Kitabı oku: «Mörderhölzli», sayfa 4
Donnerstag, 22. Februar 1906
11. Modenschau
Der Morgen war von einem lichten Blau, die Sonne liess von einem wolkenlosen Himmel die winterliche Landschaft blendend glitzern. Emma war mit Abstauben in der Wohnstube beschäftigt. Ab und zu schaute sie zum Fenster hinaus und freute sich über das gleissende Licht. Altikon war häufig in Nebel gehüllt, Tage wie diesen musste man schätzen.
Im Laufe des Vormittags rief ein Bote aus, dass am Nachmittag der Stoffhändler Brandenberger beim Schulhaus haltmachen werde. Emmas Herz hüpfte. Endlich würde sie ihn wiedersehen. Wie oft hatte sie an ihn gedacht!
Als Frau Wartmann den Kopf zur Tür hereinstreckte, nahm Emma allen Mut zusammen und fragte: «Haben Sie gehört, Frau Pfarrer? Herr Brandenberger kommt am Nachmittag mit seinen Waren.» Emma hoffte, dass ihre Bemerkung unverfänglich klang.
«Warum fragst du? Hast du etwa frei heute Nachmittag?» Frau Pfarrer zog ihre Augenbrauen hoch, der unvermeidliche Rosenölduft kam Emma falsch in die Nase.
«Äh, nein, natürlich nicht …» Emmas Wangen wurden augenblicklich von Röte überflutet. «Bitte, lieber Gott, lass mich Simon treffen!»
«Hast du denn überhaupt Geld?», fragte Frau Wartmann verächtlich.
«Ja, Frau Pfarrer, ich habe einen kleinen Batzen gespart.» Emma musste sich zusammennehmen, damit ihre Stimme nicht weinerlich klang.
«Ich werde auf alle Fälle hingehen. Ich könnte nämlich gut ein richtiges Umstandskleid gebrauchen …»
Emma brach verzweifelter Schweiss aus. Ihr Herz verzehrte sich noch mehr nach dem jungen Vertreter, allein schon deshalb, weil sie ihn vielleicht gar nicht sehen durfte.
«Andererseits könntest du dir wirklich mal ein anständiges Kleid kaufen oder auch einen rechten Mantel.» Frau Wartmann verzog angewidert ihre schmalen Lippen. «Nicht dass die Leute noch denken, wir würden dich schlecht bezahlen.» Dann durchstreifte sie gemächlich die Stube und fuhr mit den Fingern über die Oberfläche der Möbel. «Emma, hier muss es glänzen!», kritisierte sie. Eine Ewigkeit schien zu vergehen.
«Aber ich will mal nicht so sein», sagte Frau Wartmann selbstgefällig. «Obwohl: Verdient hast du es nicht, dass das klar ist. Einzig weil ich so grosszügig bin, werde ich dir eine Stunde freigeben. Aber», und dabei hob sie den rechten Zeigefinger, «nach dem Mittagessen wirst du noch den Abort putzen, und zwar gründlich, der stinkt nämlich wie ein Schweinestall. Das sollte ich eigentlich gar nicht extra sagen müssen. Vorher gehst du nicht!»
«Vielen Dank, Frau Pfarrer, das ist sehr nett von Ihnen», hauchte Emma.
Sie hasste das Reinigen des Abortes. Aber sie würde Simon wiedersehen, das war das Einzige, was zählte.
Frau Wartmann verliess die gute Stube und Emma versuchte, ihre freudige Erregung im Zaum zu halten. Sie arbeitete nicht mehr viel an diesem Vormittag.
Nach dem Mittagessen legte sich Frau Pfarrer noch ein Weilchen hin, dann verliess sie aufgeräumt das Haus. Der Pfarrer arbeitete im Studierzimmer und Emma machte sich ans Putzen. Wenigstens war der Gestank im Winter erträglich. Von wegen Schweinestall! Diese Schnepfe war einfach überempfindlich, das war alles. Die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Simon machte die Arbeit dann fast zum Vergnügen.
Als sie fertig war, ging sie auf ihr Zimmer und machte sich sorgfältig zurecht. Gerne hätte sie ihr Haar offen getragen, aber das ging natürlich nicht. So wusch sie sich das Gesicht, kämmte sich und flocht die Zöpfe frisch. Dann holte sie den Sonntagshut und ihre Sonntagsstola. Vielleicht kam ja Anna auch.
Es war nicht mehr so kalt, die Sonne zeigte sich ab und zu am winterlichen Himmel und es roch nach Tauwetter. Schon von Weitem sah Emma das Automobil mit einem Anhänger vor dem Schulhaus parkiert stehen. Darum herum drängten sich zahlreiche Frauen zum Eingang. Emmas Herz klopfte: Was, wenn er sie nicht wieder erkannte? Oder wenn sie ihn etwa gar nicht zu Gesicht bekäme?
Emma drängte sich durch eine Schar Kinder. Sie ging die paar Stufen zum Haupteingang hinauf und betrat das Schulhaus. Im Singsaal lagen schön präsentiert auf zusammengestellten Tischen Hüte für Damen und Herren, Schuhe und Stiefel, Handtaschen, Stoffballen und Nähutensilien. An einer Reihe von Ständern hingen Damenkleider und Anzüge. Emma blieb in der Nähe des Eingangs stehen und schaute sich verlegen um.
Da war er. Simon. Hinter einem Kleiderständer unterhielt er sich mit einer Frau. Musste das sein? Die Frau war jung und schön und trug ein smaragdgrünes Seidenkleid mit Spitzenkragen und schicke Schnürstiefel mit Absätzen. Ihr braunes Haar war hochgesteckt. Emma stand wie angewurzelt da, starrte auf Simon und die schöne Frau und wäre am liebsten gleich wieder gegangen. Doch da wandte sich die Frau ab und kam auf die Tür zu. Als sie an Emma vorbeiging, grüsste sie höflich. Simon hatte Emma ebenfalls entdeckt und kam lächelnd auf sie zu. «Guten Tag, Fräulein Bachmann.» Emma wäre fast in Ohnmacht gefallen. Er wusste sogar noch ihren Namen! «Schön, dass Sie kommen konnten. Darf ich Ihnen etwas zeigen?»
Emmas Wangen waren schon wieder flammend rot vor Erregung. Nun war sie doch nicht vorbereitet und völlig überrumpelt. «Äh, ich schaue mich gerne ein bisschen um.»
«Gerne. Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie mich bitte einfach.» Simon lächelte Emma freundlich an. Er trat einen Schritt zurück, zögerte und wandte sich dann ab.
Emma ging scheinbar interessiert zu den Tischen und Ständern. Sie ärgerte sich, dass sie das Gespräch mit dem Vertreter abgebrochen hatte und wünschte sich sehnlichst, seine Aufmerksamkeit wieder zu gewinnen.
Die unbekannte Frau kam in den Verkaufsraum zurück und ging mit einem kleinen Paket in der Hand auf Brandenberger zu. Emma zog sich etwas hinter einen Kleiderständer zurück. Die Frau sprach auf Brandenberger ein. Dieser hörte ihr offensichtlich interessiert zu, sein Blick ruhte aufmerksam auf ihrem Gesicht. Die beiden schienen sehr vertraut miteinander. «So sollte ein Ehemann seiner Frau zuhören», dachte Emma sehnsüchtig und der Gedanken versetzte ihr einen Stich.
In dem Moment sah sie Anna den Raum betreten und registrierte erstaunt, dass diese ihr Haar offen trug. Emma wollte sich schon bemerkbar machen, als Anna schnurstracks auf Brandenberger und die fremde Frau zuging. Brandenberger lächelte Anna erfreut an und begrüsste sie mit der galanten Verbeugung, die er bereits bei der ersten Begegnung hingelegt hatte. Hatte sich Simon vor ihr ebenfalls verbeugt?, fragte sich Emma irritiert. Anna nahm den Vertreter im Handumdrehen in Beschlag. Sie plauderte sichtlich angeregt mit ihm, und wenn sie lachte, warf sie ihren Kopf ein bisschen in den Nacken, sodass ihr blondes Haar anmutig um ihre Schultern floss. Und Simon Brandenberger schien nur noch Augen für Anna zu haben. Obwohl Emma Tränen in die Augen traten, konnte sie ihren Blick dennoch kaum abwenden. Anna benahm sich so damenhaft, so … verführerisch. Jetzt fiel ihr sogar noch das Taschentuch zu Boden. Brandenberger bückte sich rasch und gab es ihr galant zurück. Anna bedankte sich überschwänglich, berührte Brandenberger dabei sogar kurz am Arm und schaute ihm tief in die Augen. Die unbekannte Frau schien von allem nichts mitbekommen zu haben; sie hatte sich inzwischen im hinteren Teil des Raumes an eine Nähmaschine gesetzt, um etwas für eine Kundin zu ändern.
Frau Pfarrer trat mit ein paar Kleidern über dem Arm zu Emma: «So, Emma, hast du schon etwas gefunden?»
«Nein, leider nicht.» Emma blinzelte ihre Tränen weg. Sie hoffte, dass Frau Wartmann sie nicht bemerkte.
«Na dann … Denk dran, eine Stunde und nicht mehr.» Frau Wartmann wandte sich ab.
Hastig verliess Emma den Singsaal. Das Geschwätz der vielen Frauen, die Wärme und die Präsenz von Anna wurden ihr auf einmal zu viel. Vor der Tür standen weitere Kundinnen, manche mit Paketen und Schachteln. Kinder spielten lärmend mit dem nassen Schnee, der sich so wunderbar zu Schneebällen formen liess. Emma bahnte sich einen Weg und ging vorsichtig die Treppe hinunter, als ein Schneeball sie direkt ins Gesicht traf. «Hexe, Hexe, Hexe», hörte Emma irgendwo singen.
Es kam immer wieder mal vor, dass Emma Hexe geschimpft wurde, aber meist kümmerte sie sich nicht um solcherlei Beleidigungen. Und eigentlich, ja, eigentlich hatten die Leute ja gar nicht so Unrecht. Emma spürte mehr, als mit blossem Auge zu sehen war. Wie oft hatte sie Träume oder auch Visionen, die später tatsächlich wahr wurden. Diese Dinge machten ihr aber auch Angst. Wie sie mit dieser seltsamen Gabe umgehen sollte, wusste sie immer noch nicht so recht. Als Kind dachte sie, alle Menschen könnten Dinge sehen, die noch nicht passiert waren. Erst als Jugendliche wurde ihr klar, dass die anderen kaum ahnten, wovon sie sprach. Also sprach sie fortan nicht mehr darüber.
Angesichts des Angriffs mit dem Schneeball schossen ihr nun aber die Tränen hemmungslos in die Augen. Sie wischte sich mit dem Ärmel ihres alten Mantels über das nasse Gesicht. Dann straffte sie ihre Schultern, raffte die Röcke zusammen und ging so aufrecht wie möglich davon. Als sie die Rickenbacherstrasse überqueren wollte, musste sie wegen eines Fuhrwerkes kurz warten. Und jetzt, wie war das möglich, stand Simon unmittelbar neben ihr. «Fräulein Bachmann. Sie gehen schon?», fragte er unsicher.
«Ja.» Emma schniefte und hoffte, dass ihre Tränen nicht zu sehen waren. «Ich habe nichts gefunden.» Sie versuchte, ihrer Stimme Kraft zu verleihen.
«Das ist jetzt aber schade», sagte Brandenberger zögernd.
Emma schaute sich um. Wo war Anna?
«Darf ich Sie vielleicht einmal zu einem Glas Süssmost einladen?» Brandenberger schaute sie auffordernd an. Sein Augenzwinkern kam ihr jetzt schäbig vor.
«Laden Sie doch Anna ein!» Emma wandte sich brüsk ab. Dann ging sie über die Strasse.
«Emma!» Brandenbergers Ruf verhallte in der klaren Winterluft. Emma drehte sich nicht mehr um. Als sie kurz darauf durch die Tür des Pfarrhauses trat, wischte sie sich mit der Schürze die Tränen ab und machte sich wieder an ihre Arbeit. Sie sollte Simon Brandenberger vergessen. Und Anna konnte ihr auch gestohlen bleiben, dieses unverschämte Weibsbild! Sich so in den Mittelpunkt zu spielen. Pfui! Emma war nicht entgangen, dass Brandenberger sie bei ihrem Vornamen genannt hatte. Das hatte gerade noch gefehlt.
12. Schlachtplatte
Der Winter liess sich Zeit und wich der helleren Jahreszeit nur langsam. Der schmelzende Schnee brachte erst spät nasse, dunkle Erde und fahlgrüne Wiesen zum Vorschein. Emma ging ihrer Arbeit mit Eifer nach, Frau Pfarrer wunderte sich schon darüber. Anna kam regelmässig vorbei, um Milch und Butter zu bringen. Sie versuchte mehrmals, Emma wieder einmal zu einem Treffen zu bewegen. Vergeblich.
Mitte März, an einem endlich etwas laueren Samstagabend, klopfte es. Anna stand vor der Tür. «Wir haben uns lange nicht mehr gesehen … Kommst du noch etwas nach draussen?», fragte sie und schaute Emma auffordernd an.
«Warum sollte ich?» Emmas Wut und Enttäuschung über Annas schamloses Verhalten kamen wieder hoch.
«Ich weiss nicht, wieso du mich seit ein paar Wochen schneidest.»
Emma schwieg.
«Was habe ich dir getan?», fragte Anna.
Emmas Gedanken überschlugen sich. Einerseits war sie böse auf Anna, andererseits hatte sie sich in der Stille des Pfarrhauses einsam gefühlt ohne ihre Freundin. Ohne Ausgang machte sich Langeweile breit. Emma wusste nicht, was sie sagen sollte.
«Ich hole mir rasch Mantel und Hut.»
Damit liess sie Anna stehen und schloss die Tür. Sollte sie einfach nicht mehr aufmachen? Ihre Arbeit war für heute erledigt, sie hätte den Abend sowieso nur allein in ihrer Kammer verbracht. Sie gab sich einen Ruck, kleidete sich an und klopfte an die Stubentür, um sich bei Frau Wartmann abzumelden. Diese schaute heute ziemlich zufrieden und freundlich drein. Sie wünschte Emma sogar noch einen schönen Abend.
«Ich dachte schon, du kommst nicht mehr», sagte Anna vorwurfsvoll. «Komm, wir gehen ein Stück.»
Die beiden Frauen gingen schweigend den Kirchrain entlang. Als sie am Haus des Regierungsrates vorbeischlenderten, ging im ersten Stock ein Fenster auf. «Aha, die Jungfern Müller und Bachmann», tönte es in die abendliche Stille. «Lange nicht gesehen, Emma.»
Anna hakte sich rasch bei Emma unter. «Komm, wir beachten den einfach nicht.» Ohne sich nach Fritz umzuschauen, gingen sie mit zusammengesteckten Köpfen rasch weiter.
Sobald sie ausser Sichtweite waren, atmete Emma auf. «Dieser Lump! Er macht mir wirklich das Leben schwer.»
«Ach, der ist doch harmlos», meinte Anna leichthin, «ein erbärmlicher Taugenichts, das ist alles.»
«Da bin ich mir nicht so sicher», murmelte Emma und löste sich von Anna. Dann schwiegen die beiden wieder und schlenderten weiter in Richtung Dorfmitte.
«Warum hast du dich so lange nicht blicken lassen?», fragte Anna direkt.
Emma wich aus: «Es ging mir nicht so gut.»
«Warst du krank?»
«Nicht direkt.»
Anna schaute ihre Freundin verwirrt an, traute sich aber nicht, sie weiter auszufragen. Wenn sie nicht darüber reden wollte, bitteschön.
Schon von Weitem war zu sehen, dass in der Kreuzstrasse etwas los war. Das Haus war hell erleuchtet, davor standen zwei Velos und mehrere Pferdefuhrwerke. Ein paar Buben kümmerten sich um die Versorgung der Pferde. Sie holten mit Eimern Wasser vom nahen Dorfbrunnen und tränkten die Tiere. Auf dem Dorfplatz schräg gegenüber stand ein Automobil. Emmas Herz machte unwillkürlich einen Satz.
«In der Kreuzstrasse haben sie heute und morgen Metzgete. Wollen wir auch reingehen?», fragte Anna.
«Metzgete? Jetzt im Frühling?», rief Emma überrascht. «Ich habe kein Geld dabei.»
Je näher sie der Wirtschaft kamen, desto deutlicher war Betrieb zu hören. Laute Stimmen und Gelächter drangen nach draussen in den lauen Abend.
«Geld brauchen wir heute nicht», sagte Anna triumphierend. «Ich habe letzte Woche dreimal hinter dem Buffet ausgeholfen, deshalb bin ich nun zum Essen eingeladen. Zu zweit, hat Hedi gesagt.» Anna lachte Emma an. «Na? Darf ich Sie also höflich zum Essen einladen, Fräulein Bachmann?»
«Aber ich habe doch schon gegessen …» Emma war überrumpelt. Andererseits, was, wenn das Automobil Brandenberger gehörte? Ob sie überhaupt in eine Wirtschaft gehen durfte? Wenn das Frau Pfarrer erfuhr! «Ach was, ich bin erwachsen, die hat mir gar nichts zu sagen», dachte Emma in einem Anflug von Selbstbewusstsein.
«Gut», sagte Emma mutig und wischte ihre Ängste beiseite: «Lass uns reingehen.»
«Prima!», jubelte Anna. «Auf in den Kampf.» Und beide kicherten aufgeregt.
Anna ging voraus. Als sie in die Gaststube traten, schlug ihnen dicke warme Luft entgegen. Der Geruch von Stumpenrauch, Schweiss und allerlei Würsten und Fleisch verschlug Emma für einen Moment fast den Atem. Alle Augen richteten sich auf die beiden jungen Frauen. Die Wirtin begrüsste sie freundlich und sagte: «Sucht euch einfach ein freies Plätzchen.»
Anna nahm Emma bei der Hand und zog sie hinter sich her. Emma sah viele bekannte Gesichter, sie nickte grüssend um sich. Neben Röbi und seinem Vater waren noch freie Plätze. Röbi winkte aufgeregt und hüpfte fast von seinem Stuhl, bis er sicher sein konnte, dass Emma sich neben ihn setzte. Dann schmiegte er sich glücklich an sie. Anna nahm gegenüber Platz. Neben ihr sassen Burkhard und Martha Erni, die Nachbarn von Anna. Frau Erni war augenscheinlich wieder in anderen Umständen. Sie grüsste nicht, starrte Anna und Emma nur an und murmelte unentwegt etwas vor sich hin. Dafür strahlte der Ehemann wie ein Maikäfer über die junge weibliche Gesellschaft. Emma lief es kalt den Rücken hinunter ob seines lüsternen Blickes. Aber Anna schien das entweder gar nicht zu bemerken oder es kümmerte sie nicht.
Hedi trat hinzu und fragte nach ihren Wünschen. Als sie wieder weg war, beugte sich Anna über den Tisch: «Hast du gesehen? Der alte Beerli. Dahinten.» Dabei wies sie mit ihrem Blick unauffällig über die rechte Schulter.
Emma schielte zu Beerli senior. Er schien sie seit Längerem im Auge zu haben, aber er blinzelte nicht einmal, als sich ihre Blicke trafen. Rasch wandte sie sich wieder Anna zu und flüsterte: «Aber Fritz ist zu Hause. Hoffentlich bleibt er dort.»
«Hoffen wir es», raunte Anna.
Röbi schmiegte sich immer noch selig an Emma, die Augen hatte er geschlossen und summte leise vor sich hin. «Röbi, lass doch die arme Emma in Ruhe», mahnte sein Vater. Aber Röbi kuschelte sich nur noch näher an Emma.
«Ist schon in Ordnung, Herr Vetterli», beschwichtigte Emma, «er ist doch mein Freund. Gäll, Röbeli.» Dabei tätschelte sie Röbis Arm. Die vielen Leute, die aufgeheizte Stimmung und der Geräuschpegel machten Emma zunehmend lockerer.
In der Nähe des Eingangs ging es besonders laut zu und her. Emma schaute sich um. Es waren alles junge Männer, die grölten und johlten. Sie hatten Bierflaschen und sauren Most vor sich stehen. Vier davon, unter anderem Annas Bruder Heiri, versuchten, sich auf einen Jass zu konzentrieren. Der Mockemetzger sass am unteren Ende des Tisches und starrte finster vor sich hin. Sein Gegenüber schäkerte gerade mit der jungen Serviertochter. Sämi Erni sass ebenfalls da. Er versuchte, mit Bierdeckeln ein kunstvolles Haus zu bauen. Gegenüber von Sämi sass Ehrsam. Als der sich erhob, brachte er das labile Kunstwerk zum Einsturz. Emma musste heimlich lachen. Sämi regte sich offensichtlich gekünstelt auf. Sein Blick schweifte nun durch die Gaststube, und als er Emma sah, zwinkerte er ihr lustig zu. Emma staunte zum wiederholten Male über seine bemerkenswert blauen Augen.
Da stand auf einmal Simon Brandenberger an ihrem Tisch. Annas Haltung straffte sich augenblicklich, und sie begann wie auf Knopfdruck strahlend zu lächeln. Emma fühlte sich überrumpelt. Sie hatte Brandenberger vorher gar nicht gesehen. Sie merkte, wie ihr Kopf heiss wurde.
«Guten Abend, die Damen», sagte Brandenberger, «schön, Sie wiederzusehen.»
«Guten Abend.» Mehr brachte Emma nicht heraus. Sie schaute den Ankömmling nur sprachlos an, in ihr tobten widersprüchliche Gefühle.
Brandenberger schaute überrascht zu Röbi, der so unanständig nah neben Emma sass. Dieser rutschte rasch ein Stück von Emma weg und setzte sich aufrecht hin.
«Guten Abend Simon», flötete Anna und zog die Aufmerksamkeit des Mannes wieder auf sich. «Welch schöne Überraschung!»
Emma war bestürzt über diese Vertraulichkeit. Vermutlich kannten sich Anna und dieser Simon näher, als sie gedacht hatte. Dennoch ruhten ihre Blicke unverwandt auf ihm. «Was für ein schöner Mann!», dachte sie hingerissen.
«Ich sehe, Sie wollten gerade essen», sagte Brandenberger höflich. «Lassen Sie sich nicht stören.» Bevor er sich zurückzog, fragte er: «Darf ich mich vielleicht nach dem Essen zu Ihnen setzen?»
«Natürlich. Sehr gerne», antwortete Anna etwas zu überschwänglich und gab Emma unter dem Tisch einen Tritt, der diese aus ihrer Erstarrung befreite. Emma zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und putzte sich verlegen die Nase. Am liebsten wäre sie nach Hause gegangen. Oder hätte sich sofort zu Brandenberger an den Tisch gesetzt. «Entweder-oder», dachte sie und war selbst überrascht über ihre kühnen Gedanken.
«Sollen wir ein Gläschen Wein trinken?» Anna lachte Emma verschwörerisch an.
«Ja, ist denn der Wein auch inbegriffen?» Emma versuchte, ihr Gefühlschaos unter Kontrolle zu halten.
«Klar», lachte Anna. Zur Serviertochter gewandt, rief sie übermütig: «Bitte einen halben Liter Roten.»
Da kam bereits ihre Schlachtplatte, üppig gefüllt mit fettigen Blut- und Leberwürsten, Siedfleisch, Sauerkraut und Kartoffeln. Die Platte dampfte und die beiden Frauen assen mit grosser Lust. Emma staunte, wie viel Appetit sie unter den gegebenen Umständen plötzlich entwickelte. Sie genoss den Wein, obwohl sie sonst kaum Alkohol trank. Sie konnte sich sonst ja auch keine Wirtshausbesuche leisten. Aber heute Abend schien ihr der Wein süss wie Himbeersirup. Er machte sie so wunderbar leicht und träge zugleich. Sie vergass ihre Sorgen und kicherte und lachte unbeschwert mit Anna und Röbi.
Emma bemerkte, dass Brandenberger immer wieder zu ihnen, oder besser gesagt, zu ihr herüberschaute. In seinen Augen glaubte Emma Begehren zu sehen und seine Blicke brannten auf ihrer Haut. Sie fühlte sich weiblicher und anziehender als je zuvor.
Ein Handörgeler, ein Mann mit Klarinette und einer mit Zupfbass hatten sich inzwischen im Säli eingerichtet und spielten nun zum Tanz auf. Heitere Ländlermusik übertönte das Stimmengewirr und Geschirrgeklapper. Langsam erhob sich ein ums andere Paar zum Tanzen. Emma verfolgte fasziniert und gleichzeitig verlegen das fröhliche Treiben.
«Wenn das Frau Pfarrer sähe», sagte Emma und begann zu kichern.
«Jesses Gott!», lachte auch Anna.
«Dann kommen wir halt nicht in den Himmel», gluckste Emma und verschluckte sich fast.
«So ist es recht, Emma!», lobte Anna. Ihre Stimme tönte wie die einer Lehrerin, deren schwächster Schüler endlich das Einmaleins begriffen hatte.
Die beiden Freundinnen lachten und lachten und hörten erst auf, als Röbi Emma ungeduldig am Ärmel zupfte.
«Emma, tanzen wir?», fragte er und strahlte sie an.
«Oh! Also Röbi, weisst du … das macht sich vermutlich nicht so gut», wehrte Emma ab.
«Bitte, bitte, bitte», sang Röbi und klatschte in die Hände.
Anna mischte sich ein: «Komm, Emma, mach ihm doch die Freude.»
«Aber dein Holzbein …», wollte Emma noch insistieren und schaute fragend zu Röbis Vater und den Ernis. Röbis Vater war in ein Gespräch vertieft. Herrn Ernis Blick konnte sie nicht recht deuten, irgendwie liess er Anna und Emma nicht aus den Augen. Frau Erni hielt ein Taschentuch vor den Mund gedrückt, ihr Blick ging ins Leere. Röbi müdete und bettelte, und plötzlich keimte Emmas Übermut wieder auf. «Also, komm Röbi, denen zeigen wir, wie man tanzt!»
Lachend stand sie auf. Für einen Augenblick musste sie sich am Stuhl festhalten, weil ihre Knie wegen des ungewohnten Weinkonsums plötzlich nachgaben. Rasch hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Röbi bot ihr wichtig seinen Arm, den sie nun dankbar ergriff. Sie mussten an Brandenbergers Tisch vorbei zur Tanzfläche, aber Emma mied den Blickkontakt und tat so, als ob sie Röbi etwas ins Ohr flüstern würde. Dann liess sie sich doch etwas verlegen von Röbi in den Arm nehmen. Offenbar hatte ihm jemand einmal die Tanzhaltung gezeigt. Emma versuchte, sich im Takt der Musik zu bewegen. Aber Röbi hüpfte, ohne auf die Musik zu achten, wild über das glänzende Parkett. Das Holzbein machte seine Bewegungen steif, sodass Emma befürchtete, sie könnten hinfallen. Von echtem Tanz war natürlich keine Rede, aber Röbi freute sich dennoch so unbändig, dass Emma nicht anders konnte, als ihr mit Füssen getretenes Taktgefühl und ihre Scham zu überwinden und einfach noch zu versuchen, Zusammenstösse zu verhindern.
Nach zwei solchen Tänzen befreite sich Emma. «So, Röbi. Komm, wir gehen wieder an unseren Platz.»
Röbi war so ausser Atem, dass er sich gefügig aus dem Säli führen liess.
Brandenberger hatte sich in der Zwischenzeit an ihren Tisch gesetzt und war scheinbar in ein angeregtes Gespräch mit Anna vertieft. Als Emma hinzutrat, blickten beide auf. Brandenberger lächelte schelmisch: «Oh, entschuldigen Sie vielmals, ich sitze wohl auf Ihrem Stuhl.» Er machte aber keine Anstalten aufzustehen.
«Hat es Spass gemacht?», fragte Anna und Emma glaubte, leichte Schadenfreude aus ihrer Stimme herauszuhören.
Emma überging die Frage und lächelte Brandenberger an: «Das macht nichts.» Im Stillen dachte sie, dass sie sich ja auf seinen Schoss setzen könnte, und blieb einfach neben ihm stehen. Anna schaute sie bewundernd an, sagte aber nichts.
Brandenberger schien ihre Gedanken lesen zu können. Er stand auf und verneigte sich höflich: «Würden Sie mir diesen Tanz schenken, Emma?» In vollendeter Höflichkeit bot er ihr seinen rechten Arm. Mit einem Seitenblick zu Anna sagte er beiläufig: «Wenn Sie uns entschuldigen wollen.»
Anna war zu überrascht, um etwas zu erwidern. Emma ergriff den Arm und strahlte Brandenberger an: «Sehr gerne.» Simon führte sie mit sicheren Schritten über den knarrenden Bretterboden zum Säli.
Emmas Magen zog sich nervös zusammen. Sie glaubte, diesmal alle Augen auf sich zu spüren, auf einer Bühne zu stehen und bewertet zu werden wie ein Stück Vieh. Aber Simon war ein begnadeter Tänzer, rasch verloren sich Emmas Bedenken. Sie fühlte sich aufgehoben und sicher geführt. Simons rechte Hand schien ihre Haut am Rücken zu verbrennen, obwohl ein paar Lagen Stoff dazwischen waren. Emma gab sich ganz dem Tanz hin. Gemeinsam genossen sie die unziemliche Nähe zueinander. Emma schien, als ob die Paare um sie herum zu einer einzigen wogenden Masse verschmolzen wären. Die fröhlichen Melodien schienen aus dem Nichts zu kommen. Nur dieser schöne, vollendet höfliche Mann von Welt und sie, die verführerische und bewunderte Emma Bachmann, tanzten in dieser herrlichen Nacht zusammen, als ob sie noch nie etwas anderes getan hätten – und waren doch immer noch per Sie.
«Sie sind sehr schön, Emma», raunte ihr Simon ins Ohr.
«Danke», erwiderte sie keck, «und Sie tanzen gut.»
Viel zu rasch machten die Musikanten eine Pause, und Herr Brandenberger führte Emma zurück an ihren Tisch. Sie glaubte zu spüren, dass auch er die Unterbrechung bedauerte.
Emma setzte sich atemlos und erhitzt auf ihren Stuhl: «Wo ist Anna hin?» Sie liess ihren Blick durch die Leute schweifen.
Röbi zuckte nur mit den Schultern. «Vermutlich ist sie rasch auf den Abort gegangen», mutmasste Röbis Vater. Martha Erni schien die Frage nicht mal gehört zu haben. Sie blätterte in einem kleinen Notizbüchlein und murmelte unentwegt vor sich hin.
Brandenberger stand etwas ratlos daneben. «Soll ich dich rasch nach draussen begleiten? Oh, Entschuldigung: Ich meine Sie …»
«Wir können schon beim Du bleiben», sagte Emma errötend. «Danke, aber Anna kommt bestimmt bald wieder.»
«Ich bin Simon», sagte er. «Darf ich mich zu dir setzen … Emma?»
«Ja, sehr gerne, hier sind ja gerade ein paar Stühle frei.»
Die beiden lächelten einander etwas verlegen an. Röbi rutschte wieder näher an Emma heran. Er musterte Brandenberger misstrauisch.
Simon fand zuerst die Sprache wieder: «Schön, dass wir endlich ungestört ein paar Worte wechseln können.»
Emma strich Röbi kurz über den Arm und schob ihn dann ein bisschen von sich. Ihr kam der Verkaufsnachmittag in den Sinn, Annas ungehöriger Auftritt und die unbekannte Frau an Brandenbergers Seite.
«Ich habe oft an Sie … äh … dich gedacht», sagte Simon so leise, dass nur Emma ihn hören konnte.
«Wirklich?» Emma schaute ihn kokett an und strich sich eine imaginäre Haarsträhne hinters Ohr.
«Ja, ganz ehrlich.»
Die Musikkapelle begann wieder aufzuspielen.
«Tanzen wir nochmals?», fragte Simon lächelnd.
«Äh, ich schau doch zuerst kurz, wo Anna so lange bleibt.» Emma stand auf und ging am Buffet vorbei. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Als sie zur Tür hinaus in den düsteren Gang trat, kam ihr Josefine, eine junge Magd aus Feldi, entgegen.
«Hoi Josefine, hast du Anna gesehen?», fragte Emma.
«Also auf dem Abort war sie jedenfalls nicht», sagte Josefine, «von da komme ich nämlich gerade.»
Die Wirtin trat mit zwei üppig gefüllten Schlachtplatten aus der Küche und die beiden mussten einen Schritt zur Seite weichen.
«Na dann. Bis später», sagte Emma zu dem Mädchen.
«Sie wird doch nicht einfach so nach Hause gegangen sein», dachte sie. Das Haus der Müllers war ja nur wenige Schritte entfernt.
Emma trat durch die Hintertür hinaus in den Lichtschein einer schwachen Öllampe. Sie ging zur Toilette und klopfte. Eine Männerstimme brummte «besetzt». Sie zog sich wieder ins Licht bei der Hintertür zurück, als sie Geräusche hörte, die sie nicht einordnen konnte. Von der Strasse her kam Gelächter und Geschwätz von Gästen auf dem Heimweg. Emma hörte scharrende Hufe, das Geklapper von Fuhrwerken und hinter sich gedämpfte Musik aus der Wirtschaft. Die unbekannten, geheimnisvollen Geräusche kamen aber aus einer anderen Richtung, irgendwo vom Hinterhof der Müllers, aus der Dunkelheit.
Am besten kehrte sie wohl wieder in die helle Gaststube zurück. Oder sollte sie kurz zu Annas Haus gehen, um zu schauen, ob sie gut heimgekommen war? Aber Emmas Beine führten sie fast wie von allein ein paar Schritte in Richtung Dunkelheit. Unruhe erfasste sie, aber auch Neugier und eine dunkle Vorahnung.
Sie ging langsam weiter, hinter sich hörte sie den Mann aus dem Häuschen schlurfen. Ohne auf sie zu achten, ging er in die Gaststube zurück. Durch die fahlen Wolken schimmerte der Halbmond. Emmas Augen hatten sich rasch an die Dunkelheit gewöhnt, sodass sie sich gut zurechtfand. An der Ecke vom Haus der Müllers stand eine mächtige Holzbeige. Dahinter hörte sie ein leises Kichern. Vorsichtig schlich sich Emma im Schutz der Hauswand weiter, bis sie hinter die Holzklafter blicken konnte.
Was sie sah, waren zwei Menschen, verschlungen in unziemlicher Umarmung. Anna stand mit dem Rücken an die Wand gelehnt, ihr Jackett war aufgeknöpft und die Bluse heraufgeschoben. Ein Mann drängte sich stöhnend an sie, küsste ihren Hals und knetete ihre entblössten Brüste. Emmas Augen weiteten sich fasziniert und angewidert zugleich. Als Anna ihn ein Stück von sich stiess, erkannte Emma Burkhard Erni, Annas Nachbarn. Emma musste ein «Jesses Gott» unterdrücken. Wie angewurzelt blieb sie im Schatten der Hauswand stehen.
Da hörte sie Annas gedämpfte Stimme: «Gefallen dir meine Brüste?»
Erni stöhnte wieder. Sein Atem bildete ein weisses Wölkchen in der trockenen Kälte der Nacht. Anna fror. Sie schob den Mann von sich und begann, ihre Kleidung wieder zu richten. Dann sagte sie: «Also, gib mir jetzt die zehn Franken.»
Erni wollte sie wieder küssen, aber Anna stiess ihn gnadenlos weg: «Nein!», sagte sie hart.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.