Kitabı oku: «Mörderhölzli», sayfa 3

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8. Hinterhof

Es klopfte leise ans Fenster. Anna trocknete ihre Hände an der Schürze ab, und als sie Emma zum Fenster hineinspähen sah, hellte sich ihre Miene auf. Sie öffnete das Fenster, Kälte drang in die Küche und liess sie frösteln.

«Hoi Anna, ich brauche Eier und Most», sagte Emma. Röbi stand verschmitzt daneben und trat von einem Bein aufs andere, um sich zu wärmen. Die baren Hände hatte er tief in seine Hosentaschen vergraben.

«Ich muss noch rasch die Erni-Gofen holen. Geht doch schon hinters Haus, ich bin auch gleich da», sagte Anna freundlich. «Bis gleich.» Rasch schloss sie das Fenster wieder.

Emma und Röbi gingen um das Haus herum zu den Kaninchenställen. Sie setzten sich auf die Bank an der Hauswand. Hier war es etwas geschützt, trotzdem fror Emma in ihrem alten Wintermantel. Es war ihr gerade recht, dass Röbi ganz nah an sie heranrutschte.

Überraschend ging die Hintertür auf. Annas Vater trat heraus, seinen unvermeidlichen, halb gerauchten Stumpen im Mundwinkel. Die Augen wegen des beissenden Rauches zusammengekniffen, brummelte Herr Müller etwas, das Emma als Begrüssung deutete. Annas Vater war kein Mann grosser Worte. Emma hatte ihn eigentlich noch nie so richtig ganze Sätze sprechen hören. Er redete scheinbar nur das Nötigste, am ehesten noch mit seinen Söhnen. Alle hatten ein bisschen Angst vor ihm, obwohl er nicht wirklich böse war, einfach ein Brummbär, dachte Emma und musste sich ein Grinsen verkneifen.

Der Vater schlurfte weiter Richtung Scheune. Hinter ihm trat Jakob aus der Hintertür. Er wurde von den Leuten im Dorf nur Mockemetzger genannt. Er war eher klein gewachsen, wirkte dafür umso kräftiger in seinen jägergrünen, etwas zu kurz geratenen Zwilchhosen. Vielleicht hatte er auch einfach nur die Hosenträger zu straff festgezurrt. Über seinen millimeterkurzen, dunklen Haaren trug der Mockemetzger eine schwarze Zipfelmütze. Er schaute finster drein, als er Emma und Röbi auf der Bank erblickte. Etwas anderes als ein grimmiges Gesicht hatte Emma auch noch nie bei ihm gesehen.

«Habt ihr nichts Besseres zu tun, als faul rumzusitzen?», schnauzte der Mockemetzger. Sein Blick ging an ihnen vorbei. Er begann zu husten und spuckte Kautabak aus.

«Wir brauchen Eier, Anna kommt gleich», sagte Emma schnell. Röbi verhielt sich ganz still und blickte starr zu Boden.

Der Mockemetzger beschleunigte seine Schritte und eilte seinem Vater nach. Er war der älteste Müllerssohn und rechnete fest damit, bald einmal den elterlichen Hof zu übernehmen. Wenn er keine Aufträge als Störmetzger hatte, arbeitete er auf dem Hof mit. Aber da wie dort fiel er nicht durch Fleiss und Zuverlässigkeit auf. Er war ein Einzelgänger, und er trank mehr Bier und sauren Most, als ihm guttat. Ein Taugenichts halt, wie man hinter vorgehaltener Hand in Altikon sagte. Vater Müller zögerte verständlicherweise noch mit der Übergabe des Heimwesens. Wer wusste, ob sich Jakob nicht doch noch zum Guten entwickeln würde.

Als der Mockemetzger im Dunkel der Scheune verschwunden war, atmeten Röbi und Emma auf. Anna kam mit den beiden Erni-Kindern zum Hinterhof. Das 2-jährige Trudi hopste ungestüm vor Anna her und verlor fast ihr gestricktes Jäcklein. «Halt Trudeli, nicht so stürmisch! Ich muss dir noch dein Jäckchen zumachen. Sonst hustest du dann wieder!» Seppli, 4-jährig, blieb ganz nah bei Anna stehen, als er Röbi sah. «Du musst keine Angst haben, Seppli», versuchte Anna den Jungen zu beruhigen. Trotzdem versteckte sich Seppli hinter Annas Röcken und lugte nur vorsichtig mit einem Auge hervor.

Da kam wie aus dem Nichts Samuel mit grossen Schritten auf sie zu. «Huuuuuu», heulte er, seine Hände hatte er zu Klauen gespreizt, sein Oberkörper war vorgebeugt. «Huuu-huuu! Da kommt der Bölima …», rief Samuel fröhlich und tat so, als ob er eines der Kinder packen wollte.

Seppli hatte sich indes rasch von seinem Schrecken erholt und kam mutig hinter Anna hervor: «Halt, Bölima!», rief er mit piepsiger Stimme. «Sonst gibt’s eins hinter die Ohren!» Dabei versuchte Seppli, grimmig dreinzuschauen. Trudeli schaute aus sicherem Abstand bewundernd zu. Samuel begann zu lachen. Er hob Seppli stürmisch hoch und warf ihn kurz in die Luft. Der Kleine kreischte vor Freude. «So. Fertig lustig. Ich muss zur Arbeit», sagte Samuel. Er stellte seinen jüngeren Bruder wieder auf die Füsse.

Als ob er Anna, Emma und Röbi erst jetzt bemerkt hätte, sagte er scheinbar überrascht: «Oh, Grüezi mitenand. Hoi Anna.» Dabei schaute er Anna ganz besonders aufmerksam an, wie es Emma schien. Sämis Augen waren überhaupt der Blickfang schlechthin: «Um diese tiefblauen Augen und seine besonders dichten, dunklen Wimpern muss jede Frau ihn beneiden», dachte Emma und wandte sich verlegen ab. Wenn er bloss ein bisschen älter wäre. Nur ein, zwei Jährchen …

«Hoi Sämi», sagte Anna gut gelaunt, «schön, dich wieder mal zu sehen.»

«Ich habe leider nicht viel Zeit, mein Vater wartet.»

Emma glaubte, einen Augenblick lang Enttäuschung auf Annas Gesicht gesehen zu haben, aber dann sagte Anna leichthin: «Vielleicht ein andermal. Tschüss Sämi.»

Anna, Emma, Röbi und die beiden Gofen griffen fünf Eier direkt aus dem Hühnergehege und Röbi und die Kinder freuten sich, als wären sie aus lauterem Gold. Röbi lachte und klatschte so aufgeregt, dass die Hühner in alle Richtungen verstoben. Der Hahn wusste nicht, ob er Angst haben oder seine Hühner verteidigen sollte, und alle hatten viel Spass. Anna holte weitere Eier, ein Mödeli Butter und zwei Flaschen Most aus dem Keller und Emma packte alles in ihren Korb. Die beiden Frauen verabredeten sich auf den Abend beim Dorfbrunnen.

Röbi und Emma stapften über den knirschenden Schnee nach Hause. Der Nachmittag verging rasch und bald schon mussten die Lampen im Haus angezündet werden. Gegen Viertel vor acht klopfte Emma an die Tür der Wohnstube, wo der Herr Pfarrer und seine Frau auf der Couch sassen. Die beiden lasen am Abend oft gemeinsam in der Bibel, manchmal spielten sie auch Schach.

«Brauchen Sie noch etwas?», fragte Emma und gab sich Mühe, nicht nur den Herrn Pfarrer anzuschauen.

«So so so …», sagte der Pfarrer gedankenverloren. «Nein Emma, danke. Du kannst Feierabend machen».

«Gehst du noch aus?», fragte Frau Wartmann lauernd, der nicht entgangen war, dass Emma bereits Mantel, Schultertuch und Hut in der Hand trug.

«Ich habe mich mit Anna beim Dorfplatz verabredet.»

«Na dann, einen schönen Abend, Emma», sagte Frau Wartmann fast freundlich.

Es schien Frau Pfarrer am Abend deutlich besser zu gehen. Aber sie blieb dennoch eine falsche Schlange, so zuckersüss zu tun vor dem Pfarrer. Merkte der Ärmste denn nicht, wie sie sich verstellte?

9. Am Brunnen vor der Türe

Es war schon dunkel, als Emma zur Tür hinaustrat. Sie ging nochmals zurück und suchte die Laterne mit dem handlichen Henkel, fand sie aber nicht. Der Schnee und der Mond tauchten die Nacht in milchig kaltes Licht und Emma machte sich kurz entschlossen ohne Lampe auf den Weg. Am liebsten wäre sie gerannt, aber richtig rennen schickte sich nicht für eine Frauenperson.

Ein paar Häuser vom Pfarrhaus entfernt wohnte Familie Beerli. Deren Kinder waren alle erwachsen. Nur Fritz, der Jüngste, lebte noch zu Hause. Er war bereits fünfundzwanzig und umwarb Emma seit Längerem. Fritz konnte einfach nicht akzeptieren, dass Emma nichts von ihm wissen wollte. Wer weiss, vielleicht lauerte er ihr schon wieder auf, dachte sie.

Aber Emma konnte ungestört ihres Weges gehen. Schon von Weitem sah sie, dass sie vor Anna beim Brunnen war. Dafür stach ihr auf dem Dorfplatz ein Automobil in die Augen. So etwas gab es selten zu sehen. Eine Horde zappeliger Kinder verstellte beinahe die Sicht. Schwarz, mit roten Holzspeichenrädern, einem braunen Verdeck und viel Messing, das im Mondschein schimmerte. «Martini» stand gut sichtbar in weisser Schrift auf dem Kühler. Martini aus Frauenfeld. Das wusste auch in Altikon schon jedes Kind. Aber kaum jemand hatte je einen solchen Wagen mit eigenen Augen gesehen. Heissa! Wem der wohl gehörte? Am liebsten wäre Emma noch näher herangetreten, traute sich aber nicht, ihre Neugierde so offen zu zeigen. Also stellte sie sich unauffällig neben den Brunnen, so, als ob ein Martini für sie etwas Alltägliches wäre. Immer wieder schielte sie aber verstohlen in Richtung des Wagens. «Schon allerhand, so ein Ding in unserem Dorf.» Am liebsten hätte sie sich hineingesetzt. «Eigentlich praktisch», überlegte Emma: «Dieser Wagen frisst kein Heu. Man muss ihn nur mit Benzin füttern, wenn man ihn braucht.»

Dann wurde es laut auf dem Platz. Emma bemerkte ein paar Männer, die vor dem hell erleuchteten Eingang der Kreuzstrasse mit Bierflaschen herumstanden. Emma zog sich instinktiv etwas hinter den Brunnen zurück. Sie erkannte ­Annas Bruder, den Mockemetzger, den ältesten der Ehrsams, und Fritz Beerli, der sie so aufdringlich verehrte. Den vierten Mann kannte sie nicht.

«Sag das noch mal, du Lump!», rief der Mockemetzger mit lallender Stimme und spuckte auf den Boden.

«Müllersöhnchen, Muttersöhnchen», trällerte Fritz. Auch er schien nicht mehr nüchtern zu sein.

«Und du, Prahlhans? Du wärst nichts ohne deinen Alten», schrie der Mockemetzger wütend. Er spie seinem Gegner die Worte förmlich ins Gesicht.

Emma beobachtete erschrocken das Handgemenge, das sich vor ihren Augen entwickelte. Die beiden Streithähne begannen einander zu schubsen. Bier schäumte aus den Flaschen. «Hee, stopp! Hört auf mit dem Seich!» Diese Stimme gehörte dem Fremden. «Jetzt beruhigt euch mal wieder.» Der Unbekannte streckte die Arme schützend und beschwichtigend aus, dann trat er mutig zwischen die aufgebrachten Männer. Ehrsam, von dem man bisher kein Wort gehört hatte, machte sich rasch in die Gaststube davon.­

Der Unbekannte sprach nun beruhigend auf die beiden ein. Die Worte konnte Emma nicht mehr verstehen. Die Kinder hatten sich auf Fluchtdistanz zurückgezogen und umringten nun Emma hinter dem Brunnen. Alle redeten und gestikulierten durcheinander, ohne das Geschehen vor der Kreuzstrasse aus den Augen zu lassen.

Unterdessen war Anna aus dem Haus getreten, sie hatte den Krach gerade noch mitbekommen. Hinter Anna zeigte sich ihr jüngerer Bruder Heinrich auf der Haustreppe. Anna und Heinrich standen sich ziemlich nahe. Er nahm seine grosse Schwester jeweils in Schutz, wenn sie bei Jakob wieder mal unter die Räder kam. Mit Jakob auszukommen war für niemanden einfach.

Heinrich war zwar noch etwas schmächtig im Vergleich zu seinem stämmigen Bruder und dem anderen Streithahn. Dafür hatte er eine ruhige und selbstsichere Art. Mit dieser beeindruckenden Ruhe ging nun Heinrich auf seinen Bruder zu. «He Jakob, beruhige dich. Komm heim, du hast genug intus.»

Der Mockemetzger schimpfte undeutlich vor sich hin, scharrte unentschlossen mit den Füssen und trank aufreizend langsam einen Schluck aus der Flasche. Unvermittelt schleuderte er sie dann in Richtung von Fritz, der schwerfällig auswich. Das Glas zerbarst klirrend an der Hauswand, das restliche Bier rann schäumend die Mauer hinab. Emma sah, wie Anna erschrocken die Strassenseite wechselte. Kurz darauf erreichte sie ebenfalls den Brunnen.

Inzwischen war Heinrich zu Jakob getreten. Er berührte ihn an der Schulter, flüsterte auf ihn ein und gab ihm einen aufmunternden Schubs. Dann gingen beide nach Hause, ohne sich umzuschauen.

Der Lärm hatte Hedi, die Wirtin, vor die Tür getrieben. Nun schimpfte sie mit ihrer rauchigen Stimme wegen der Scherben. Als Fritz zum Brunnen schaute, entdeckte er Anna und Emma. Sein Blick sprühte Funken. Er wandte sich ab und torkelte in die Wirtschaft. Der Fremde zückte sein Portemonnaie und gab Hedi ein Geldstück. Sie schien höchst zufrieden mit dem Batzen. Jedenfalls machte sie ein fast unterwürfig freundliches Gesicht. Sie lud den Mann mit einer Geste ein, ihr in die Wirtschaft zu folgen. Kurz war Lärm von drinnen zu hören, dann schlug die Tür zu. Stille.

10. Ein Automobil

«Weisst du, wer das eben war?», fragte Emma beeindruckt.

«Ja, das ist der Handelsvertreter», sagte Anna beiläufig.

Emma streichelte Annas Arme. «Dein kleiner Bruder ist wirklich ein netter Junge.»

«Ja, ich bin so froh, dass er jetzt ganz zu Hause ist.»

Beide schwiegen einen Augenblick, jede in ihre Gedanken versunken. Emma hatte ein bisschen Mitleid mit Anna. Es war ja wirklich nicht lustig, Jakobs Launen ständig ertragen zu müssen. Ihr machte er jedenfalls Angst.

Anna machte eine Handbewegung, als wollte sie wegwischen, was sie eben erlebt hatten: «Hast du übrigens gesehen? Das da, das gehört Brandenberger.» Beide blickten zum Auto­mobil.

«Oha!», rief Emma und war froh, das Thema wechseln zu können. «Der muss ja ganz schön gute Geschäfte machen. Was verkauft er denn?»

«Stoffe, Kleider, Schuhe, solche Sachen halt. Er hat das Geschäft von seinem Vater übernommen. Du kennst sicher den alten Brandenberger noch, der kam früher zwei-, dreimal im Jahr vorbei», sagte Anna.

«Klar, der Dickwanst in seinen schäbigen Anzügen.»

Beide nickten gedankenverloren.

«Jaja, reich sollte man sein», fügte Emma an, «oder einen gut betuchten Sohn heiraten.»

«Pah! Das sagt gerade die Richtige», stichelte Anna. «Nimm den Fritz, dann hast du ausgesorgt.»

«Iiih, hör ja mit dem auf!», schauderte Emma und zog ihr Wolltuch enger um ihre Schultern. Um das Thema zu wechseln, schlug sie vor: «Komm, wir schauen uns das Ding mal genauer an.»

Der Motorwagen war immer noch von zahlreichen Kindern umringt. Auch rings um den Dorfplatz waren verstohlene Blicke aus Fenstern und Türen auszumachen. Etwas beschämt bestaunten die Frauen nun das Fahrzeug, auf das der schwache Schein einer nahen Gaslaterne fiel. Der Wagen hatte sogar ein Dach, und die Polstersitze sahen richtig bequem aus. Sogar Lampen waren vorne am Wagen angebracht.

«Potztuusig, das ist ja nobel», flüsterte Emma beeindruckt.

«Komm, setzen wir uns doch einfach mal rein», sagte Anna. Sie ging auf den Wagen zu und stieg bereits die erste Stufe hoch.

Emma verwarf erschrocken die Hände und zischte: «Anna, gopfridli, spinnst du?» Am liebsten wäre sie im Boden versunken.

Anna blieb stehen und schaute lachend über die Schulter. «Du bist ein Hasenfuss!» Aber dann stieg sie rückwärts wieder hinunter und stellte sich artig neben Emma.

Alle waren so mit Bewundern beschäftigt, dass sie gar nicht bemerkten, wie ein junger Mann herantrat.

«Guten Abend, die Damen.» Der Mann schenkte Anna und Emma ein charmantes Lächeln und hob höflich seinen Hut. Und an die Kinder gewandt, fuhr er fort: «Na, müsstet ihr nicht langsam ins Bett? Ich wäre jetzt lieber mit diesen beiden jungen Damen hier noch etwas ungestört.» Er lächelte schelmisch. «Hopp hopp, heim mit euch! Ihr könnt zu Hause ausrichten, dass Brandenberger junior am Donnerstag mit schönen und preisgünstigen Stoffen vorbeikommt. Ich habe dieses Jahr sogar Handtaschen für Damen dabei – und ganz neu für die Herren Gummistiefel.»

Die Kinder stoben aufgeregt davon und Brandenberger schaute ihnen zufrieden hinterher. Emma und Anna hatten währenddessen keinen Ton von sich gegeben. Sie musterten Brandenberger verstohlen. Er musste gegen die dreissig gehen, war mittelgross und wirkte kräftig, auch wenn er bestimmt nicht stark körperlich arbeiten musste. Über einem gut sitzenden Anzug trug er einen schwarzen Wollmantel und dazu glänzende Lederschuhe. Unter seinem schicken schwarzen Homburg schauten spitzbübisch dunkelblonde Locken hervor. Seine braunen Augen blitzten verwegen. Emma gefiel seine äusserst männliche römische Nase, fand es aber seltsam, dass er unbeschnauzt daherkam. Emma konnte ihren Blick kaum abwenden.

«Ich bin Simon Brandenberger, Textilienvertreter aus Oberi. Sicher kennen Sie meinen Vater.»

Anna fand die Sprache zuerst wieder. Nach einer Verlegenheitspause fragte sie: «Hat Ihr Vater denn das Geschäft aufgegeben?»

«Er tritt kürzer, auch wegen seiner gesundheitlichen Beschwerden. Seit Anfang Jahr reise ich in der Region Winterthur umher.» Dabei musterte er die beiden Frauen interessiert.

Emma und Anna lächelten unsicher. Emma wurde sich plötzlich bewusst, wie schäbig ihr alter Hut aussehen musste. Wie gerne hätte sie jetzt den modischen Sonntagshut aufgehabt, den sie zum Abschied von Mutter Wartmann geschenkt bekommen hatte.

«Da wird Ihr Vater glücklich sein, dass Sie sein Geschäft weiterführen», sagte Anna höflich.

«Ja das ist er. Und ich bin ebenfalls froh, schliesslich kann ich mich fast ein bisschen in ein gemachtes Nest setzen, wie man so schön sagt.» Brandenberger lachte, und Emma bewunderte hingerissen seine schönen weissen Zähne. Sie ärgerte sich, dass sie bis jetzt kein Wort herausgebracht hatte. Dabei sah der junge Hausierer sie immer wieder erwartungsvoll an. Sie nahm allen Mut zusammen und fragte: «Was ist das für ein bäumiger Wagen?»

Als ob Brandenberger nur auf diese Frage gewartet hätte, erklärte er wortreich, dass es sich bei diesem Wagen um einen Martini 16 handle und welche Vorzüge dieses Automobil habe. Emma hatte ihre liebe Mühe, seinen Worten zu folgen, sie war immer noch ganz hingerissen von seinem attraktiven Äusseren und seiner angenehm tiefen, weichen Stimme. Plötzlich registrierte sie, dass Brandenberger aufgehört hatte zu sprechen und sie fragend anschaute.

«Ähh …», stammelte Emma und lächelte verlegen, Röte überzog ihr Gesicht.

Anna sprang ein: «Ich bin Anna Müller, ich wohne gleich unterhalb der Wirtschaft. Und das ist meine Freundin Emma Bachmann. Sie arbeitet im Pfarrhaus.»

Emma schaute zu Boden und hoffte, dass man ihr ihre plötzliche Hitze nicht ansah. Dabei glühten ihre Wangen, das spürte sie deutlich.

«Sehr erfreut, meine Damen. Ich hoffe, ich sehe Sie auch am Donnerstag.» Dabei schaute er Emma unverwandt an.

Emma stammelte etwas von «mal sehen» und Anna versicherte, dass sie sehr gerne käme. Über das dazu nötige Geld machten sie sich in diesem Moment keine Gedanken.

Es begann zu schneien, kleine feine Flöckchen schwebten vom dunklen Himmel herab, der Mond beleuchtete kurz den Dorfplatz und wurde dann rasch wieder von den Schneewolken verschluckt.

Brandenberger schickte sich an zu gehen. Er verabschiedete sich mit einer galanten Verbeugung und lüftete kurz seinen Hut. Dann ging er zu seinem Wagen, entnahm einer Klappe in dessen vorderem Bereich eine Kurbel und warf gekonnt den Motor an. Ein lautes Brummen durchschnitt die abendliche Stille, die Lichter an der Kühlerhaube gingen an und ihre Kegel leuchteten über den Platz bis zur Kreuzstrasse. Brandenberger zog sich feine lederne Handschuhe über und stieg ein. Die beiden Frauen traten vorsichtshalber ein paar Schritte zurück. Brandenberger winkte, und weg war er, Richtung Rickenbach, hinter einer Wolke von aufgewirbeltem Schnee.

Emma und Anna schauten dem Wunder sprachlos hinterher. Die Kirchturmuhr schlug neun. Die Flocken fielen jetzt dichter und wurden von einem leichten Wind herumgewirbelt.

«Ich muss heim», sagte Emma in die Verlegenheit und hoffte, dass Anna ihren inneren Aufruhr nicht bemerkte. «Was machst du morgen?»

«Vermutlich habe ich den ganzen Tag mit der Wäsche zu tun, kommt auf das Wetter an. Vielleicht können wir uns am Abend treffen.» Anna wollte sich schon auf den Heimweg machen, als sie sich nochmals umdrehte: «Übrigens: Weisst du, was die Erni heute zu meiner Mutter gesagt hat?»

«Nein, keine Ahnung. Was sollte sie schon sagen? Vermutlich hat sie sich fürs Hüten bedankt», rätselte Emma.

«Schön wär’s! Sie behauptete doch allen Ernstes, ich hätte Trudeli einen giftigen Trank verabreicht und deshalb hätte die Kleine am Abend erbrochen …» Anna schüttelte den Kopf. «Stell dir das mal vor!»

«Allerhand!» Emma wusste gar nicht, was sie dazu sagen sollte.

«Jedenfalls, man weiss ja, die Frau ist nicht ganz bei Trost. Das ist der Beweis. Also, wir sehen uns vielleicht morgen.»

Die Kinder waren von der Strasse verschwunden. Auch sonst war niemand mehr zu sehen. Als Brandenberger mit seinem Automobil davongefahren war, war so manche Haustür und manches Fenster verstohlen geschlossen worden. Emma wurde plötzlich bange. Der Mond war im Schneetreiben nicht mehr auszumachen. Sie hätte jetzt doch ganz gerne eine Laterne dabeigehabt.

Als sie in den Kirchrain einbog, traf sie unvermittelt auf Fritz, der, scheinbar lässig an einen Apfelbaum gelehnt, auf sie zu warten schien. Sein Hut hatte bereits eine dünne Schneeschicht angesetzt. Emma hatte gar nicht bemerkt, dass er aus der Wirtschaft gekommen war. Er musste ja irgendwann an ihnen vorbeigegangen sein.

«Na, Jungfer Bachmann? Wie geht’s, wie steht’s?», fragte er. Während er sich schwerfällig vom Baum abstiess und näher kam, nahm er einen Schluck aus seinem Flachmann, den er gleich wieder in die Brusttasche seines Kittels rutschen liess. Seine Bewegungen waren unsicher und sein Blick aggressiv. Er war ein kleiner stämmiger Mann mit dunklen Haaren und eng zusammenliegenden Augen. Ein Schneidezahn fehlte. Seine riesige Nase erinnerte an einen Raubvogel. Fritz warb eine Zeit lang um Emma. Seit sie ihm zu verstehen gegeben hatte, dass sie nicht an ihm interessiert war, wurde er zunehmend aufdringlicher.

«He Fritz. Lass mich in Ruhe, ich muss nach Hause», sagte Emma und hoffte, dass ihre Stimme nicht allzu sehr zitterte.

«Aha, Jungfer Bachmann muss nach Hause», spottete Fritz, dessen Atemwolke nach Schnaps stank. «Wartet etwa schon der Brandenberger in deinem Bett?» Er schaute Emma wollüstig an. «Oder ist er schon bei der Jungfer Müllerin?»

«Lass mich in Frieden.» Emma versuchte, an Fritz vorbeizukommen.

Doch Fritz war kräftig und unberechenbar in seinem Rausch. Er kam provozierend näher. Emma spürte die drohende Gewalt und bekam Angst.

«Komm, schöne Hexe, komm», säuselte Fritz und nahm wieder einen Schluck aus seiner Taschenflasche.

«Emma! Bist du das?», tönte es laut durch die Winternacht.

Gottlob, der Pfarrer. «Ja, Herr Pfarrer!», rief Emma.

Fritz gab den Weg sofort frei und verschwand in der Dunkelheit. Emma raffte ihre Röcke zusammen und lief, so rasch es bei dem Schnee eben ging, nach Hause. Pfarrer Wartmann stand Tabakpfeife rauchend auf der Pfarrhaustreppe. Unversehens kam Tigi aus der Dunkelheit geschossen, überholte Emma und rannte erhobenen Schwanzes die Stufen zur Haustür hoch.

«So so so … Ist alles in Ordnung?», fragte der Pfarrer leichthin und zog an seiner Pfeife.

«Ja, alles in Ordnung», keuchte Emma und blieb unterdrückt keuchend stehen.

«Was war da los?» Der Pfarrer nestelte an seinem Tabaksbeutel herum.

«Fritz hat mich wieder mal aufgehalten.»

«Was wollte er?»

«Er war wohl einfach betrunken …», wehrte Emma ab.

«So so so …» Der Pfarrer stopfte seine Pfeife neu. «Vielleicht sollte ich bei Gelegenheit mal mit seinem Vater ein Wörtchen reden.»

Fritz war der Sohn von Dölf Beerli, seines Zeichens Regierungsrat mit einiger Macht und noch mehr Einfluss. Die Mutter war eine fromme, biedere Hausfrau, die sich schon duckte, wenn ihr Ehemann oder ihr Sohn nur das Wort ergriffen. Die Beerlis hatten Geld, seit sie vor ein paar Jahren ihr Landwirtschaftsland an die Maggi-Fabrik in Kemptthal verkauft hatten. Seither war Vater Beerli in der Politik aktiv. Die älteren Geschwister von Fritz waren längst aus dem Haus. Nur Fritz lebte immer noch oder immer wieder zu Hause. Er war ein Taugenichts von Kindsbeinen an und hatte das Heu mit niemandem auf der gleichen Bühne. Ein Sorgenkind eben. Eine Ausbildung konnte er nicht machen, weil kein Lehrmeister ihn nehmen wollte. Als der Vater dann ein grosszügiges Lehrgeld in Aussicht stellte, nahm der Schmied von Altikon das Söhnchen in die Lehre. Die Sache ging aber nicht lange gut. Trotz aller väterlichen Unterstützung wurde Fritz zum Teufel gejagt. Was vorgefallen war, wusste man im Dorf nicht genau. Fritz schlug sich seither immer mal wieder für ein paar Wochen mit Gelegenheitsarbeiten durch, im Sommer zum Beispiel mit Arbeiten bei diesem und jenem Bauern. Im letzten Winter hatte er bei Maggi angeheuert, lange blieb er aber auch da nicht. Früher oder später fiel er immer wieder in den Schoss der Familie zurück. Der Vater hörte verständlicherweise nicht auf zu hoffen, dass sein Jüngster doch noch eine Frau finden und eine Familie gründen würde. Auch wenn er sich eigentlich ein Mädchen aus gutem Hause für seinen Sohn gewünscht hätte, so schaute Herr Beerli doch halbwegs wohlwollend zu, als Fritz Emma den Hof machte. Im Prinzip hätte diese einfache Dienstmagd ja dankbar sein müssen, einen Verehrer wie seinen Sohn zu haben, war Vater Beerli überzeugt. Als Fritz’ Bemühungen um Emma ins Leere liefen, teilten sich Vater und Sohn das Gefühl der Schmach über diese Abfuhr und beide entwickelten eine gehörige Wut auf dieses «eingebildete Weib».

«Vielen Dank, Herr Pfarrer», sagte Emma höflich und betrat das Haus. Frau Wartmann kam mit einer Lampe in der Hand aus der Stube. «Was höre ich da?», fragte sie forsch.

«Es ist nichts passiert, Frau Pfarrer. Fritz war nur betrunken.»

«Um diese Zeit gehört ein anständiges Mädchen sowieso nicht mehr allein auf die Strasse», schimpfte Frau Wartmann. «Über deine abendlichen Ausgänge müssen wir bei Gelegenheit noch reden.» Dabei suchte sie den Blick ihres Ehemannes, der soeben wieder ins Haus trat.

Emma war inzwischen den Tränen nahe.

«Du bist ja ganz verstört», sagte Frau Wartmann nun etwas freundlicher. «Komm, ich begleite dich noch bis zur Hintertür. Sicher musst du noch rasch auf den Abort.»

Später im Bett dachte Emma über den Abend nach. Ihr war klar, dass sie heute ziemliches Glück gehabt hatte. Sie wagte nicht daran zu denken, was noch alles hätte passieren können. Jesses Gott! Und da war ja auch noch Simon Brandenberger. Und der Herr Pfarrer … Ihre Gefühle waren heute gehörig durcheinandergeraten.

Der letzte Gedanke gehörte Simon Brandenberger und seinen Lippen mit dem fein geschwungenen Amorbogen. Dann fiel Emma in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

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