Kitabı oku: «Mörderhölzli», sayfa 2
5. Strenge Sitten
«Oh! Guten Morgen, Herr Pfarrer.» Eine verlegene Röte schoss Emma ins Gesicht.
Pfarrer Karl Wartmann war ein sehr schlanker, gross gewachsener Mann von einunddreissig Jahren mit dichten, dunklen, welligen Haaren und einem modischen Schnauz. Seine Brille sass immer etwas schief auf der Nase. In Emmas Augen war er der attraktivste Mann weit und breit. Er war ein bisschen ein Schussel und oft etwas zerstreut. Aber das fand Emma herzig. Nicht, dass sie etwa keinen Respekt vor ihm gehabt hätte, das nicht, er war schliesslich der Pfarrer und ihr Herr. Aber sie lebte bald fünf Jahre mit ihm unter einem Dach. Sehr viel länger, als Frau Pfarrer mit ihm zusammenlebte.
«Komm, gib mir das Wasser, ich möchte es meiner Frau bringen.»
Kurz darauf setzte sich der Pfarrer mit einem Blick ins Leere an den Küchentisch. Gewiss war er in Gedanken schon wieder bei seinen geistlichen und diakonischen Pflichten. Tigi miaute inzwischen schon ziemlich gereizt und strich Emma auffordernd um die Füsse. Er war eindeutig der Meinung, dass das Restchen gefrorene Milch für einen hungrigen Kater nicht reichte, besonders nach einer langen und kalten Winternacht.
Aber Emma hatte jetzt nur Augen für den Pfarrer. «Das Frühstück ist fast parat, Herr Pfarrer … äh … kommt Frau Pfarrer auch?»
«Nein. Sei so gut und bring ihr nachher ihren Tee und zwei Scheiben Brot ans Bett.»
«Selbstverständlich.» Emma senkte den Blick. Sie hasste es, die Schlafkammer der Herrschaft zu betreten, und noch mehr widerstrebte es ihr, die holde Lina im Bett zu bedienen.
«Hast du es heute früh auch gehört, Emma? Irgendjemand hat geschrien.» Der Pfarrer schaute sein Mädchen fragend an.
«Äh, nein … nein, ich habe nichts gehört.»
«So so so. Na, dann habe ich wohl geträumt. Oder es war am Ende gar nur ein Käuzchen …»
Der Pfarrer sass wieder schweigend am Tisch und starrte Löcher in die Luft. Emma beobachtete ihn verstohlen, während sie die heisse Milch in einen Krug goss.
Der Pfarrer war sich ihrer Verehrung bestimmt nicht bewusst, wenngleich Emma mit ihrer Schönheit und Anmut fast jeden Mann in Altikon in Versuchung hätte führen können.
Pfarrer Wartmann hatte nicht besonders viel Erfahrung mit Frauen, er war nämlich erst seit ein paar Monaten verheiratet. Er betete seine Lina an, obwohl sie weder Schönheit noch Anmut zu bieten hatte und auch keine Ahnung von Haushaltsführung hatte. Dafür war sie gebildet. Pah! Als ob das zählte. Vor der Eheschliessung wohnte die Mutter des Pfarrers noch im Haus und leitete den Haushalt. Dass eine junge Frau sich nach ihm verzehrte, durfte sich Pfarrer Wartmann ganz einfach nicht vorstellen. Die häufige Verlegenheit seiner Dienstmagd fiel ihm gar nicht auf. Und da es sich nicht gehörte, dass die Herrschaft mehr als das Nötigste mit ihren Bediensteten sprach, wusste er auch kaum etwas Persönliches über sie.
Der Tisch war fertig gedeckt und Emma legte noch ein Scheit ins Feuer. Als sie den dampfenden Krug mit dem Milchsieb obendrauf auf den Tisch stellte, wäre sie fast über Tigi gestrauchelt, der immer noch um ihre Beine strich. «Gopfridstutz Tigi!», schimpfte Emma unterdrückt.
«So so so! Komm, setz dich doch heute zu mir an den Tisch. Du hast ja auch noch nichts gegessen, nehme ich jedenfalls an.»
«Aber Herr Pfarrer … Ich kann doch nicht …», stotterte Emma verlegen.
«Keine Ausreden Emma, setz dich zu mir und iss etwas!»
Emma wagte nicht mehr zu widersprechen. Insgeheim freute sie sich sogar über diesen Erfolg. Wenn das Frau Wartmann wüsste! Normalerweise ass Emma frühmorgens zuerst und bediente dann ihre Herrschaft. Mittag- und Abendessen trug sie im feinen Esszimmer auf, sodass sie in Ruhe in der Küche essen konnte. Sie war jeweils ganz froh, ungestört zu sein.
Das Frühstück verlief schweigend. Emma brachte vor Verlegenheit kaum eine Scheibe Brot hinunter. Tigi hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass es vorläufig nichts mehr zu fressen gab und putzte sich nun ausgiebig. Nach dem Essen zog sich Herr Wartmann in sein Studierzimmer zurück. Emma räumte den Tisch ab. Dann richtete sie das Frühstück für Frau Wartmann auf einem Holztablett, ging damit zu deren Kammer und klopfte zögerlich.
«Herein», kam es gedämpft von drinnen.
Emma hielt den Atem an und öffnete die Tür. «Guten Morgen Frau Pfarrer.» Der gewohnt penetrante Duft von Rosenparfüm schlug ihr entgegen.
Frau Wartmann sass aufrecht in ihrem Bett und schaute missbilligend drein. Ihr Gesicht war bleich, die Nase wirkte noch spitzer als sonst und ihre Lippen waren zu einem Strich zusammengepresst. Aber ihre Nachthaube sass ordentlich auf dem Kopf, darunter lugte ihr langes braunes Haar hervor. Wortlos verfolgte sie Emmas Bewegungen, die ein kleines Holztischchen über ihren Beinen platzierte. Als sie etwas zögernd das Tablett mit dem Frühstück daraufstellen wollte, entglitt ihr der Teller mit den Brotscheiben. «Oh, Entschuldigung», stammelte sie. Eilig legte sie das Brot wieder zurück auf den Teller, doch blieben auf der Decke ein paar Brotkrümel zurück. Frau Pfarrer sagte keinen Ton, schaute dem nervösen Treiben nur abschätzig zu.
Emma wollte sich rasch zurückziehen, als Frau Wartmann schneidend sagte: «Emma, es schickt sich überhaupt nicht, dass du mit dem Herrn Pfarrer zusammen am Tisch sitzt. Das kommt nicht noch einmal vor, verstanden!»
Anders als ihr braver Ehemann hatte seine Gattin rasch bemerkt, dass Emma für ihren Herrn mehr empfand, als schicklich war, und die heimliche Leidenschaft des Mädchens reizte natürlich ihre Eifersucht.
Emma fühlte, wie Ohnmacht in ihr aufwallte, der Zorn trieb ihr die Röte ins Gesicht. Was hätte sie denn machen sollen? Dem Pfarrer widersprechen? Woher wusste diese Zwetschge das überhaupt?
Widerworte waren undenkbar. So blieb Emma ihrer Herrin eine Antwort schuldig, was fast ebenso unverschämt war. Mit gesenktem Blick verliess sie rasch die Kammer. Hinter ihr fiel die Tür krachend ins Schloss.
«Dass du mir so schnell wie möglich diese Bettwäsche wechselst. Und vergiss die Nachttöpfe nicht!», rief ihr Frau Pfarrer noch nach.
Emma litt wie ein geschlagener Hund, seitdem ihr Herr seine junge Gemahlin ins Haus gebracht hatte. Früher, mit der Mutter des Herrn Pfarrer, war es so harmonisch gewesen. Mutter Wartmann war fast ein bisschen ein Mutterersatz geworden und jetzt vermisste sie die ältere Frau schmerzlich. Damals lebte Emma in der Illusion, dass ihr Herr Pfarrer niemals heiraten würde. Und falls doch irgendwann, dann sie, Emma Bachmann. Besser gesagt Emma Wartmann … Das tönte doch gut. Sie hätte ihm so gerne eine Schar gesunder Kinder geschenkt und nur ihm persönlich sein Mittagessen gekocht. Die Eifersucht frass Emma manchmal fast auf. Sie wusste nicht, ob sie unter diesen Umständen noch lange hier bleiben konnte.
Emmas Eltern waren einfache Bauersleute aus dem Zürcher Oberland und sie hatte sechs Geschwister. Das heisst, als sie ihre Familie vor ein paar Jahren verlassen hatte, waren es sechs. Gut möglich, dass es inzwischen noch ein paar mehr waren. Sie hatte alle schon lange nicht mehr gesehen. Es gab nicht viele schöne Erinnerungen an ihre Kindheit. Am liebsten dachte sie nicht über die Schläge und die Demütigungen nach, die sie zu Hause erlitten hatte. Der Vater hatte oft dem Schnaps zugesprochen. Darob hatte er seine Arbeit auf dem Hof und die Familie vernachlässigt. «Aber irgendwann muss man seinen eigenen Weg einschlagen», dachte Emma. Ihre Mutter hatte kaum eine Wahl gehabt. Emma schon. Wie es ihrer Mutter wohl ging? Emma war bereits mit vierzehn in einen Haushalt am Zürichsee gegangen. Sie hatte viel gelernt bei dieser Stelle, aber fast noch mehr gelitten. Ein Jahr später ging sie dann nach Zürich, wo sie blieb, bis sie 1901 zu Pfarrer Wartmann kam.
Am besten wäre es wohl, dachte Emma zum x-ten Mal, wenn sie bald heiraten würde. An Freiern mangelte es ihr ja beileibe nicht. Bisher hatte sie in ihrer Hingabe zum Pfarrer aber alle Avancen aus dem Dorf zurückgewiesen. Auch gab es jetzt nicht gerade einen, der Emma wirklich überzeugt hätte. Schon gar nicht Fritz, der ihr seit Langem nachstellte. «Ein bisschen Niveau sollte er schon haben», dachte sie hochmütig.
Der restliche Vormittag verlief wie gewohnt mit Hausarbeiten. Frau Pfarrer bekam sie nicht mehr zu Gesicht. Erst zum Mittagessen erschien sie, verlor aber kein weiteres Wort mehr über den Vorfall am Morgen.
6. Anna Müller
Gleich unterhalb des Restaurants Kreuzstrasse, in einem Haus ganz nah an der Strasse zur Thur, wohnte die 21-jährige Anna Müller mit ihrer Familie. Die Müllers waren Bauern, Anna und ihre drei Brüder arbeiteten in Haus und Hof mit. Die älteste Müllerstochter hatte bereits ihre eigene Familie und wohnte nicht mehr im Dorf.
Kurz vor dem Mittagessen war Anna allein in der Küche beschäftigt. Sie war schlank, aber etwas grösser und kräftiger als andere Frauen. Ihre Schultern waren vielleicht eine Spur zu breit und ihre Hände fast so stark wie die eines Mannes. Ihre blonden langen Haare trug auch sie nach alter Väter Sitte im Alltag zu Zöpfen geflochten. Manchmal, an einem Sonntag, liess sie ihre Haare schon auch mal offen. Sollten die Leute doch reden! Sie war zwar ein tüchtiges Mädchen, das ihrer Mutter fleissig zur Hand ging, aber brav hätte sie dennoch niemand genannt. Anna hatte etwas Keckes und konnte ziemlich direkt sein. Manchmal benahm sie sich ganz bewusst anders, als man es von einer jungen Frau erwartet hätte und brüskierte damit gerne die Leute. Und ab und an auch ihre beste Freundin Emma. «Es täte Emma überhaupt gut, wenn sie etwas frecher würde», dachte Anna übermütig.
Das Feuer flackerte im Herd und verbreitete eine angenehme Wärme. Am Morgen war es bissig kalt gewesen, als sie ihren Kaninchen die Ställe ausgemistet hatte. Eine der Häsinnen hatte ihr Nest seit ein paar Tagen fertig, der Nachwuchs würde also nicht mehr lange auf sich warten lassen. Hoffentlich mussten die Kleinen dann nicht frieren. Die Häsin Bäbeli hatte als Mutter aber schon Erfahrung, da würde sicher alles rundlaufen, dachte Anna zuversichtlich. Sie freute sich auf die Jungen immer wieder aufs Neue. Daran, dass sie die Tiere irgendwann dem Metzger geben musste, wollte sie jetzt nicht denken. Den Batzen, den sie mit den Kaninchen verdiente, konnten sie auf jeden Fall gut gebrauchen.
Der Geruch von Zwiebeln und Schweineschmalz lag in der Luft und liess Annas Magen knurren. Endlich waren Poltern und Schritte zu hören. Anna rührte noch einmal in der Restensuppe und wappnete sich innerlich für das Mittagessen. Letztes Jahr hatte sie bei einer Bauernfamilie in Feldi im Haushalt geholfen, als da das zweite Kind zur Welt kam. Die Erinnerung an angeregte Gespräche am Mittagstisch, an freundliche Worte zwischen den Eheleuten und sogar für sie und das ältere Kind liessen Anna damals nachdenklich werden.
Anna wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ihre beiden Brüder in die Küche stürmten. Adolf, der jüngste, rempelte Heinrich an, der vor ihm ging. «Menü eins bitte, Fräulein!», rief Heiri fröhlich. Dann liess er seinen Ellbogen kurz zurückschnellen, sodass Adolf, in den Bauch getroffen, aufstöhnte. Über Heiris Gesicht zuckte ein triumphierendes Lächeln.
«Habt ihr euch die Hände gewaschen?», fragte Anna und schaute Adolf in einer fast mütterlichen Art an.
«Ähm …»
«Pfui! Das nächste Mal verköstige dich bitte im Kuhstall, oder noch besser bei den Schweinen!»
«Adolf, Heiri! Marsch, die Hände waschen!», befahl der Vater, der soeben in die Küche getreten war, mit seiner kräftigen Stimme. Die beiden Burschen gehorchten und verliessen wortlos die Küche.
«Hoi Anna», sagte Vater Müller knapp. Er zwängte sich schnaufend auf die Eckbank hinter den Tisch und beobachtete aufmerksam, wie Anna die grosse Pfanne mit der Suppe auf den Tisch stellte. Jakob Müller senior war ein stämmiger Mann, sein dichtes Haar war erst von wenigen weissen Strähnen durchzogen und er trug wie die meisten Männer einen üppigen Schnauz. Seine kräftigen Hände waren rau von der harten Arbeit und seine Fingernägel hatten schwarze Ränder. Sie konnten zupacken, aber im Umgang mit den Tieren zeigte er eine überraschende Sanftheit. Anna mochte ihren Vater, wenn sie auch gehörig Respekt vor ihm hatte. Da er nicht viel sprach, war man nie so ganz sicher, woran man bei ihm war.
Annas Mutter war inzwischen ohne ein Wort des Grusses zu Tisch gekommen. Sie sass still auf ihrem alten Holzstuhl und schaute mit ausdruckslosem Gesicht an ihrem Gatten vorbei an die gegenüberliegende Wand. Die roten Hände mit den krummen Fingern hatte sie vor sich auf der Tischkante wie zum Gebet gefaltet.
«Wo ist Jakob?», fragte die Mutter, während sich die beiden Buben mit nun sauberen Händen an den Tisch setzten.
«Er musste für eine Notschlachtung zum Ehrsam nach Feldi», brummte der Vater. «Wird vermutlich später bei ihm.»
Während dem Essen wurde nicht mehr gesprochen.
Danach blieb Anna allein mit dem schmutzigen Geschirr zurück. Sie räumte Teller und Besteck vom Tisch vorsichtig in den Blechzuber. Das Wasser über dem Feuer war während des Mittagessens dampfend heiss geworden. Trotzdem legte Anna gleich nochmals ein Scheit ins Feuer, sodass die Flammen herrlich aufloderten. Wenn das die Mutter sähe! «Sparen sollte ich, vor allem auch beim Brennholz. Ach was, ich lasse mich einfach nicht erwischen», dachte Anna trotzig und schloss das eiserne Ofentürchen. Sie streute etwas Soda über das schmutzige Geschirr und goss das heisse Wasser darüber. Annas Mutter kam mit einem frischen Tuch in der Hand in die Küche zurück und begann, das Geschirr abzutrocknen.
«Samuel war eben hier. Frau Erni hat heute grosse Wäsche … Du weisst ja, wie Frau Erni ist.» Die Stimme der Mutter klang wie immer eintönig. Dieses Monotone reizte Annas Widerspruchsgeist, es machte sie ganz nervös. Sie fragte sich manchmal, von wo sie selbst ihre Quirligkeit und Fröhlichkeit hatte. Wäre sie in einem Krankenhaus zur Welt gekommen, hätte sie vermutlich darauf getippt, als Säugling verwechselt worden zu sein.
Ja, Anna wusste, wie Frau Erni war: Immer knapp am Rand eines Nervenzusammenbruches. Sie fragte sich zum x-ten Mal, was Herr Erni an dieser Frau gefunden hatte, als er sie vor ein paar Jahren geheiratet hatte. Samuel, der Sohn aus erster Ehe von Burkhard Erni, war inzwischen zwanzig und seit Kurzem arbeitete er wieder in Altikon bei seinem Vater als Handlanger. Sämi hatte zwar eine Lehre als Schuhmacher abgeschlossen, aber dies vor allem auf Wunsch seiner verstorbenen Mutter. Sie hatte gemeint, er müsse sich schonen und dürfe es nicht so streng haben wie sein Vater, der Hufschmied war. Aber Sämi hatte keine Freude am Schuhe machen und flicken. Sämi und Anna waren zusammen zur Schule gegangen und hatten sich immer gut verstanden. Seit er wieder im Dorf war, sahen sie sich ab und zu, aber jedes Mal nur von Weitem. «Eigentlich schade», dachte Anna, denn auch auf Distanz konnte sie nicht übersehen, dass Sämi inzwischen ein attraktiver und kräftiger Bursche geworden war.
«Geh nachher hinüber und hol die beiden Gofen, damit sie nicht im Weg stehen. Sie sollen dir mit den Hühnern helfen», leierte die Mutter vor sich hin. Anna erinnerte sich nicht, ihre Mutter jemals richtig lachen gesehen oder gar gehört zu haben.
«Ja Mutter», sagte Anna und versuchte, ihre Freude über die Abwechslung mit den Kindern nicht zu deutlich zu zeigen. Irgendwie wurde sie den Eindruck nicht los, dass sie die Schuld an Mutters Kälte und Teilnahmslosigkeit trug. Auch wenn ihr eigentlich kein Grund dafür einfiel. Doch brauchte es überhaupt einen Grund? Es war halt, wie es war. Als der Abwasch beendet war, zog sich die Mutter in ihre Kammer zurück, um sich etwas hinzulegen. Sie hatte ein böses Bein, eine offene Wunde, die nicht heilen wollte und ihr seit Jahren Beschwerden bereitete.
7. Elefantengedächtnis
Der Himmel war bedeckt, als Emma am frühen Nachmittag mit ihrem Korb aus dem Haus ging. Ein eisiger Wind wirbelte Schnee von den Bäumen in ihr Gesicht, an den Hals und unter den Rock die Strümpfe hoch. Sie schloss die Knöpfe ihres Mantels, schlang sich ein Wolltuch um die Schultern, zog ihre Fäustlinge an und ging den Kirchrain entlang. Kaum war sie ein paar Schritte gegangen, als ihr Nachbar Röbi hinter einer Holzbeige hervorsprang, direkt vor ihre Füsse, und fröhlich «Guguseli, guguseli!» krähte. Dabei klatschte er in die Hände. «Jesses Röbi, hast du mich erschreckt!», rief Emma lachend, dabei hatte sie eigentlich schon mit ihm gerechnet. Es war so etwas wie ein Spiel zwischen ihnen.
Röbi Vetterli war neunzehn, aber seit er als 5-jähriger einen Unfall mit einem Fuhrwerk gehabt hatte, war er geistig stehengeblieben und hatte ein Holzbein. Die Vetterlis waren Nachbarn, nette Leute, fand Emma. Röbi war ihr einziges Kind.
Emma hatte von einer anderen Nachbarin gehört, Röbi habe damals seinen Vater auf einem Fuhrwerk voller Holz vom Wald nach Hause begleitet. Der Gaul hatte gescheut und der Wagen war gekippt. Röbi war mit dem Kopf aufgeschlagen und hatte sein Bein eingeklemmt. Zu allem Elend starb Röbis Mutter nur wenige Monate danach an einer Grippe. Seither war die ledige Schwester der Mutter im Haus und schaute zum Rechten. «Schon traurig, wie viel Unglück manche brave Familie zu ertragen hatte», dachte Emma.
Röbi war ein herzensguter Bursche geworden, sie mochte ihn sehr gerne. Bei all seinem Schwachsinn hatte er eine erstaunliche Gabe: Röbi erinnerte sich an jeden einzelnen Tag der letzten ungefähr zehn Jahre. Man konnte ihn fragen, was man wollte, zum Beispiel: «Röbi, was hast du am 10. August 1899 gemacht?» Und Röbi antwortete ohne gross nachzudenken: «Am frühen Morgen regnete es kurz, aber am Nachmittag war es heiss. Unten an der Thur haben wir Weizen geschnitten. Die Tante hat uns Kuchen aufs Feld gebracht. Apfelkuchen mag ich am liebsten.»
Unglaublich!
Röbi schaute Emma in seiner ungenierten Art lachend an und rieb sich die kalten Hände. Dabei gab er glucksende Laute von sich. Er liebte Emma, sie war immer so nett zu ihm. Er wurde zwar nicht ausgelacht von den Leuten im Dorf, aber mit ihm abgeben wollte sich auch niemand so richtig. Dabei mochte Röbi vor allem die Frauen gerne. Sie waren so weich und rochen so gut, ganz anders als die Männer. Das hatte er schon früh herausgefunden. Er wollte doch einfach ein bisschen Nähe, das gab ihm ein gutes Gefühl und erinnerte ihn an seine Mutter. Manchmal, wenn er seinen Vater am Sonntag ins Restaurant Kreuzstrasse begleiten durfte und sich die Wirtin oder eine Serviertochter kurz zu ihnen setzte, schmiegte er sich vorsichtig an sie. Meist wurde das von den Frauen geduldet. Das war schön. Seine Tante war da nicht so freigiebig mit Zärtlichkeiten. Aber Emma war seine allerbeste Freundin. Mit ihr konnte er sich sogar unterhalten. Wenn er sie traf, wurde ihm immer ganz warm ums Herz. Manchmal umarmte er sie auch, und sie schob ihn nicht gleich weg.
Emma nahm seine rechte Hand. «Wie geht es dir Röbi?», fragte sie. Er entwand ihr seine Hand und begann wieder zu klatschen. «Gut. Gut. Gut», sang er.
«Trägst du denn keine Handschuhe? Du wirst den Kuhnagel bekommen», tadelte Emma. Als Röbi schwieg, sagte sie: «Ich gehe zu Anna, ich muss noch Eier und ein paar andere Sachen kaufen. Möchtest du ein Stück mit mir gehen?»
Anstelle einer Antwort nahm Röbi einfach Emmas Hand und folgte ihr wie ein kleines Kind der Mutter. Dabei summte er «Weisst du wie viel Sternlein stehen …»
«Wir gehen jetzt aber noch nicht ins Bett, Röbi», lachte Emma. «Jetzt wird gearbeitet, es ist ja noch heiterheller Tag.»
«Vater macht Mittagsschlaf. Nachher müssen wir noch Holz aufbeigen.»
«Prima. Solange dein Vater schläft, kannst du mich zu Anna begleiten. Vielleicht können wir die Eier gleich selber aus dem Hühnerstall holen. Hättest du Lust?»
«Ja ja ja, Hühner», rief Röbi und sprang mit seinem Holzbein ungelenk neben Emma her.
Gemeinsam gingen sie nun zur Rickenbacher Strasse und dann abwärts das kurze Stück zum Dorfplatz. Sie trafen auf ein paar Kinder, die versuchten, aus dem trockenen Pulverschnee Schneebälle zu formen. Von Weitem hörte man das gedämpfte Rattern eines Fuhrwerkes, das sich dem Dorf näherte. Die Kirchturmuhr schlug zwei.
Gleich unterhalb des Dorfplatzes war die Wirtschaft zur Kreuzstrasse. Emma sah vor dem Haus ein Velo an die Hausmauer gelehnt. «Das wäre sicher ein tolles Gefühl», dachte sie, «mit so einem Velo herumzufahren.» Aber das Geld dafür hatte ein einfaches Pfarrmädchen natürlich nicht. Ausserdem, wofür brauchte eine Frau ein Velo? Sie hatte zwei gesunde Beine und kam auch ohne Fahrrad überallhin.
Zu Röbi sagte sie: «So ein Velo wäre schon nobel, gäll. Fahren müsste man damit natürlich auch noch können …»
«Velo fahren! Ich kann Velo fahren. Soll ich es dir zeigen?» Röbi riss sich los und lief auf das Fahrrad zu.
«Nein, sicher nicht. Untersteh dich!», rief Emma erschrocken. «Das darfst du nicht! Und überhaupt: Wer braucht schon so ein Vehikel? Reiner Luxus ist so etwas. Und jetzt bei dem Schnee …» Emma konnte ihren Neid trotzdem nicht ganz verbergen.