Kitabı oku: «Stoner McTavish - Schatten», sayfa 2

Yazı tipi:

Marylou wedelte Stoners Entschuldigung fort und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem Telefonhörer. »Gwen Owens, bitte.«

Stoner stand auf. »Marylou …«

»Ich«, erklärte Marylou dem Telefon, »bin Marylou Kesselbaum. Wer sind Sie?«

»Marylou, was fällt dir eigentlich ein?«

»Also, Mrs. Bainbridge, dies ist ein Notfall. Ich rufe von der Hauptklinik Boston an. Wir haben hier einen Fall von Gelbsucht, und wir nehmen an, dass er sich bis zu Ms. Owens zurückverfolgen lässt.«

»Um Gottes willen, Marylou.« Sie riss das Telefon an sich.

»Zu spät, Schätzchen. Sie stellen dich gerade ins Lehrerzimmer durch.«

»Ich hasse dich.«

»Mich?«, fragte Gwen am anderen Ende der Leitung. »Wer spricht da?«

»Es ist nichts«, sagte Stoner. »Nur einer von Marylous blöden Scherzen.«

»Ach, hallo, Stoner. Schön, deine Stimme zu hören. Was gibt’s?«

Stoner hielt Marylou den Hörer hin. »Du hast das Ganze angefangen, nun bring es auch zu Ende.«

»Ich nicht«, sagte Marylou. »Ich muss gerade mal aufs Klo.« Sie huschte zur Tür hinaus.

»Es tut mir leid.«

Gwen lachte. »Ihr beide müsst euch ja ziemlich langweilen, wenn ihr jetzt schon Telefonstreiche macht. Ich hab das nicht mehr getan, seit ich sieben war.«

»Na ja, eigentlich …« Sie wischte sich ihre Hand am Hosenbein ab. »Ich wollte dich fragen …«

»Ja?«

»Na ja … Tante Hermione … ich meine …« Sie holte tief Luft. »Ich muss am Wochenende nach Maine. Du hast bestimmt keine Lust mitzukommen, oder?«, sagte sie in einem Atemzug.

»Nach Maine?«

»Wenn du nicht willst … ich meine, falls du eine Verabredung oder so hast, verstehe ich d…«

»Eine Verabredung? Warum sollte ich eine Verabredung haben?«

»Du hattest letztes Wochenende eine Verabredung.«

»Das war keine Verabredung, sondern ein Arbeitstreffen.«

»Danach seid ihr aber unterwegs gewesen.«

»Neun Lehrerinnen und Lehrer trinken Bier und diskutieren im Watertown-Leanding-Gebäude bei einer Pizza, so was mag mit sechzehn eine Verabredung sein, mit einunddreißig ist das ein Arbeitstreffen.«

»Oh.«

»Ich fände es toll, mit dir nach Maine zu fahren. Lass uns den Freitag freinehmen und ein verlängertes Wochenende daraus machen.«

Stoner musste kräftig schlucken. »Du kannst das einrichten?«

»Nach neun Jahren Lehramt hier kann ich tun, was ich für richtig halte.«

Ihr Gaumen fühlte sich irgendwie fusselig an. »Okay«, sagte sie mit wackeliger Stimme. »Ich ruf dich heute Abend an, dann können wir das alles durchplanen.«

»Prima. Jederzeit.«

Stoner zögerte.

»Irgendwas nicht richtig?«, fragte Gwen.

»Öhh … Gwen, was hast du gerade an?«

»Lohfarbene Bundfaltenhosen und marineblaues Hemd. Warum?«

Stoner seufzte.

»Stoner McTavish, ist das ein obszöner Anruf?«

»Ja. – Nein! Wir telefonieren später.«

Sie schleuderte den Hörer auf die Gabel und stürzte durch den Raum. »Marylou!« Sie hämmerte gegen die Klotür. »Marylou! Sie kommt mit!«

»Um Gottes willen!«, kreischte Marylou. »Ich dachte, du wärst ein Straßenräuber.«

Kapitel 2

»Musst du unbedingt lesen, während ich fahre?«

»Ich lese nicht«, sagte Gwen. »Ich schaue in die Karte.«

»Das ist dasselbe. Ehrlich, mir wird schlecht.«

»Ist gut.« Sie faltete die Karte zusammen. »Hast du dein Dramamin nicht genommen?«

»Wenn ich Dramamin nehme, schlaf ich ein und bekomme nichts von der Landschaft mit.«

Gwen lachte. »Welcher Landschaft?«

Sie durchfuhren gerade ein Verbindungsstück zwischen zwei der zahllosen Industrieviertel, die sich wie eine steinerne Kette von Boston nach Gloucester aneinanderreihten. Die Fabriken frönten ihrer jeweiligen Bestimmung: die einen der Verpestung der Luft, die anderen dem Verfall. Ein schmales Rinnsal sickerte schwerfällig neben der Autobahn entlang, auf der Oberfläche wabberte schmutziger Schaum.

»Weißt du«, sagte Stoner, »dass du zu den null Komma eins Prozent der Bevölkerung gehörst, die eine Straßenkarte wieder zusammenfalten können.«

»Vielleicht überreichen sie mir den Nobelpreis. Wo liegt denn dieses Castle Point überhaupt?«

»Außerhalb von Castleton.«

»Schlau.«

»Schätze, gut hundert Kilometer hinter Portland, Luftlinie. Schau auf die Karte.«

»Du hast mir doch eben gerade gesagt, ich soll nicht auf die Karte schauen.«

Die Windschutzscheibe beschlug. Stoner stellte das Gebläse an, das sofort stickige Hitze erzeugte. Sie stellte es ab und kurbelte ihr Seitenfenster runter. Der Wagen füllte sich mit nebliger Feuchtigkeit, die unter die Haut kroch. Sie kurbelte das Fenster wieder hoch, die Windschutzscheibe beschlug erneut. »Ich hasse Neuengland«, sagte sie mürrisch.

»Ja, Liebste«, sagte Gwen und förderte unter dem Beifahrersitz einen alten Fetzen Stoff zutage, mit dem sie die Scheibe abwischte. »Besser?«

»Danke.«

Ein Ford Scorpio überholte und spritzte sie dabei mit schwärzlichem Sodder voll. Sie schaltete die Scheibenwischer ein. Ölige Schlieren reduzierten die Sicht auf null. Sie drückte den Knopf für die Scheibenwaschanlage. Nichts passierte.

»Ich dachte, du hast dieses Auto gerade erst durchchecken lassen?«

»Hab ich auch.«

»Sie haben die Waschanlage nicht aufgefüllt.«

Gwen zuckte die Acheln. »Was erwartest du für 25 Dollar die Stunde?«

»Heutzutage legt niemand mehr Sorgfalt in die Arbeit.«

»Du hast hundertprozentig recht.«

»Sie sollten nicht so einfach damit durchkommen.«

»Auf gar keinen Fall.«

Sie attackierte den Knopf mehrmals, ohne Erfolg. »Ich hoffe, du hast dich deshalb beschwert.«

»Wie sollte ich mich deshalb beschweren?«, fragte Gwen. »Ich wusste doch nicht mal davon.«

»Du willst sagen, du bist in dein Auto gestiegen, losgefahren und hast nicht einmal überprüft, ob sie die Waschanlage aufgefüllt haben?«

»Das ist richtig.«

»Du musst den Leuten auf die Finger gucken, Gwen, andernfalls hauen sie dich ständig übers Ohr.«

»Vollkommen deiner Meinung.«

»Wenn sich alle beschweren würden, wäre viel erreicht.«

»Stoner«, sagte Gwen, »da vorne kommt ein Rastplatz. Nimm den bitte.«

Sie parkte den Wagen so weit entfernt wie möglich von einem rußspotzenden Diesel-LKW und zwei dreckverspritzten Wohnmobilen. Das hatte den Nachteil, dass sie jetzt vor einer überquellenden Mülltonne standen.

Gwen griff unter das Lenkrad und stellte den Motor aus. Sie zog die Wagenschlüssel ab, stieg aus, holte eine Flasche Scheibenwaschmittel heraus, drückte den Plastikdeckel hoch und füllte den Wasserbehälter auf. »Noch einen Wunsch, Lady?«, fragte sie und knallte den Deckel wieder auf die Flasche.

»Das hätt ich doch machen können«, sagte Stoner.

»Ich bin eine eigenständige Frau. Betrachte es als politische Aktion.« Sie setzte sich wieder ins Auto. »Tante Hermione hatte recht«, bemerkte sie, während sie ihren Sicherheitsgurt anlegte. »Morgens bist du unerträglich.«

Stoner ließ ihren Kopf aufs Lenkrad sinken. »Es tut mir leid.«

»Soll ich fahren?«

»Ich bring mich um.«

»Sieh dich hier doch mal genau um. Glaubst du, das würde hier irgendwen interessieren?«

Stoner sah sich um. »Gott, ist das alles übel.«

»Davon, dass wir hier herumsitzen, wird es auch nicht besser. Irgendwelche Vorschläge?«

Sie starrte auf die Autobahn hinaus, auf den nicht enden wollenden grauen Verkehrsstrom, der sich auf einer grauen Fahrbahn durch spritzendes graues Wasser furchte. Da hinein zurückzufahren hatte den Charme, als ginge man nackt in einem seichten Tümpel in der Mitte eines Autoschrottplatzes tauchen. »Castleton ist vermutlich ein grauenvoller Ort«, sagte sie. »Die Restaurants werden, sofern es überhaupt welche gibt, um diese Jahreszeit geschlossen sein. Wir werden bis Augusta fahren müssen, um ein Hotel zu finden. Das einzige, was offen hat, wird ein Schuppen der Howard-Johnson-Kette sein. Es wird nach dreckigen Teppichen riechen, und wir werden ein Zimmer ohne Heizung bekommen, direkt neben dem, in dem die örtliche Reggae-Band probt.«

»Das klingt nett«, sagte Gwen.

»Wir werden von halb aufgetauten Hamburgern zwischen klitschigen, grobgemahlenen Weizenbrötchen und schlaffem Krautsalat leben müssen. Dazu bekommen wir ›Star-Cola‹ und eine Salmonellenvergiftung.«

»Das wird nichts mit der Salmonellenvergiftung, das kannst du dir abschminken. Und ›Star-Cola‹ servieren sie auch nicht mehr. Vermutlich gibt es großartige Bibliotheken in Augusta, und ich liebe Reggae, und alle Hotels stinken nach dreckigen Teppichen.«

»Musst du eigentlich so vergnügt sein.«

»Was ist denn dabei, vergnügt zu sein. Wir machen Urlaub.«

Stoner schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, wir passen grundsätzlich nicht zusammen.«

»Nur morgens nicht.« Gwen legte ihre Hand auf Stoners Arm. »Was ist denn so furchtbar, Stoner?«

»Ich möchte so gern, dass alles schön wird.«

»Es wird schön werden.«

»Ich möchte, dass alles vollkommen wird.«

Gwen wuschelte Stoner durchs Haar. »Es wird schön werden. Wenn alles vollkommen wäre, was bliebe denn dann noch, wofür es zu leben lohnte?«

»Die Wiederholungen.«

»Du hast vielleicht Nerven. Es wird sein, wie es ist.«

»Du philosophierst.«

»Klar«, sagte Gwen, »ich bin schließlich auch nervös.«

»Warum?«

»Machst du Witze? Unser erster gemeinsamer Urlaub! Die Situation ist voller Risiken.«

Sie musste lachen. »Ich hoffe, wir kommen über die Runden.«

»Wir werden klarkommen. Diese Freundschaft wurde im Himmel geschlossen.«

»Eigentlich doch wohl eher in Wyoming«, bemerkte Stoner.

»Aufgestiegen wie ein Phönix aus der Asche meiner kurzen, zerbrochenen Ehe.«

»Du weißt, Gwen, dass ich mir wirklich gewünscht habe, es möge nicht so grauenvoll für dich enden.«

»Das war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Ich bitte dich, könntest du dein Leben mit einem Mann verbringen, dessen Auffassung von einem Hochzeitsgeschenk ein blassgrüner Renault ist?«

»Immerhin«, sagte Stoner, als sie den Motor startete, »haben die Dinger ’ne unglaublich hohe Kilometerleistung.«

Sie fädelte sich in den fließenden Verkehr ein, hängte sich eine Weile an einen LKW, überholte schließlich und reihte sich vor einem zigarrerauchenden, erfolgreichen Geschäftsmann mittleren Alters in einem schmutzigen Chevrolet ein. Als sie in den Rückspiegel blickte, stellte sie hochbefriedigt fest, dass seine Scheibenwaschanlage ebenfalls leer war.

Jenseits von Portland gelangten die Bäume gegenüber den Häusern in die Überzahl. Die Sonne brach durch den Nebel und spiegelte sich glänzend in Wassertropfen, die an den Spitzen der Kiefernnadeln hingen. Glitzernde Bäche, entstanden durch die erste Schneeschmelze des Frühjahres, sprudelten und tanzten über Wiesen aus niedrigem Gras. Möwenschwärme umkreisten unsichtbare Ziele und kreischten grundlos klagend.

Gwen warf einen flüchtigen Blick auf die Straßenkarte. »Ab hier müssen wir die B1 nehmen.«

Stoner steuerte die Ausfahrt an, bezahlte die Autobahngebühr und kurvte durch ein Gewirr von Überführungen, Unterführungen und Kreisverkehren, einzig und allein zu dem Zweck konzipiert, Chaos zu erzeugen und Touristen in die Knie zu zwingen. Sie bog in eine Straße ein, die mit ›B1 Norden‹ ausgeschildert war – obwohl ihr gesamter Instinkt und ihre Vernunft ihr sagten, dass sie eigentlich nur nach Süden führen konnte.

»Ich dachte immer, ich verfüge über einen guten Orientierungssinn«, sagte sie. »Aber jetzt, wo ich mich dieser Straßenführung ausliefern muss …«

»Es gibt nur zwei Richtungen«, sagte Gwen. »Die richtige und die falsche.«

Sie fuhren an einer heruntergekommenen kleinen Stadt vorbei, die aus Autofriedhöfen, Motorradgeschäften und Fabrikschornsteinen bestand.

»Bist du sicher, dass wir richtig sind?«

»Wenn wir den Schildern Glauben schenken dürfen.«

»Wenn wir in Kittery landen, bring ich mich um.«

»Vertrau mir«, sagte Gwen. »Ich hab mich noch nie verirrt.«

»Na, dann wird’s ja höchste Zeit.«

»Wenn wir in Kittery landen, drehen wir eben wieder um.«

»Es sind Leute nach Kittery gefahren, von denen hat man nie wieder etwas gehört.«

»Das stört mich nicht, solange es da ein Restaurant gibt. Ich verhungere.«

»Es gibt da schon Restaurants«, sagte Stoner, »aber sie liegen nicht an dieser Straße.«

Von Osten her kam Seitenwind auf und brachte den scharfen, modrigen Geruch von Ebbe mit sich. Die Stadt schrumpfte zu ein paar vereinzelten verwitterten Häuschen zusammen. Kein Verkehr, kein Lebenszeichen war zu sehen.

»Meinst du, es ist vielleicht etwas passiert, von dem wir nichts wissen?«, fragte Stoner.

»Zum Beispiel?«

»Super-GAU im Kraftwerk Seabrook?«

»Sie sind grad alle beim Mittagessen«, sagte Gwen. »Du erinnerst dich, Mittagessen?«

Ein festsitzender Knoten des Unbehagens machte sich in ihrem Magen bemerkbar. »Gwen, ich hab Angst vor Maine.«

»Dann lass uns nach New Hampshire fahren. In New Hampshire gibt es bestimmt Restaurants.«

»Wir müssen Pläne machen.«

»Pläne?«

»Für Schattenhain. Wir können da ja nicht einfach reinmarschieren und sagen: ›He, Sie, wo ist denn hier die Suite von Schwester Rasmussen.‹«

»Doch, eigentlich klingt das nach einer guten Idee«, bemerkte Gwen. »Vielleicht sitzen sie gerade beim Mittagessen.«

Stoner strich sich die Haare aus der Stirn. »Nancy hat gesagt, ihre Schwester erwähnte, dass es da etwas Sonderbares in Schattenhain gäbe.«

»Es ist eben ein Klinik für psychisch Kranke. Die sind immer ein wenig ›sonderbar‹.«

»Wir rufen vorher an«, entschied Stoner. »Behaupten, wir seien auf der Durchreise, alte Freundinnen von Claire Rasmussen. Wir tun so, als wüssten wir von nichts.«

»Wir wissen ja auch nicht viel.«

»Wir wissen, dass Nancy seit zwei Wochen nichts von Claire gehört hat. Auch nicht an ihrem Geburtstag. Wir wissen aber auch, dass Claire sich immer zu Nancys Geburtstag gemeldet hat.«

»Also hat sie ihn vielleicht vergessen.«

»Wenn sie behaupten, sie sei nicht da, werden wir hinfahren und uns mal umsehen.«

»Gut«, sagte Gwen, »das klingt richtig.«

»Wir müssen ein Gefühl für den Ort bekommen.«

»Warst du schon mal in einer psychiatrischen Klinik?«

»Nein, du?«

»Nein. Wie sollen wir ein Gefühl für den Ort bekommen, wenn wir überhaupt nicht wissen, was für ein Gefühl das sein könnte?«

Stoners Blick verfinsterte sich. »Wir müssen den Sprung ins kalte Wasser wagen.«

»Wunderbar«, sagte Gwen. »Das ist ein wirklich einfallsreicher, ausgetüftelter Plan. Strategisch gesehen einer der zehn besten aller Zeiten.«

»Er ist besser als der, den ich hatte, als ich nach Wyoming fuhr, um dich zu suchen.«

»Ich wurde in Wyoming nicht vermisst. Ich saß im Speiseraum des Hotels.«

»›Schattenhain‹«, sagte Stoner. »Findest du nicht, dass bei diesem Namen irgendwas Geheimnisvolles mitschwingt?«

»Nicht mehr als bei ›Glückstal‹ oder ›Sonnenhof‹.«

»Wenn wir keinerlei Auskunft bekommen, müssen wir …«

»Stoner«, sagte Gwen scharf, »nehmen wir gerade an irgendeiner religiösen Fastenkur teil, oder können wir irgendwo anhalten, um zu essen?«

»Was? Sicher. Irgendwo muss hier ja was offen sein.«

Sie kamen an einem Ferienort vorbei. Zwei Reihen identischer weißer Häuser, die sich auf einem freien Feld gegenüberstanden. In einiger Entfernung tauchte der Ozean auf. Sein unbewegter, blaugrauer Anblick rief Erinnerungen an Kinderheimaufenthalte an der Küste wach – an die dünne Schicht aus knirschendem Sand auf braunem Linoleum, Betten mit Eisengestell und weißen Überdecken, Duschkabinen mit Blechwänden und Bodenbelägen aus einem unidentifizierbaren Material, das sich an den Fußsohlen irgendwie schleimig anfühlte, und an schwere Plastikduschvorhänge, die unten über dem Boden schmutzig aussahen, als wären sie voller Rost oder altem Blut.

»Zu schade, dass Marylou nicht hier ist«, sagte Gwen.

»Marylou verreist niemals.«

»Aber sie isst

»Vielleicht ist alles nur ein Missverständnis«, sagte Stoner. »Wir kommen dort an und stellen fest, dass sie tatsächlich nur in Urlaub ist. Vielleicht ist Nancy nur hysterisch. Allerdings kam sie mir nicht so vor, als neige sie besonders zur Hysterie, und dir?«

»Ich kenn sie doch gar nicht«, sagte Gwen.

»Ach ja, richtig. Sie kam mir sehr jung und auch sehr sensibel vor, und schutzbedürftig.« Sie überlegte einen Moment. »Gwen, meinst du, ich kann Menschen gut einschätzen?«

»Besser als ich.«

Stoner sah sie an. »Bloß weil du einen Mann geheiratet hast, der nur dein Geld wollte, heißt das noch lange nicht, dass du keine Menschenkenntnis hast. Jede macht mal einen Fehler.«

»Ich nicht. Ich fabriziere nur gigantische Irrtümer.«

»Gut«, sagte Stoner, »vielleicht wirst du’s so los. Einmal ein gigantischer Irrtum und ab dann ist’s ein gemütlicher Spaziergang.«

»Da waren drei Restaurants in der Stadt, durch die wir gerade gefahren sind«, sagte Gwen sehnsüchtig.

»Tut mir leid. Wir halten in der nächsten, versprochen.« Sie trat das Gaspedal fester durch. »Die Frage ist doch, wenn Claire irgendetwas zugestoßen ist, warum? Wenn es ein Unfall war – sie ist in den Ozean gefallen oder so was –, warum vertuschen? Sie ist erst zwei Monate in Schattenhain. Wie viele Feinde kannst du dir in zwei Monaten machen?«

»Hunderte«, warf Gwen ein, »wenn du sie verhungern lässt.«

»Also geht vielleicht irgendetwas Ungesetzliches in Schattenhain vor sich, und Claire hat es bemerkt, und sie mussten sie zum Schweigen bringen.«

Gwen warf sich zu Stoner rüber und biss ihr ins Handgelenk.

»Um Gottes willen, Gwen. Willst du, dass ich gegen einen Baum fahre?«

»Hunger!«, schrie Gwen.

Stoner brachte den Wagen zurück in die Spur. »Deshalb sollten wir, wenn wir in Castleton sind, auf verdächtige Vorgänge achten.«

»Jetzt weiß ich, was das hier wird«, jammerte Gwen, als etwas, das ›Die Kochmütze‹ hieß, ausgestattet mit Sitzbänken, Tischchen und servierbereiten Kellnerinnen, vorbeirauschte. »Die Suche nach Erleuchtung. Wir werden so lange weiterfahren, ohne Essen, ohne Schlaf, bis wir Halluzinationen bekommen.«

»Wieso hast du bloß schon wieder Hunger?«, fragte Stoner. »Wir haben doch eben erst gefrühstückt.«

»Wir haben um 7 : 45, Digitalzeit, gefrühstückt. Jetzt ist es 13 : 30.«

»Oha.« Sie gewahrte ein kleines Betongebäude, etwas weiter vorne. Ein Neon-Schriftzug flackerte hinter der Fensterscheibe wie ein sterbendes Glühwürmchen. Sie stemmte sich in die Bremsen, lenkte auf den Parkplatz und schaute sich um. »Ich weiß nicht, es wirkt ein bisschen ärmlich.«

»Mich würd’s nicht mal stören, wenn es dekadent wäre«, sagte Gwen und sprang aus dem Wagen. »Hauptsache, sie haben was zu essen.«

Stoner betrachtete Gwen, die voranging, und seufzte.

Ich bin verliebt.

***

»Verloren«, sagte Gwen.

Stoner zeigte auf eine verfallene Scheune am Straßenrand. »Das erinnere ich. Hier sind wir vorhin vorbeigekommen.«

»Soso. Da waren wir also auch schon verloren.«

Gwen hielt unter einem rostigen Pfeiler, der eine Straßengabelung markierte. Rankender Efeu verdeckte das Schild am oberen Ende des Pfeilers. »Kannst du lesen, was da steht?«

Stoner stieg aus und blickte nach oben. »Da steht Castleton.«

»Welche Richtung?«

»Rechts lang.«

»Welche Richtung sind wir letztes Mal gefahren?«

»Links, glaube ich.« Sie stieg wieder ins Auto. »Soll ich fahren?«

Gwen ließ den Motor an. »Stoner, mein Engel, da müsste erst der Tag kommen, an dem es in der Hölle schneit, bevor ich dich noch mal fahren lasse, besonders kurz vorm Essen.«

Mein Engel. Sie hat mich ›mein Engel‹ genannt.

»Ich schätze«, fuhr Gwen fort, »du bist die einzige Überlebende der Donnertruppe.«

»Was ist das?«

»Eine Gruppe Pioniere, die so besessen davon waren, die Goldfelder zu erreichen, dass sie versucht haben, die Wüsten im Winter zu durchqueren. Sie gerieten in einen Blizzard und verspeisten sich gegenseitig.«

»Na so was«, sagte Stoner. »Ich hätte gedacht, sie seien zu schwach für Sex gewesen!«

»Stoner McTavish! Das ist das Verdorbenste, was ich dich jemals hab sagen hören.«

»Wart’s ab«, sagte Stoner. »Ich kann sogar richtig derb werden.«

Sie rasten an überwinternden Feldern und Knäueln aus Brombeergestrüpp vorbei und ließen Farmhäuser in einer ganzen Palette verwaschen weißer Anstriche hinter sich. Kraftloses Elend. Scheunen mit zersplitterten Stützbalken, Fenster, die den Himmel reflektierten oder nach innen geöffnet zu schwarzen Löchern geworden waren.

»So was wie das hier würdest du im Süden niemals zu sehen bekommen«, sagte Gwen. »Es würde sofort dem Erdboden gleichgemacht werden. Ich weiß von Leuten, die fuhren übers Wochenende weg, und als sie zurückkamen, war ihr Haus kurzerhand verschwunden.«

»Keine schlechte Idee.« Stoner schaute sich besorgt um. »Meinst du, Castleton ist auch so?«

»Ich bezweifle es. Das hier ist doch nur ein Trick, um Kunstmalerinnen anzulocken.«

»Aber wo sind dann die Künstlerinnen.« Sie sackte tiefer in den Beifahrersitz. »Gwen, ich fürchte, ich bin etwas nervös.«

»Nervös! Du bist schon die ganze Zeit das absolute Nervenbündel. Sag mir Bescheid, wenn es so weit ist, dass du durch die Decke gehst.«

»Es ist nur … Ich hab ein ungutes Gefühl bei dieser Gegend.«

»Die Menschen, die hier leben, haben vermutlich ebenfalls dieses ungute Gefühl. Falls hier welche leben.« Sie sah Stoner an. »Kriegst du Alpträume davon?«

»Kann sein.«

»Alpträume können dir nichts anhaben, Stoner.«

»Sie können, wenn sie Vorahnungen sind.« Der Wagen überquerte eine schmale Brücke und erklomm einen Bergkamm. »Oh Mann, wir haben Castleton gefunden.«

Das Meer lag vor ihnen. Träge wie Blei. Schäfchenwolken schwebten über dem Wasser. Der Horizont war unsichtbar in Nebel getaucht. Richtung Osten war das Land eben, zog sich in bräunlichen Feldern an einem kleinen, schlammfarbenen Bach entlang. Das Städtchen Castleton kauerte sich ans flache Meeresufer. Vier rostverkrustete Fischerboote, um eine Boje herum vertäut, schaukelten verlassen auf und ab.

Am südlichen Ende der Stadt stieg das Land schroff an, formte sich zu einer felsigen, bewaldeten Halbinsel, die sich wie der Kamm eines arroganten Hahnes dem Ozean entgegenstreckte. Ein paar große, zerfallende Häuser klebten an den Felsen entlang der Straße, die sich zu einem matschigen Weg verschlechterte, als sie den Waldrand erreichte. Wellen klatschten unbarmherzig an den Fuß der Klippen. Draußen über dem Meer bildete sich eine Nebelbank, bewegte sich auf die Küste zu, griff nach dem Land mit silbrig samtenen Fingern.

»Gute Göttin«, hauchte Stoner.

»Allerdings«, sagte Gwen. Sie schaute auf die Karte. »Das muss der Castle River sein. Castle Bluffs. Castle Point. Der Fluss zum Schloss, das Kliff zum Schloss und der Aussichtspunkt zum Schloss, alles da, fehlt uns eigentlich nur noch das Schloss selbst.« Sie setzte das Auto wieder in Gang. »Ich hoffe, du bist bereit. Shirley Jackson hätte es geliebt.«

Nein, ich bin nicht bereit. Irgendwas ist falsch, irgendetwas stimmt nicht mit dieser Gegend. Und alles ist so vertraut. »Ich kenne diese Stadt«, flüsterte sie.

Gwen nickte grimmig. »Ich auch. Als ich ein ganz kleines Mädchen war, zog eine Zigeunerin über die Jahrmärkte bei uns und prophezeite mir, mich werde mein Schicksal in einer Gegend ereilen, die dieser verdächtig ähnlich sieht.«

»Mach keine Witze.«

»Doch, ich denke, das sollten wir besser.«

Sie hatte kaum ausgeredet, als sich die Stadt prahlerisch in Szene setzte. Ein baufälliges Lebensmittel- und Spirituosengeschäft inklusive Drahtgittertür und fliegenverklebten Paralstrips vom letzten Sommer, ein Café, einladenderweise ›Die Seegurke‹ genannt, eine Bar, ein von den MGM-Filmkulissen übriggebliebener Drugstore, eine Tankstelle mit zwei Zapfsäulen, etwa 1947, und ein mit rosa Stuck verziertes Hotel vierter Klasse, das behauptete, die ›Herberge zum Ostwind‹ zu sein. Langsam fuhren sie die Straßen auf und ab, auf der Suche nach einem Zeichen menschlichen Lebens.

»Vermutest du auch«, sagte Gwen, »dass sie bei Vollmond aus ihren Särgen steigen?«

Ein Münztelefon unter einer Kunststoffblase stand am Straßenrand, der Hörer baumelte unbenutzt herum, die dünnen Telefonbuchseiten flatterten im Nachmittagswind. Der einzige sichtbare Hinweis auf eine moderne Zivilisation.

»Was, glaubst du, haben die Einwohner damit gemacht?«, fragte Stoner.

»Sie hielten es vermutlich für einen Außerirdischen und haben es erschossen.« Gwen bog mit dem Wagen in eine andere graue Straße ein. »Weißt du, was wir machen sollten?«

»Was?«

»Davonrennen, so schnell die Füße uns tragen.«

Der Nebel begann sich ums Auto zu wickeln. Er stieß an die Scheiben und wulstete sich über die Motorhaube.

Stoner räusperte sich den Hals frei. »Sollen wir Schattenhain suchen oder uns erst im Hotel anmelden?«

»Nachdem ich das Hotel bereits gesehen habe, bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich Schattenhain überhaupt noch kennenlernen möchte.«

»Wenn wir zu lange warten, sind die Zimmer vielleicht schon alle vergeben.«

»An wen?«

Gwen wendete, um zurück ins Stadtzentrum zu fahren. Nachdem sie in irgendeine Straße eingebogen war, rollten sie ein paar Blocks weit an Häusern mit grauen Mauerschindeln vorbei. Die vorgebauten Veranden hatten ziemliche Schlagseite und wirkten, als ob sie sie belauschten. Gwen versuchte es mit einer anderen Straße und noch einer anderen. Nichts.

»Gut«, sagte sie. »Was machen wir jetzt?«

»Das Hotel muss hier irgendwo sein. Wir haben es doch schon gesehen.«

»Haben wir?«

Verwirrt kaute Stoner auf ihrer Unterlippe herum. Wir können uns nicht schon wieder verirrt haben. Nicht in einer Stadt dieser Größe. Und wir haben Castleton mit Sicherheit nicht wieder verlassen. Da ist ›Die Seegurke‹, da der Drugstore, der Stadtpark …

Sie bemerkte ein verblasstes, fast umgefallenes Schild, das in einer Schneewehe stak. ›HERBERGE ZUM OSTWIND, erste Straße rechts‹.

»Stoner«, raunte Gwen, »vor zehn Minuten stand das Schild noch nicht da.«

»Lass das«, antwortete Stoner. »Es ist auch so schon gruselig genug.«

»Gruselig trifft es nicht mal ansatzweise.«

Das Hotel lag etwas zurückversetzt an der Straße, so dass der Platz gerade für eine Reihe vorsichtig diagonal geparkter Fahrzeuge, eine einspurige Zufahrt und eine dünne Reihe aus verwelkten Ringelblumen reichte. Eine Neonschrift, die sich HE BERG UM O TWI D las, lugte an einer Ecke des Hauses hervor. Hinter Panoramafenstern erinnerten verbogene und zerkratzte Metalljalousien an Zäune aus knorrigen dünnen Zweigen. Die Sturmschutztür eines Stockwerkes stand offen. Die Tür dahinter sah aus, als würde sie nur noch durch eine Glasscherbe in Form gehalten.

Stoner zögerte. »Das macht keinen sehr vielversprechenden Eindruck. Vielleicht sollten wir es irgendwo anders versuchen.«

»Wo irgendwo anders? Wenn wir Castleton den Rücken kehren, werden wir es nie wiederfinden. Vermutlich taucht es nur alle hundert Jahre aus der See auf, wie Brigadoon. Wenn es zu schrecklich ist, können wir morgen immer noch weiterfahren.«

»Na gut«, sagte Stoner widerwillig, »ich schätze, uns bleibt nichts anderes übrig. Möchtest du den offiziellen Teil erledigen?«

Gwen lugte zur Tür des Empfangsbüros und schnitt eine Grimasse. »Nur dieses eine Mal noch bist du der kesse Vater. Um der guten alten Zeiten willen.«

Das Empfangsbüro war leer, die Tür verschlossen. Ein drei mal fünf Zentimeter großes Pappkärtchen steckte in der Ecke einer Glasscheibe und versprach, dass irgendwer ›bald zurück‹ sein würde.

»Die entscheidende Frage«, bemerkte Gwen, nachdem Stoner ihr Bericht erstattet hatte, »ist nur, ob dieses ›bald‹ als ›vor dem Abendessen‹ oder als ›Ende Mai‹ zu interpretieren ist.«

Stoner rieb sich den Nacken. »Ich meine, wir könnten ein bisschen Zeit damit totschlagen, mal zu schauen, wo Schattenhain liegt. Es muss irgendwo da an der Straße beim Ozean sein.«

»Ich frag mich«, sagte Gwen, als sie den Wagen anließ, »ob jemals eine, die diese Straße genommen hat, zurückgekehrt ist.«

»Mach das nicht, Gwen, bitte.« Da war ein seltsames Kribbeln unter ihrer Haut. Ein Frösteln breitete sich zwischen ihren Schulterblättern aus.

»Ich find das ehrlich komisch.«

»Ich nicht.«

»Was stimmt denn nicht?«

»Ich glaube, ich weiß, wie Schattenhain aussehen wird.«

Gwen klopfte versichernd auf Stoners Hand. »Wir wissen beide, dass es sich vermutlich um das Versatzstück eines antiken Horrordramas handelt. Egal, der ›Ratgeber für durch Terror und Übersinnliches in Not Geratene‹ sagt, die beste Verteidigung ist flockig-lockeres Auftreten.«

»Flockig-locker«, grummelte Stoner. »Du bist genauso schlimm wie Marylou.«

»Und du«, sagte Gwen, »hast wieder deine typische Steinbock-Zauderei.«

»Ist gut, ist gut. Also los, stellen wir uns dem verdammten Ding.«

Das erste Haus an der Klippenstraße entpuppte sich als unsägliches Machwerk. Hoch, breit, mit Schindeln gedeckt, hockte es als wuchernder, amorpher Klumpen aus lehmartiger Masse am Rand der Klippen. Eine Steinmauer, deren eigentlicher Zweck einst gewesen sein musste, Spaziergänger vor einem Sturz in die Tiefe zu bewahren, war nun ihrerseits zerbröckelt und teilweise ins Meer gestürzt. Durch den Nebel und das Zwielicht der einsetzenden Dämmerung wirkten die Fenster des Hauses leer wie die Augen einer Toten. Ein paar Seemöwen schwebten über dem Dach, erwogen kurz, sich niederzulassen, und beschlossen dann, sich lieber nach gastlicheren Gefilden umzusehen.

»Lass uns gucken, ob sie Fremdenzimmer vermieten«, schlug Gwen vor.

»Hier?«

»Ich liebe es. Jede Wette, dass es hier spukt.« Sie stieg aus, machte ein düsteres Gesicht und zitierte geheimnisvoll:

»Dann blieb es Nacht und nimmer ward es Tag

In dieser Öde, welche bleischwer lag

Auf jedem Herz, dass dessen Saft und Kraft

Gefror im selbstischen Gebet um Licht!«

Stoner musste lachen. »Wo hast du denn das her?«

»Lord Byron.« Gwen drehte sich um und rannte zum Haus.

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