von Majer und Major erinnert mich daran, wie oft der Tippfehlerteufel, der mit dem Druckfehlerteufel nahe verwandt sein muß, drollige Kapriolen macht. In einem Theaterprozeß las ich mit Erstaunen in dem gegnerischen Schriftsatz: „Zufällig befanden sich bei der Vorstellung im Zuschauerraum auch einige Christen.“ – Es sollte natürlich heißen: „Choristen“.
Man konnte sich in jenen Kreisen mit der immer komplizierter werdenden Steuergesetzgebung wenig befreunden. Aber dadurch unterschieden sich diese Kreise kaum von der urdeutschen Bevölkerung. Erst die Steuerreform und die immer wachsenden Lasten, vor allen in späterer Zeit nach dem I. Weltkrieg, machten das deutsche Volk erst wirklich zum Volk der „Denker und Dichter.“ Da kam z. B. eine Frau zu mir mit der naiven Frage: „Welches Einkommen muß ich angeben, wenn ich die und die Steuer bezahlen will?“ Sie wollte also die Sache beim andern Ende anpacken. – Noch merkwürdiger war die Frage, die ein Ehepaar an mich richtete: Die abgegebene Steuererklärung war beanstandet, und der Beamte hatte ihnen vorgerechnet, daß bei der luxuriösen Wohnung, die sie hatten, bei den Reisen, die sie unternahmen etc., – der Beamte hatte durch seine genaue Kenntnis ihrer Lebensumstände sie nicht wenig verblüfft – ihre Erklärungen unmöglich richtig seien können. Also mußte der Mann wohl oder übel zugeben, daß er eine falsche Erklärung abgegeben hatte. Aber nun fürchtete er noch außer der Steuer eine Bestrafung wegen falscher Deklaration und fragte mich, ob ich ihm nicht einen Ausweg zeigen könne dahingehend, daß er irgendwoher ein Einkommen bezog, von dem er hätte annehmen können, daß es nicht steuerpflichtig sei. Selbstverständlich lehnte ich es ab, ihm bei einem solchen Betrug behilflich zu sein, und das Ehepaar entfernte sich zögernd. In der Tür aber wendete sich die Frau um und sagte: „Schade, daß Sie uns nicht helfen wollen. Ich hatte einen so guten Gedanken. Wie ist es, wenn die Frau einen Liebhaber hat, und der ihr Geld zuwendet, muß der Mann das deklarieren?“ – Ich versagte mir, der Frau meinen persönlichen Eindruck mitzuteilen, daß, wenn das Gericht etwa zu einer Augenscheinsnahme, d. h. zur Besichtigung der Dame sich entschließen würde, sie kaum für jene Behauptung, daß sie einen Liebhaber hätte, Glauben finden würde.
In Parenthese: Der Mangel an weiblichen Reizen hat in einem Falle ein seltsames Urteil hervorgerufen. Da stand eine Frau wegen Ehebruchs vor Gericht – ein höchst seltener Fall, da Ehebruch nur nach vollzogener Scheidung und nur auf Antrag strafbar war – und trotz des Geständnisses wurde die Frau freigesprochen, da das Gericht erklärte, bei dem Aussehen der Frau hielte es das Geständnis für unglaubwürdig und einen Ehebruch für ausgeschlossen. Das Berufungsgericht hat übrigens in diesem Falle – an dem ich nicht beteiligt war – das Urteil aufgehoben.
Bisweilen brachte es die Praxis mit sich, daß spezifisch jüdische Gebräuche und rituelle Gesetze vor einem Forum nichtjüdischer Richter erörtert werden mußten, und da erforderte es oft viel Geschicklichkeit und Takt, einem solchen Gremium die Bestimmungen des Schulchan Aruch oder rabbinischer Tradition klarzumachen. Fehlten doch diesen Herren, vor denen etwa die Bedeutung des Cherem des Rabbenu Gerschon oder des Eruw zu erörtern war, die primitivsten Voraussetzungen. Und so kam ich begreiflicherweise des öfteren in die Lage, vor einem solchen Kollegium populäre Vorträge über derartige Themata zu halten.
In meinem „Tohuwabohu“ habe ich ausführlich eine solche Verhandlung geschildert, in der von einem Berliner Gericht die Frage erörtert wird, ob der Etrog durch Fehlen des Stengels unbrauchbar für rituelle Zwecke wird. Diesen Prozeß habe ich tatsächlich geführt, freilich nicht unter den dort gezeichneten Begleitumständen. Aber auch eine solche Szene, in der der jüdische Anwalt, der mit der Taufe auch seinen Namen geändert – arisiert – hat und von dem boshaften Präsidenten gefrotzelt wird, hat sich tatsächlich beim Landgericht III vor dem Landgerichtsdirektor Zimmermann abgespielt. Eine Zeitlang war es geradezu eine Manie bei gewissen jüdischen Anwälten geworden, solche Namensänderungen vorzunehmen und damit gerade den Spott herauszufordern. Aus Cohn wurde Cornelius oder Korn, aus Levy Lenssen, und ich habe einmal in Transvestierung von Christian Morgenstern „Die Möwen sehen alle aus als ob sie Emma hießen „gesagt: „ Die Lenssen sehen alle aus als ob sie Levy hießen.“ – Ein Kuriosum möchte ich in diesem Zusammenhange erzählen. Da waren zwei Brüder Cohn, beide Berliner Anwälte, beide ließen sich taufen, aber nur dem einen von ihnen gelang die Namensänderung. Gerade dieser heiratete später ein jüdisches Mädchen, auf deren Verlangen er nun wieder Jude wurde. Und so kam es, daß von den beiden Brüdern der jüdische mit dem arischen Namen und der christliche mit dem Namen Cohn firmierte.
Einmal hatte ich vor Gericht die bedeutungsvolle Frage zu erörtern, wann eine Gans „ower“ wurde, d. h. unbrauchbar wurde, weil sie nicht rechtzeitig gesalzen war. Der gegnerische Anwalt, Jude, hielt es für angebracht, mit Nachdruck zu betonen, daß er von diesen Sachen nichts wisse. Zu meiner freudigen Überraschung griff da der jüdische Vorsitzende ein und sagte: „Das ist auch nicht nötig, denn diese Sachen kenne ich aus der eigenen Erfahrung sehr gut, da ich einen rituellen Haushalt führe.“
Einmal führte ich beim Amtsgericht Mitte einen Prozeß gegen eine jüdische Kolonisationsgesellschaft, und der amtierende Richter war niemand anders als Adolf Friedemann, der Redakteur des zionistischen ABC-Buches. Ich machte mir den Scherz, mich auf das Gutachten eben des Herausgebers dieses Werkes zu berufen, dessen Nehmen, wie ich sagte, mir im Augenblick entfallen wäre. Weiter benannte ich als Zeugen den bekannten Zionisten Dr. Hugo Schachtel in Breslau, dessen Adresse, wie ich sagte, mir auch entfallen wäre, worauf zum höchsten Erstaunen meines ahnungslosen Gegners der Richter Friedemann erklärte, diese Adresse sei gerichtsnotorisch und sie nannte. In dieser Sache kam es, wie ich mich erinnere, zu einem Vergleiche, was wohl selbstverständlich war, da Herr Friedemann Neigung und Fähigkeit hatte, alle vor ihn gelangenden Sachen zu vergleichen, und sich so die Mühe einer Urteilsabsetzung ersparte.
Auch eine andere forensische Geschichte, die ich in einem meiner Bücher erzählte, hat sich tatsächlich ereignet. Da weigerte sich ein Synagogenverein, dem für die hohen Feiertage arrangierten Vorbeter das volle Honorar zu zahlen, weil er in einer Betpause am Versöhnungstage gegessen habe. Der amtierende Richter konnte absolut nicht begreifen, worin das Vergehen gelegen haben sollte. Er erklärte kategorisch: „ Wer arbeitet, muß auch essen“, und eine entgegenstehende Bestimmung sei gegen die guten Sitten verstoßend. – Dementsprechend entschied er. In der Berufungsinstanz wurde das Urteil nach Vernehmung mehrerer Rabbiner als Sachverständiger abgeändert, indem das Gericht das vereinbarte Honorar wegen Wertminderung der geleisteten Arbeit herabsetzte.
Ein besonders schwieriges Problem, das mehrfach an mich herantrat, war es, die minutiösen Bestimmungen talmudischen Rechts in Ehesachen dem Verständnis arischer Richter nahezu bringen. Dabei handelte es sich natürlich immer um die Ehen nichtdeutscher Parteien. Besonders spielte da eben jener Cherem des Rabbenu Gerschon eine Rolle. Das durch diesen Cherem ausgesprochene Verbot der Doppelehe kann durch die Entscheidung von 100 Rabbinen aus drei verschiedenen Ländern aufgehoben, damit also dem Ehemann eine zweite Ehe gestattet werden. Diese Manipulation habe ich nun mehrfach durchgeführt. Es handelte sich dann immer darum, daß die erste Ehefrau die Annahme des Scheidebriefes verweigerte. Ich mußte nun der Behörde klarmachen, daß damit eine nach talmudischem Recht gültige Ehescheidung vollzogen sei, sobald das Rabbinat in dem russischen Heimatort des Mannes das Verfahren durch Urteilsspruch bestätigte. Das Standesamt weigerte sich zunächst, dies anzuerkennen, und meine Beschwerde ging den Instanzenzug bis zum Justizminister. Nach Einholung vieler Gutachten erließen schließlich der Justizminister und der Innenminister eine Verfügung, wonach mein Standpunkt anerkannt und das Standesamt Charlottenburg-Wilmersdorf, vor dem seinerzeit die Ehe geschlossen war, angewiesen wurde einzutragen, daß die Ehe durch rabbinisches Urteil geschieden sei, – ein bis damals unerhörter Vorgang. Der Mann heiratete nun auf’s neue, aber die erste Ehefrau strengte einen Prozeß an mit dem Antrag, die Scheidung und die zweite Ehe für nichtig zu erklären. Sie wurde mit der Klage abgewiesen. Aber nun kam das Erstaunliche: Jetzt klagte die zweite Frau nach einiger Zeit auf Auflösung ihrer Ehe, da die erste Ehe noch zu Recht bestände, und die Scheidung ungültig sei. Auch dieser Prozeß wurde zu Gunsten des Ehemannes entschieden.