Kitabı oku: «Erinnerung an meine Jahre in Berlin», sayfa 4

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Nach einigen Jahren hatte ich genau denselben Fall, holte wieder die Zustimmung der 100 Rabbinen ein und erreichte wieder, daß die Scheidung anerkannt wurde, und wieder klagte die erste Frau; deren Anwalt war diesmal der bekannte sozial­demokratische Politiker Wolfgang Heine, und in der Verhandlung ließ er sich mit großer Empörung über dieses Verfahren aus und erklärte mit Emphase, ein solcher Fall wäre noch nicht dagewesen, und kein deutscher Jurist könne es billigen und ihm zustimmen. Darauf konnte ich nicht nur darauf hinweisen, daß es bereits in dem von mir geschilderten Fall ein Präjudiz gäbe, sondern ich konnte jene ministerielle Verfügung produzieren, unter der der Name des Innenministers prangte, der niemand anders war als eben Herr Wolfgang Heine, der damals dieses Amt bekleidet hatte. – Herr Heine war zunächst äußerst verblüfft, machte aber dann gute Miene zum bösen Spiel, lachte herzlich und beglückwünschte mich zu dieser merkwürdigen Chance, die mir in den Schoß gefallen war. Natürlich fiel seine Klientin denn auch mit ihrem Prozeß ab.

Die Divergenzen zwischen deutschem, jüdischem und russischem Recht führten oft zu merkwürdigen Kombinationen. Da hatten zwei junge Leute in Deutschland sich nur rabbinisch trauen lassen. Das hatte gesetzlich an sich keinerlei Wirkung, war sogar verboten. Wenn aber bei dem zuständigen russischen Gericht später diese Eheschließung registriert wurde, war das eine nach russischem zaristischem Recht gültige Eheschließung, und die Ehe datierte von dem Tage der rabbinischen Trauung in Berlin an. Da geschah nun folgendes: Einige Monate nach jener also zunächst ungültigen Eheschließung fuhr der Ehemann in seinen Heimatort nach Rußland und ließ die Registrierung vornehmen. Damit war die Ehe also rechtsgültig, und nach den bestehenden Verträgen mußte sie nun auch in Deutschland anerkannt werden, so daß das Paar von seiner Trauung an als legales Ehepaar galt. Als aber der junge Ehemann wieder nach Berlin kam, fand er, daß seine Frau inzwischen vor dem Standesamt einen anderen geheiratet hatte, was sie ja auch nach deutschem Recht tun konnte, solange die Ehe nicht in Rußland legalisiert war. Auf diese Weise hatte die Frau nun zwei ihr gesetzlich angetraute Ehemänner. Es entstand jetzt ein Streit zwischen den beiden glücklichen Gatten, bei dem jeder der beiden Ehemänner den andern an Großmut zu übertreffen suchte, indem er ihm die Frau überließ, also behauptete, nicht er, sondern der andere sei der rechte Ehemann. Bevor ich, um ein Gutachten angegangen, damit zustande kam, erledigte sich der Fall dadurch, daß die Frau mit einem dritten Mann durchging, und beide Ehemänner schienen jegliches Interesse verloren zu haben.

Ein jüdischer Restaurateur wollte in dem ostjüdischen Viertel um die Dragonerstraße herum ein rituelles Restaurant eröffnen. Der Polizeipräsident verweigerte die Konzession mit der Begründung, daß in dieser Gegend schon genügend Gastwirtschaften vorhanden seien, und er die Bedürfnisfrage verneinte. Ich klagte beim Bezirksausschuß gegen den Polizeipräsidenten mit der Begrün­dung, daß es sich hier um eine Gaststätte besonderer Art, nämlich um ein rituelles Restaurant handle. In der Verhandlung las mir der Vorsitzende Stadtrat Schulz eine von ihm eingeforderte Auskunft der Berliner Jüdischen Gemeinde vor, in der Herr Dr. Ismar Freund als Vertreter der Gemeinde erklärte, der betreffende Restaurateur stände nicht unter Aufsicht der Gemeinde, so daß also der Betrieb von ihr aus nicht als rituell bezeugt werden könne. „Ja“, sagte der Herr Stadtrat, „damit entfällt Ihre Begründung, Herr Rechtsanwalt.“ Ich stutzte einen Moment, denn wie sollte ich diesem christlichen Richter klarmachen, daß es rituelle Betriebe geben könne, ohne daß die Aufsicht eines Gemeinderabbinats existiere. Ich half mir, indem ich sagte: „Herr Stadtrat, ich werde Ihnen eine Analogie geben. Es gibt doch eine Menge junger Mädchen, die nicht unter Kontrolle stehen und auch sehr nett sind.“ – Dieses Beispiel leuchtete ihm ein, und mein Klient erhielt eine Konzession.

VI.

Im Sommer 1909 fuhr ich mit meiner Frau zu deren Eltern auf die „Datsche“ im ukrainischen Urwald. Wir kamen auf der kleinen Station Korostyn zwischen Kowel und Kiew in sehr früher Morgenstunde an. Dort, an dem Verladeplatz des Holzes aus dem Walde meines Schwiegervaters, wurden wir mit einem prächtigen Frühstück empfangen und fuhren dann einige Stunden durch den märchenhaften Wald zu dem Landhaus. Das lag nun also stundenweit von jeder Siedlung entfernt, ganz einsam, und nur die Familie nebst Dienerschaft, die in einem besonderen Hause wohnte, bildeten meinen Umgang. Für mich war das ein vollkommen neues und unbekanntes Leben. Nie war ich in eine derartig enge Berührung mit der Natur gekommen, und ich wanderte staunend zwischen dem Baumriesen umher. Schon morgens ganz früh in Tallis und Tefillen erging ich mich in einem merkwürdigen Wohlgefühl, so ungestört mich als Jude der „Welt“ präsentieren zu können. Vor der Tür auf der Terrasse wurde schon der Samowar gezündet, der den ganzen Tag brannte, und an den sich jeder Ein- und Ausgehende im Vorübergehen selbst bediente. Herrlich war es, vor dem Hause zu frühstücken, dabei die fleißigen Spechte und Meisen in ihrer Arbeit an den Bäumen zu beobachten, und wie nett war es, wenn etwa Eichhörnchen aus dem Walde heranhüpften und zutraulich am Frühstück teilnahmen. Welche Freude für die Kinder, wenn solch ein Tierchen ihnen auf die Schultern kletterte. Ich bewunderte die riesigen Ameisenhaufen und sonstige Fauna des Waldes, und bei den langen Spaziergängen traf ich kaum jemals einen Menschen. Ja, einmal stieß ich auf einen alten russischen Bauern, der mich freundlich begrüßte. Da ich kein Wort russisch verstand, half ich mir pantomimisch und gab ihm eine Zigarre, die er zu meiner Verblüffung grinsend und mit Wohlbehagen – zu verspeisen begann. In diese Weltabgeschiedenheit war offenbar noch nie eine Zigarre gelangt. – Alles dort war mir neu. Ich hatte eben der Natur nie so unmittelbar gegenübergestanden wie in jener Zeit. War ich doch in der Großstadt aufgewachsen, und hatte ich doch kaum je Gelegenheit gehabt, die Welt wirklich, wie sie Gott geschaffen hat, kennenzulernen. Hier befand ich mich mitten in einem jungfräulichen Wald. Er war wundervoll, gewaltig, herrlich schön, – ich empfand ja die Schönheit und die Majestät der Natur, aber ich weiß nicht, was es war, es sprengte mir fast das Herz. Ich war überwältigt und wurde regelrecht melancholisch. Ich verlor meinen gesunden Schlaf, meine Laune, entlief fast immer meiner Umgebung und streckte mich einsam irgendwo im Walde hin, unfähig zu denken, ganz und gar mich dieser rätselhaften Depression hingebend. Die Meinen waren recht beunruhigt, und meine sehr gescheite Schwiegermutter erklärte, daß sie das nicht länger mit ansehen könnte, ich würde da vollkommen gemütskrank, und wir beschlossen, daß ich den auf Monate berechneten Aufenthalt abbrechen und auf Reisen gehen sollte.

Meine Reise ging zunächst über Kiew nach Odessa. Stundenlang fährt man da durch die Steppe, ohne ein Haus, oft auch nur einen Baum zu sehen, und gerade diese Eintönigkeit bietet wieder ein besonderes Interesse.

Odessa war für mich recht interessant. Die große steinerne Treppe, die in dem Film „Potemkin“ eine solche Rolle spielt, daß Treiben auf der prachtvollen Strandpromenade, dem Nikolai-Boulevard und Alexanderpark waren anziehend genug. Mit Erstaunen bemerkte ich im jüdischen Restaurant, daß die Jugend dort im allgemeinen weder Hebräisch noch Jiddisch verstand, sondern ganz russifiziert war. Es ist ein eigenartiges Gefühl, im Gewühl herumzuspazieren, wenn man kein Wort der Landessprache versteht, und es war für mich ein interessanter Sport, mit Hilfe meiner Sprachführer, und noch mehr durch Pantomime, mich mit allerhand Leuten zu unterhalten. In dem sehr eleganten Hotel, in dem ich abgestiegen war, sprach man freilich deutsch, französisch, englisch und jiddisch. Ich stand morgens vor dem Hotel und sah mir das Treiben an, als der Geschäftsführer dienstbeflissen an mich herantrat, ob er mir bei Einkäufen behilflich sein könne, ob er mir einen Wagen besorgen solle oder vielleicht Theaterbillets, ob ich weibliche Gesellschaft auf’s Zimmer wünsche (unter „Commodité“ auf Rechnung zu setzen). Er war recht enttäuscht, als ich auf keinen dieser verlockenden Vorschläge einging, und grübelte angestrengt, was er mir noch offerieren könne. Endlich kam ihm eine Erleuchtung: „Haben Sie schon Schekel gezahlt?“ – Der Mann hatte eben alles auf Lager. – Nachdem ich von Odessa genug hatte, fuhr ich nach Rumänien über die Grenzstation Ungheni, vorbei an Kischineff, das traurige Erinnerungen an den Progrom von 1903 erweckte. Unterwegs machte ich die Bekanntschaft eines ungarischen höheren Eisenbahnbeamten, eines alten Junggesellen, der sich als Lebemann aufspielte und mir allerhand seltsame galante Erlebnisse, die er in Berlin gehabt haben wollte, erzählte. Ich habe ihm wie noch zu berich­ten ist, später auch ein erstaunliches, kleines Abenteuer verschafft. – In Russisch Ungheni im Wartesaal geschah es, als ich zur Verständigung mit dem Kellner in einem Polyglott Kunze blätterte, daß der Kellner hinter das Büffet sprang und nun auch mit dem gleichen Sprachführer – bloß russisch-deutsch statt deutsch-russisch – erschien, wonach dann die Verständigung leicht vor sich ging. – Nun fuhren wir mit der kleinen Vicinalbahn zu dem eine Stunde entfernten rumänischen Ungheni. Kurz vor der Station hielt auf offener Strecke der Zug, und über das Feld kamen mehrere in Zivil gekleidete Herren, gefolgt von einigen Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett. Die Herren gingen den Zug entlang, ließen sich die Pässe zeigen, auf die sie irgendeinen Stempel drückten und zurückgaben. So geschah es auch im letzten Abteil mit meinem Reisegefährten. Meinen Paß aber sah sich der Beamte mißtrauisch an und fragte mich, woher ich käme. Ich sagte: „Von Iskorost.“ – „Wo liegt das?“, fragte er. (Die Unterhaltung wurde französisch geführt). Ich sagte: „Bei Korostyn.“ Auch dieser Ort war ihm erstaunlicherweise unbekannt. „Und wo liegt das?“ – Ich sagte: „Bei Uschomir.“ – Er blieb eine Weile nachdenklich und stellte dann die erstaunliche Frage: „Haben Sie schmutzige Wäsche?“ Ich antwortete ahnungslos: „Ja, natürlich.“ – „Gut“, sagte er, und statt mir meinen Paß zurückzugeben, gab er ihn einem Soldaten und erklärte mir: „Auf der Station werden Sie ihre Anweisungen für die Quarantäne erhalten.“ Ich bekam keinen kleinen Schreck, – meine Verulkung hatte schlechte Wirkungen hervorgerufen – aber schon hatte er sich umgedreht, gab auf rumänisch dem Soldaten Anweisungen, und einer der Krieger stellte sich auf das Trittbrett vor meinem Fenster, während der Herr sich, höflich den Strohhut lüftend, entfernte. Wenige Minuten darauf standen wir in der Station, und mein militärischer Begleiter lieferte mich im Stationsbüro ab. Dort saß ein korrekter Herr, der mich den Koffer öffnen ließ, ihn durchsah und dann erklärte: „Sie werden unter Eskorte nach Bukarest kommen in das Spital, und nach drei Tagen, wenn sich nichts Verdächtiges zeigt, werden Sie entlassen.“ – Ich versuchte, ihm das auszureden, aber er erklärte: „Mein Herr, meine Vorschriften sind streng. Ich kann davon nicht absehen.“ Ich sah, daß ich es anders versuchen mußte. Den Weg der Korruption zu beschreiten, traute ich mich damals nicht, – ich sagte: „Also gut, dann ist nichts zu machen, wenn Ihre Instruktionen so formell sind. Aber sagen Sie mir bitte, was haben Sie dort für einen Kachelofen?“ Er war nun seinerseits recht erstaunt und fragte mich, wieso mich das interessiere. Ich erklärte ihm, ich wäre Korrespondent großer Berliner Zeitungen und sammle folkloristisches Material. Ich würde natürlich auch über die Ergebnisse hier interessante Berichte schreiben. Er stutzte etwas. Offenbar war es ihm nicht ganz recht, wenn ich von Grenzschikanen berichten würde. Aber ich ließ ihm gar keine Zeit, sondern verwickelte ihn in ein allgemeines Gespräch. Nach einigen Minuten saßen wir am Tisch, und ich erzählte unaufhörlich allerhand Anekdoten. Er hatte sich wohl an diesem Posten lange nicht so gut unterhalten, und wir waren bald gute Freunde. Als dann der Zug nach Bukarest einlief und meine Wache mich in Empfang nehmen wollte, sagte ich, ihm nun auf die Schulter klopfend: „Nun, jetzt sind wir doch gute Freunde. Können Sie wirklich nichts für mich tun?“, worauf er lachte, dem Soldaten den Paß abnahm und mir gute Reise wünschte. Ich sah wieder einmal, daß man mit Humor und guten Witzen oft die schwierigste Situation überstehen kann. Mein Reisegefährte, der ungarische Beamte, war sehr glücklich, mich wieder zu sehen. Wir machten Station in Jassy. Wir kamen dort 2 Uhr mittags an, und unser Zug ging erst abends um 6 Uhr weiter. In einem Caféhaus erfrischten wir uns, – es war ein glühendheißer Tag. Ich fragte den bedienenden Kellner, wie es Dr. Lippe gehe (dem Alterspräsidenten des I. Kongresses) und erhielt befriedigende Auskunft. Mein Reisegefährte, Herr Komarow, war erstaunt, daß ich auch in Jassy Bekannte hatte. Aber er sollte noch mehr erstaunen. Ich trennte mich von ihm, da ich das Judenviertel besichtigen wollte, und wir verabredeten ein Treffen am Bahnhof kurz vor sechs. Ich wanderte nun durch das Judenviertel, Straßen auf Straßen voll Trödlerläden. Ich hatte den Eindruck, daß die Juden von Jassy davon leben, daß sie sich gegenseitig alte Hosen verkaufen. Dann bestieg ich die Straßenbahn, um auch andere Teile der Stadt zu besichtigen. Neben mir saß eine höchst anziehende junge Dame. Ich hielt meinen Reiseführer aufgeschlagen in der Hand und fragte naiv, als wir an einer schmutzigen, zerfallenen Kaserne vorbeikamen, ob das die Kathedrale sei. Sie war ziemlich verblüfft und versuchte, mich aufzuklären. Als ich dann aber, als wir an einer stattlichen Kirche vorbeikamen, auf meinen Plan deutend frug, ob das die Kaserne sei, gingen ihr die Augen auf, und sie fragte mich, ob ich sie verulken wolle. Ich sagte entrüstet: „Ich kann mir nicht denken, daß Sie das jetzt erst merken.“ Sie meinte: „Wenn Sie die Stadt sehen wollen, müssen Sie sich einen Wagen nehmen und sich führen lassen.“ – „Also führen Sie?“, sagte ich. Sie lachte, – und bald saßen wir in einem Wagen und begannen eine Rundfahrt, bei der sie mir die nicht allzu zahlreichen Sehenswürdigkeiten der Stadt zeigte. Diese Wagenfahrt war in jeder Beziehung ein Genuß. So herrliche Pferde wie hier und in Bukarest habe ich kaum je gesehen, und die Kutscher, feist und glattrasiert, – durchweg Eunuchen – in den samtenen langen Kitteln mit den seidigen Schärpen bilden eine Sehenswürdigkeit für sich. Sie bilden eine besondere Sekte unter dem Namen „Lipovaren.“ Auf dieser Fahrt kamen wir gleich zu Anfang an einem Gartenlokal vorbei, und dort saß eine große Gesellschaft von jungen Leuten und Damen an langen Tischen. Als sie des Wagens und meiner Begleiterin ansichtig wurden, entstand ein großes Hallo, der Wagen wurde angehalten, man umringte uns, und erst allmählich entnahm ich dem Gesprächswirrwarr, daß es eine Gesellschaft von Studenten der Universität und daß meine Begleiterin eine Assistenzärztin eines dortigen Professors war. Sie erzählte ihrer Gesellschaft, wie sie an mich geraten war, und die jungen Leute beschlossen, alle mir die Eskorte zu geben. Sie bestiegen die wartenden Wagen, und so kam es, daß ich vor sechs an der Spitze einer großen Wagenprozession vor dem Bahnhof landete, wo mich Herr Komarow erwartete. Er war ziemlich erstaunt, daß ich so schnell Bekanntschaft in Jassy gefunden hatte. Ich stellte den alten Herren als meinen Onkel vor und erklärte ihm, daß die Damen der Gesellschaft alles meine Cousinen, also auch seine Verwandten seien, und er war ganz erstarrt, als die jungen Damen ihn umringten und abküßten. – Daß meine Depression sich inzwischen einigermaßen gegeben hatte, geht aus dieser Erzählung vielleicht zur Genüge hervor.

Ich kam also dann nach Bukarest. Die Stadt bot damals nicht entfernt das glänzende Bild, das sich mir Jahrzehnte später präsentierte, und trotz des interessanten halborientalischen Lebens, des glanzvollen Korsos auf der „Chaussee“, des Betriebes in der „Flora“, mißfiel sie mir eigentlich eher. Sie hatte zwar einige reizende Partien, aber im ganzen wimmelte die Stadt von architektonischen Scheußlichkeiten und geschmack­­losen Denkmälern. Reizvoll war das Getriebe der Zigeuner. Wenn man einem von den schmutzpatinierten Buben etwas schenkte, konnte man Straßen lang die bettelnde Schar der Jungen nicht loswerden. Ich machte mich bald davon und blieb zwei Tage in dem reizend gelegenen Herkulesbad. Vergeblich forschte ich dort in den zahlreichen jüdischen Läden, wo es ein rituelles Restaurant gäbe. Die Inhaber starrten mich unglaublich und fast mißtrauisch an; sie konnten sich scheinbar gar nicht vorstellen, daß ein westeuropäischer Tourist ein derartiges Verlangen hatte. Zu meiner freudigen Überraschung stellte ich dann aber fest, daß in dem recht eleganten Kurhaushotel, in dem ich abgestiegen war, unter der Aufsicht des Rabbiners von Orsowa eine koschere Fischküche eingerichtet war, und so konnte ich bei den Klängen eines guten Zigeunerorchesters neben einer recht soigniert aussehenden Gesellschaft von Kurgästen dinieren. Merkwürdig war folgendes: Ich hatte, wie es allgemein üblich ist, meine Brieftasche und meine Barschaft im Hotelbüro zur Aufbewahrung deponiert. Aber als ich abends dem Tanze im Kursaal zusah, suchte mich der Wirt auf und bat mich, meine Sachen doch lieber an mich zu nehmen, da sie bei mir sicherer wären als in seinem Büro. Am zweiten Abend schon in der Dämmerung fuhr ich in einem Wagen nach Orsowa, um dort den Donaudampfer, der mich stromaufwärts bringen sollte, zu besteigen. Da erlebte ich ein reizendes Intermezzo: Als der Wagen um die Ecke des Hotelparks bog, erscholl ein „Stop“, und aus dem Gebüsch sprang ein Stubenmädchen, das ich bis dahin kaum zu Gesicht bekommen hatte, auf das Trittbrett, steckte mir eine Rose ins Knopfloch, gab mir einen Kuß und verschwand, ehe ich mich von meiner Überraschung erholen konnte. Nach angenehmer Fahrt kam ich nach Orsowa, wo der Dampfer lag, der am andern Morgen fortgehen sollte. Ich richtete mich in meiner Kabine ein und spazierte dann noch sehr lang auf dem Deck in Gesellschaft eines älteren jüdischen Arztes, dem offenbar das, was ich ihm über die jüdisch-nationale Idee und den Zionismus erzählte, vollkommen neu war. – Früh am andern Morgen beobachtete ich, wie die Schiffsgäste an Bord kamen. Dabei fiel mein Blick auf die schöne Rose des Stubenmädchens, und, da die Blume schon den Kopf sinken ließ, warf ich sie achtlos auf die Laufplanke. Da geschah etwas Unerwartetes: Nach einiger Zeit kam eine wunderschöne, höchst elegante Frau, umgeben von einem ganzen Stab ebenso eleganter Herren, und als sie über die Planke ging, stutzte sie, bückte sich und nahm die Rose, reinigte sie und steckte sie sich ins Haar, und den ganzen Tag sah ich ebenso bewundernd wie beschämt diese Dame auf dem Deck sitzen, wie sie mit ihrer Begleitung plauderte, und immer leuchtete die Rose aus ihrem Haar. Unsereins wirft achtlos etwas weg, und eine schöne Frau weiß, ihm neues Leben und Glanz zu verleihen.

Die phantastisch schöne und romantische Fahrt von Orsowa über Vieczerowa durch das „Eiserne Tor“ und den Engpaß von Kasan, bei der man in den Felsen noch die Spuren des Durchzugs der römischen Legion unter Trajan sieht, will ich nicht beschreiben. Sie ist ungeheuer lebendig in den ersten Kapiteln des „Goldmensch“ des leider und zu Unrecht in Vergessenheit geratenen großen Romanciers Moritz Jockey geschil­dert. Wir genossen den Anblick, behaglich auf dem Verdeck sitzend, neben mir jener alte Arzt, ein ungarischer Offizier, und eine ungarische jüdische Dame. Im Gespräch ergab es sich, daß der Offizier sehr wohl Verständnis für die jüdischen Aspirationen hatte, während ich in der jungen Dame eine Vertreterin jenes jüdisch-ungarischen Chauvinismus kennenlernte, wie ich ihm später noch sehr häufig begegnet bin. Und so kam es, daß bald die Dame mit dem Offizier in einen lebhaften Disput geriet, in dem der Ungar die jüdische, sie aber die ungarisch-nationale Idee vertrat. Bei Bazias enden die Ausläufer des Gebirges, dort verbreitert sich der Strom, und die Gegend wird eben. Gerade, als wir an Bazias vorbeikamen, hielt die Dame eine lange Suada voll von bekannten Banalitäten der assimilatorischen Mentalität. Ich hatte mich lange ruhig verhalten und sagte nur lässig, auf die Landschaft weisend: „Schade, es wird immer flacher.“ Die recht gescheite junge Dame biß sich auf die Lippen, brach ihre Rede ab, und wir wandten uns harmlosen Themen zu. Abends langten wir in Belgrad an, ich verabschiedete mich von der an sich sehr sympathischen Reisegesellschaft, warf noch einen wehmütigen Blick auf jene Rose im Haar der schönen fremden Frau und betrat serbischen Boden. Zu meinem höchsten Erstaunen fand ich ein besonders elegantes Hotel in der sonst wenig einladenden Stadt und konnte mir diese Eleganz nicht recht erklären, bis ich hörte, daß dort die ungarischen Offiziere aus dem gegenüberliegenden Semlin zu verkehren pflegten, und sich dort ein Spielklub aufgetan hatte. Als ich am andern Tag die Stadt besichtigte, feierte wieder mein Polyglott Kunze, diesmal der serbisch-deutsche, Triumphe. Ich fand darin unter der Rubrik „Gespräch auf der Straße“ folgende hübsche Anweisung: „Mein Fräulein, darf ich Sie begleiten?“ – „Mein Fräulein, Sie sind ein Engel!“, und darauf folgte ziemlich logisch die Vokabel „der Kuß“. Die Dame aber hatte seltsamer Weise keine andere Antwort als: „Sie sprechen aber ein ausgezeichnetes Serbisch“, worauf dann die schlagfertige Antwort erfolgte: „Ich habe auch einen ausgezeichneten Sprachführer Polyglott Kunze, in allen besseren Buchhandlungen zu haben.“

Ich fuhr dann mit der Bahn durch die Puszta nach Budapest und über Wien nach Berlin. Meine Eindrücke von diesen beiden Städten, die ich nachher noch oft besuchte, behalte ich späterer Gelegenheit vor.

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