Kitabı oku: «Der Aktionskreis Halle», sayfa 3

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5.Abgrenzung der Thematik

Die vorliegende Studie zum Aktionskreis Halle will die Geschichte dieser Gruppe in der spezifischen Situation der katholischen Kirche in der DDR darstellen und untersuchen. Aufgabe einer wissenschaftlichen Untersuchung des AKH kann es nicht sein, persönliche Eindrücke und Verletzungen zu thematisieren. Der Versuch, eine umfassende Geschichte des Aktionskreises zu verfassen und dabei allen unterschiedlichen Wahrnehmungen nachzugehen, sie zu beschreiben und ihnen gerecht werden zu wollen, ist allein schon aufgrund der Vielzahl von Personen im AKH zum Scheitern verurteilt. Die biographischen Annäherungen an einige Protagonisten des Aktionskreises konzentrieren sich vorwiegend auf ihr Wirken in der Gruppe selbst und beanspruchen keine Vollständigkeit. Aufgrund der zu behandelnden kurzen Zeitspanne von knapp 20 Jahren, der Fülle der zu erörternden Themen und des ungeheuren Quellenmaterials und nicht zuletzt, weil der AKH in die zentralen Themen, die Kirche in der DDR betreffend, vernetzt war, könnte der Eindruck entstehen, dass eine Gesamtgeschichte für die 70er und 80er Jahre abgeliefert wird. Diese ist allerdings weder intendiert noch kann sie im Rahmen einer Dissertation geleistet werden. Die Geschichte des Hallenser Aktionskreises ist und bleibt ein Teilaspekt einer noch zu verfassenden „ostdeutschen Kirchengeschichte“. Das Fehlen verschiedener Bischofsbiographien kann durch die in dieser Arbeit unternommenen Sekundärzugänge nicht aufgewogen werden und präsentiert sich in bestimmten Fragen als limitierender Faktor. Im Rahmen dieser Dissertationsschrift kann auch keine abschließende biographische oder theologische Beschreibung und Einordnung der verschiedenen ost- und westdeutschen Bischöfe erfolgen. Dieses Feld bleibt weiteren Forschungen vorbehalten. Weiterer Forschungsbedarf besteht zudem bei anderen innerkirchlichen Gruppierungen in der DDR. Welche Rolle spielten die regionalen Akademikerkreise, das Leipziger Oratorium, die Vielzahl der Priestergruppen, die - auch im Geheimen – existierten, tatsächlich und wie waren sie untereinander vernetzt?

I.DER AKTIONSKREIS HALLE (AKH)

Die Geschichte und Entwicklung des Aktionskreises Halle werden im Folgenden chronologisch dargestellt. Ausgehend von verschiedenen postkonziliaren Krisen und Konflikten stellt der Bischofswechsel im Kommissariat Magdeburg 1969/70 das auslösende Moment für die Gründung der Gruppe im Jahr 1970 dar. Dass es hierbei tatsächlich zu einer Wahl des neuen Bischofs kam, ist als Sonderfall zu charakterisieren und im Licht der Konzilsrezeption zu interpretieren. Die hierbei entstandenen Konflikte sollten die Bewertung des Aktionskreises nachhaltig prägen und werden daher detailliert erörtert. Schließlich wird in einem dritten Punkt der Aktionskreis als Gruppe eingehend dargestellt und analysiert: welche Ziele verfolgte er, wer gehörte zu dem Kreis und wie war die Gruppe vernetzt? Welche kirchlichen und gesellschaftlichen Themen hat die Gruppe bearbeitet und wie wurde der Aktionskreis Halle durch den ostdeutschen Katholizismus eingeordnet und bewertet? Am Gründungsauslöser, der Struktur und Zielsetzung sowie an der thematischen Arbeit des AKH lässt sich die basiskirchlichen Konzilsrezeption ablesen und hinsichtlich der Ausgangsthese analysieren.

1.Krisen, Konflikte und Potentiale am Vorabend der Gründung

Das II. Vatikanum stellte in vielerlei Hinsicht einen Antwortversuch auf innerkirchliche Verschiebungen und Krisen dar. Dass die nachkonziliare Zeit von einer offeneren und pluraleren Diskussion um die konkrete Gestalt von Kirche geprägt war, konnte insofern nicht verwundern. Ende der 1960er Jahre zeigte sich nicht nur im westdeutschen Katholizismus, dass sich an die Phase der unmittelbaren Konzilsbegeisterung eine zweite Phase der enttäuschten Hoffnungen und der Resignation anschloss.44 Vielen schritt die Konzilsrezeption nicht schnell genug voran oder wurde nicht weit genug getrieben. Andere erblickten in der vom Konzil autorisierten Hinwendung der Kirche zur Welt den entscheidenden Fehler, der für die postkonziliaren Krisen verantwortlich gemacht wurde. Im Folgenden soll die Gemengelage dargestellt werden, die nach dem Konzil im Kommissariat Magdeburg herrschte und die zur Gründung einer innerkirchlichen Protestgruppe mit beigetragen hat.

1.1Krisenhafte Phänomene

Im 20. und 21. Jahrhundert hat der Begriff der „Krise“ in der katholischen Kirche reüssiert. In der historischen Forschung besteht Konsens, dass man die Entwicklungen seit etwa Mitte des Jahrhunderts als „Krisen“45 oder „krisenhafte Phänomene“46 deklariert und damit ein Konglomerat unterschiedlicher Problemkonstellationen meint.47 Durch verschiedene Komposita - „Glaubenskrise“48, „Gotteskrise“49 und „Kirchenkrise“50 - wurden unterschiedliche phänomenologische Annäherungen unternommen. Der Begriff Krise wird dabei ambivalent als eine Infragestellung und kritische Thematisierung von Ideen und vorgegebenen Mustern verstanden.51 Ziel einer kritischen Auseinandersetzung ist dabei weniger ein radikaler Umbruch als vielmehr eine sukzessive Integration konstruktiver Elemente in bisherige Verständnismuster und Praxen. Der Begriff bleibt letztlich ebenso vage wie die von ihm beschriebenen Phänomene unübersichtlich. Für die Gründung des AKH in den späten 60er Jahren scheinen zwei Explikationen dieser krisenhaften Entwicklungen von besonderer Bedeutung gewesen zu sein.

1.1.1„Autoritätskrise“

Auseinandersetzungen um die Legitimität und Authentizität von Autorität waren in den 1960er Jahren internationale gesellschaftliche Phänomene52, die sich spätestens gegen Ende des Jahrzehnts auch in der katholischen Kirche häuften.53

Bereits zu Beginn der 1960er Jahre konnte in der katholischen Kirche in der DDR verschiedentlich Kritik an der Autoritätsausübung festgestellt werden.54 Im Hinblick auf die kirchenpolitisch notwendige Einheit der Kirche versuchte man derartige Tendenzen weitgehend zu delegitimieren bzw. sie als Quertreiberei zu etikettieren.55 Dennoch blieben kritische Wortmeldungen nicht aus. Im September 1966 beklagte Ulrich Mendes in einem Aufsatz der kurz zuvor gegründeten Halleschen „Korrespondenz“56 die „Hypertrophie des Gehorsams und das völlige Fehlen von Demokratie in kirchlichen Bereichen.“57 Der ehemalige Leiter des Hallenser Sprachenkurses Adolf Brockhoff kritisierte die Autoritätsausübung kirchlicher Würdenträger - „Eine Autorität, die uns Kirchenvolk faktisch für inferior hält, ist nicht mehr glaubwürdig.“58 - und skizzierte in verschiedenen Zusammenhängen sein Verständnis von einer authentischen Autoritätsausübung.59 Dass diese durchaus provokanten Auffassungen keine mit dem Verdikt der Illoyalität oder „Nestbeschmutzung“ zu versehenden Einzelerscheinungen waren, zeigt ein Blick auf die Meißner Diözesansynode von 1969-1970, die ebenfalls von einer Autoritätskrise sprach.60

Auch verschiedene Bischöfe erkannten und benannten krisenhafte Phänomene deutlich. Der Paderborner Erzbischof Lorenz Jaeger sah das zentrale Moment dabei in einem übersteigerten Freiheitsbegriff, der die Autonomie des Einzelnen absolut setze.61 Der Kardinal beklagte, dass die Krise „von Monat zu Monat weitere Kreise der Kirche“62 erfasse und das Lehramt der Kirche „unter den Priestern völlig in Vergessenheit“63 geraten sei, ebenfalls „die Kraft der Autorität und die Verpflichtung zum Gehorsam.“64 Zudem sah er ein Gefälle zwischen der Kirche in Ost- und Westdeutschland bei der Ausbreitung dieser Phänomene.65 Weihbischof Rintelen bestätigte seinem Paderborner Vorgesetzten gegenüber, „dass der Virus der Unruhe, der Auflehnung gegen jegliche Autorität, der Anerkennung von Vorgegebenheiten und Bindungen auch [im Kommissariat Magdeburg] die Menschen ergriffen hat.“66 Der Berliner Kardinal Bengsch resümierte hierzu: „Diese Autoritätskrise als ein sich von West nach Ost fortpflanzender Prozess sei eine zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch durch eine noch so gute theologische und innerkirchliche Information nicht zu heilende Krankheit der Kirche.“67

Ein zweites Phänomen der kirchlichen Autoritätskrise stellten Gehorsamsverweigerungen gegenüber dem kirchlichen Lehramt dar.68 Kein anderes päpstliches Lehrschreiben steht so deutlich für verweigerten kirchlichen Gehorsam69 wie die Enzyklika „Humanae vitae“ Papst Pauls VI. vom 25. Juli 1968.70 Auch in Ostdeutschland bildete die Veröffentlichung der Enzyklika eine Zäsur im Ringen um die Legitimität kirchlicher Autoritätspraxis.71 Ein Arbeitskreis von Laien aus dem Erzbischöflichen Kommissariat Magdeburg formulierte in einem Brief an Weihbischof Rintelen: „Wir glauben, dass weder Papst noch Bischöfe ahnen, wie fragwürdig uns die Lehrautorität gerade durch diese Enzyklika zu werden droht.“72 Die Königssteiner Erklärung73 der bundesdeutschen Bischöfe wurde weithin als „Gegennorm“74 zur Enzyklika verstanden und auch von ostdeutschen Katholiken rezipiert.75

Neben der Kritik an der Autoritätsausübung und innerkirchlichen Gehorsamsverweigerungen markierten die damals allgegenwärtigen Forderungen nach einer „Demokratisierung“ der Kirche einen dritten Aspekt der Autoritätskrise.76 Ein einheitliches und reflektiertes Konzept zur „Demokratisierung der Kirche“ existierte nicht. Weder wurde eine Übertragung und Anwendung parlamentarischer Herrschaftsformen auf die Kirche gefordert noch war je eine Abstimmung über das Glaubensgut der Kirche intendiert. Vielmehr ging es verschiedenen Theologen und der Majorität basiskirchlicher Gruppierungen um einen legitimen und theologisch gerechtfertigten Prozess zur Implementierung demokratischer Verfahrens- und Verhaltensweisen in die Struktur der Kirche.77 Wenn Kirche derjenige Ort ist, an dem eine universelle Freiheit erfahrbar und nach außen hin wahrnehmbar sein soll, darf sie selbst keine Tendenzen, Strukturen oder Institutionen aufweisen, die einer verantworteten Entfaltung individueller Freiheitsrechte entgegenstehen.78 Deshalb forderte man u.a. Mitwirkung bei der Bestellung kirchlicher Amtsträger, freie Bildung von kirchlichen Gemeinschaften neben der Organisation durch das Territorialprinzip, ungehinderte Meinungsbildung und Transparenz der Entscheidungsmechanismen.79 Zu einem Kristallisationspunkt in der Debatte um eine Demokratisierung der Kirche wurde die Frage nach der Ernennung und Abberufung von kirchlichen Amtsträgern.80 Vor dem Hintergrund der Volk-Gottes-Ekklesiologie des II. Vatikanums schien vielen Katholiken die weltweit einheitliche Praxis der überwiegenden Nichtbeteiligung von Laien und Priestern bei der Ernennung von Bischöfen anachronistisch.81 An der kirchlichen Basis blieb unverständlich, weshalb es keines transparenten Nachweises zur Befähigung für die Übernahme eines Hirtenamtes in der Kirche bedurfte und all jene, denen ein Bischof oder Priester vorstand, gänzlich unbeteiligt an dessen Auswahl und Benennung blieben. Auch wenn sich die Legitimität des bischöflichen Amtes nicht einer Wahl verdankt, sondern der sakramentalen Weihe sowie der Aufnahme in das Bischofskollegium, haftet der zentralistisch organisierten kirchlichen Personalpolitik das Defizit einer mangelnden ortskirchlichen Beteiligung an.82

Die Demokratisierungsforderungen hatten auf die Autorität in der Kirche insgesamt einen diffusen Einfluss. Vielen Christen verschloss sich die Autorität einer sich selbst einsetzenden und rekrutierenden Hierarchie, die zwar Loyalität und Gehorsam verlangte, sich aber von der Akzeptanz der Christen autark und ihrer Meinung unbeeindruckt zeigte.83 Andererseits offenbarte die Vehemenz der Demokratisierungsforderungen, welchen Wert eine authentische Autorität bei vielen Christen genoss. Das Dilemma bestand letztlich darin, dass die Demokratie sowohl vereinbar als auch unvereinbar mit der katholischen Kirche ist. Das Grundsystem der Demokratie ist mit der Kirche deshalb unvereinbar, weil im Gegensatz zu modernen Staaten nicht die Gläubigen den Souverän der Kirche darstellen, sondern Jesus Christus. Weil das Wesen der Kirche auf den Stiftungswillen Jesu zurückgeführt wird, ist ihre Grundstruktur der Abstimmungsmaterie der Gläubigen entzogen. Zugleich ist die Kirche mit dem System der Demokratie vereinbar. Denn trotz allem gilt, dass die Kirche eine geschichtliche Gemeinschaft von Menschen ist, die sich unter dem Beistand des Heiligen Geistes diejenigen Strukturen und Ämter schafft, derer sie zur Erfüllung ihres Auftrags, Missionarin unter den Völkern zu sein, bedarf. Doch die zuweilen undifferenzierte Anwendung politisch konnotierter Demokratiebegriffe auf die Kirche und unzulässige Verkürzungen konziliarer Aussagen verschärften die fragile Situation oftmals. Zu Recht sahen die Bischöfe in manchen Positionen extreme und zum Teil radikale Tendenzen, die sie in Erfüllung ihrer Aufsichtsfunktion unterbinden mussten.84 Das Gebot der Stunde, autoritäre Maßnahmen und kirchenamtliche Überreaktionen zu vermeiden, um so nicht erneuter Kritik Vorschub zu leisten, fand dabei jedoch nicht immer die notwendige Beachtung. Eng mit der Autoritätskrise verbunden waren krisenhafte Phänomene innerhalb der katholischen Priesterschaft.

1.1.2„Priesterkrise“

Krisenhafte Entwicklungen im Klerus sind für den bundes- und ostdeutschen Katholizismus bereits verschiedentlich untersucht worden.85 Eine zeitliche Einordnung allein auf die 60er und beginnenden 70er Jahre wird allerdings zu beachten haben, dass verschiedene Veränderungen bereits vorher konstatiert werden konnten.86 Von einem Durchbruch dieser Entwicklungen zu einer Krise kann tatsächlich erst in den späten 60er Jahren gesprochen werden.87 Es ließe sich die These vertreten, dass das II. Vatikanische Konzil die schon Ende der 50er Jahre anstehende Debatte über Wesen, Funktion und Aufgabe des Priesters nur verzögerte. Da sich das Konzil ausführlich mit den Bischöfen und Laien beschäftigte, die geweihten Priester aber eher randständig thematisiert wurden, erschienen sie vielfach als die „Verlierer“88 des Konzils, weil die Anfang der 60er Jahre manifest werdenden Probleme unter Priestern keine verbindlichen Antworten der Konzilsväter erhalten hatten.

Der Berliner Erzbischof und Vorsitzende der Ordinarienkonferenz Kardinal Bengsch stellte in einem streng vertraulichen Bericht an den Apostolischen Nuntius in Bad Godesberg im Jahr 1965 fest, dass trotz staatlicher Infiltrationsversuche die Einheit des ostdeutschen Klerus bislang ungebrochen war.89 Diese äußere Einheit gegenüber dem SED-Staat wies nach innen betrachtet eine größere Pluralität auf. Der in der SBZ und späteren DDR wirkende Klerus war durch Flucht und Vertreibung während und nach dem 2. Weltkrieg äußerst heterogen.90 Unterschiedliche Generationen, Mentalitäten und Traditionen trafen im Chaos der ostdeutschen Flüchtlingskirche aufeinander, und dies nicht selten mit gravierenden Schwierigkeiten.91 In dieser ohnehin konfliktreichen Zeit trat das Problem des abnehmenden Priesternachwuchses immer stärker hervor.92 Zugleich markierten verschiedene Reformbemühungen das Aufbrechen statischer Aufgaben und Rollen.93 Der ostdeutsche Klerus stellte dabei keine Ausnahme dar.94 Den bisherigen Darstellungen der Priesterkrise, die vor allem auf die theologischen Ausbildungsstätten in der DDR fokussiert waren, seien im Folgenden zwei Beispiele aus dem Kommissariat Magdeburg hinzugefügt.

Am 2. Oktober 1968 fand auf Initiative und Einladung von Priesteramtskandidaten des Erfurter Alumnats eine Diskussionsveranstaltung mit ca. 100 Theologen und dem „Korrespondenz“-Kreis95 über das „Bild des zukünftigen katholischen Priesters“96 statt.97 Als Grundlage für das Gespräch hatte die „Korrespondenz“ eine vierseitige Ausarbeitung „Zur Person des Pfarrers“ erstellt und zusammen mit einem Anhang über Veränderungen der Priesterausbildung versendet.98 Die leitende These dieses Aufsatzes lautete: „Unter einem Pfarrer stellen wir uns einen Menschen von großer geistiger Vitalität vor, der imstande ist, Leute dazu zu aktivieren, ‚Kirche’ zu bilden.“99 Ausgehend von diesem Grundverständnis schlug der Korrespondenz-Kreis vor, die Gestalt des Pfarrers100 neu zu konstruieren.101 Seine zahlreichen Funktionen als Sacerdos, Presbyteros, Diakonos, Didaskalos und Prophetos würden eine deutliche Überbeanspruchung darstellen. Sie könnten in zwei zentrale Aufgabenbereiche des Organisatorisch-Ökonomischen und des Spirituellen geteilt und unterschiedlichen Personen in den Gemeinden zugewiesen werden.102 Nach Vorstellung der „Korrespondenz“ sollte der „Pfarrer bewusst in den Hintergrund treten und immer mehr Organisationsfunktionen…abgeben.“103 „Nicht der Manager, der Verwalter, der Liturge soll zum Prototyp des Pfarrers werden, sondern der ‚Spiritual‘, der ‚Intellektuelle‘, der ‚Prophet‘.“104 Die Forderung der „Korrespondenz“ nach einem weltlichen Beruf für die Pfarrer war offensichtlich vom Modell der Arbeiterpriester inspiriert und provozierte die Rückfrage eines Erfurter-Theologen: „Ist unser Beruf kein Beruf?“105 Die Diskussion zeigte darüber hinaus, dass große Verunsicherung über das Verhältnis zwischen Priestern und Laien und die jeweiligen Aufgaben herrschte.106

Aufschlussreich und noch konkreter ist zweitens ein Vortragsmanuskript des Hallenser Studentenpfarrers Adolf Brockhoff107 mit dem Thema: „Freiheit des Weltpriesters in der Kirche“108, das eine persönlich gefärbte Situationsanalyse der Lage der Weltpriester vor und nach dem Konzil gibt. Diese Darstellung ist ein Beleg für eine partielle Parallelität der ost- und westdeutschen Entwicklungen und verweist zugleich auf ostdeutsche Spezifika. Adolf Brockhoff unterstrich, dass sich bereits Ende der 1950er Jahre Resignation unter den Priestern breitzumachen drohte109, und bekräftigte, dass sich eine zunehmende Distanz zwischen Bischöfen, Priestern und Laien etablierte.110 Am Beispiel von Paderborner Priestern, die nach ihrer Weihe freiwillig in die SBZ/DDR übersiedelten oder von ihrem Bischof geschickt wurden, stellte er dar, dass sich ein vorkonziliarer Wandel im priesterlichen Selbst- und Rollenverständnis vollzogen hatte. Aufgrund der chaotischen Situation nach dem 2. Weltkrieg habe der Klerus - Brockhoff zählte selbst zu jenen westfälischen Priestern, die freiwillig in die SBZ gegangen waren - „Pionierdienste leisten“111 müssen. Er rekapitulierte die damaligen Entscheidungen und Motivationen des Paderborner Klerus dabei wie folgt: „In einer Welt von Trümmern sind wir dem Rufe gefolgt, der an uns erging, weil wir im Glauben erfahren hatten, dass es nichts Schlimmeres gibt als eine Welt ohne Gott…Wir sind in die Zone gegangen, weil wir der Präsenz dessen dienen wollten, der immer mit dem geschlagenen Volke ist. Wir haben Kirchen und Kapellen und Häuser gebaut, nicht, wie manche Superklugen meinten, um uns selbst zu bestätigen, sondern um in einem handgreiflichen Sinn Brunnenstuben des Lebens zu schaffen. Wir haben die Türen der Pfarrhäuser aufgemacht, nicht weil – wie wieder die Superklugen meinten – wir mit unserer Einsamkeit nichts anzufangen wüssten, sondern weil wir den blutvollen Kontakt mit den Laien wollten. Weil die Taufe eine größere Nähe stiftet als alles andere, warfen wir den Zopf der Standesvorurteile und –unterschiede ab. Die Weihe gab uns keinen Auftrag über das Volk Gottes hinweg, sondern in seinem Herzen. Wir wollten keine primitiven Funktionäre für heilige Dinge sein, die Messen lesen und nach uralter Gewohnheit Predigten heruntersagen. Wir konnten uns keine Heiligung des Lebens vorstellen, die trennt, statt zu vergegenwärtigen. Weil uns das Verständnis abging, wie man redlicher Weise am sakralen Tisch sitzen kann, ohne ihn zum profanen Tisch hin zu erweitern, machten wir die Türen unserer Häuser auf. So halfen wir mit, den vielen Heimatlosen ein wenig Heimat zu geben.“112 Als ostdeutsches Spezifikum ließe sich das Verständnis der Priester charakterisieren, sich stellvertretend für die Laien gegenüber dem Staat zu artikulieren, weil es ihnen ihre abgesicherte Stellung ermöglichte: „Weil wir aus freiem Entschluss in die Zone kamen und aushielten, sind viele geblieben. Weil wir ohne Vorsicht lebten und redeten, schritten immer mehr den Kreis ihrer Freiheit ab, um ihn zu erweitern…Wir haben nicht geschwiegen zur Mauer, zur Sperrzone, zum Fahneneid, zu Sozialisierung. Vor keinem Funktionär schlugen wir die Tür zu. Er ging nicht von unserem Tisch, ohne dass wir Unrecht Unrecht genannt hätten. Wir haben geredet, weil wir die Vertreter der Macht als Menschen ernst nahmen. Wir haben geredet, damit die vielen Laien, die stumm bleiben mussten, ohne Gewissensbisse schweigen konnten.“113 Brockhoffs Ausführungen deuteten an, dass sich ein Wandel im priesterlichen Selbstverständnis weit vor dem Konzil ereignete, der stark von den pastoralen Bedingungen der ostdeutschen Nachkriegszeit bestimmt war. Hinzu kam, dass im Zuge der Liturgischen Bewegung bereits in den 50er Jahren selbstständige Veränderungen der Liturgie vorgenommen wurden, die von einem ausgeprägten priesterlichen Selbstverständnis Zeugnis geben.114 Geradezu zwangsläufig mussten diesen Priestern die mangelnden Ausführungen des Konzils zum speziellen Priestertum negativ auffallen.115 Nach dem Konzil verbreitete sich auch in Ostdeutschland Unsicherheit über die Aufgaben und Funktionen des geweihten Amtes innerhalb des allgemeinen Priestertums. Doch entgegen der vielfach vertretenen Nivellierung der Unterschiede zwischen Priestern und Laien durch die Teilhabe aller am gemeinsamen Priestertum machte sich Brockhoff für die besondere Stellung und Aufgabe der Priester stark.116 Gleichwohl verkannte er weder die Defizite in der Priesterausbildung117 noch die problematische Situation jener Priester, die durch die alltägliche Arbeit hindurch eine authentische Identität suchten.118

Der Hallenser Studentenpfarrer blieb jedoch nicht bei der Kritik stehen, sondern formulierte kontextualisierte Grundelemente eines erneuerten Rollenverständnisses katholischer Priester. Zentral waren dabei die Erfahrungen der Priester im Totalitarismus des SED-Staates und die Rezeption der Aussagen des II. Vatikanischen Konzils. Auf Grund der staatlichen Situation sollte die priesterliche Identitätssuche ihren Ausgangspunkt in einem dualistischen Verständnis von Freiheit nehmen: „Wie können wir uns an der Front der Welt zur Freiheit bekennen, wenn wir sie im Innenraum der Kirche nicht besitzen?“119 Gerade die Liturgiekonstitution Sacrosanctum concilium des II. Vatikanums schien Brockhoff in besonderer Weise geeignet, den Geist der Freiheit in der Kirche und vor allem unter den Priestern zu wecken: „Wer die liturgische Konstitution zu lesen versteht, der weiß, wie hier aller Beckmesserei und allem subalternen, rubrizistischen Geist der Todesstoß versetzt wird. Mit der Konstitution sind wir aus der Fessel juristischer Bevormundung befreit worden. Hier ist der Geist der Freiheit entbunden, den die Kirche bei Priestern und Laien notwendig braucht, um die Fragen der Zeit zu bestehen. Gerade an der Stelle der Liturgie wird deutlich, dass die Kirche uns nicht zu Museumswächtern degradieren will, dass gerade hier die Gabe des Geistes an seine Kirche offengelegt wird, deren sie heute so sehr bedarf: Freiheit.“120 Nach Brockhoff sei das Hören auf diesen lebendigen Geist der Freiheit geeignet, um „alte Rollen abzubauen.“121 Priester seien nicht länger „Zionswächter, die darauf zu achten haben, dass Riten und Gebräuche genau eingehalten werden“122 noch „Wachhunde eines allgegenwärtigen Offiziums, die Häresien wittern“123, und keine „Einpeitscher moralischer Prinzipien, die überall Sünden riechen.“124 Die Priester seien vielmehr berufen, Freiheit erfahrbar zu machen, da die Kirche der Raum sein sollte, in dem „der freie Gott dem freien Menschen begegnet.“125 Trotz latenter Formen der Resignation unter den Priestern warb Adolf Brockhoff für einen Aufbruch: „Wenn wir nur die überkommenen Formeln reproduzieren und wiederkäuen, so machen wir uns selbst untauglich für die große Bewegung der Freiheit. Es kommt auf unsere Initiative an, auf unsere Erfindungsgabe in den Raum der Liturgie hinein…Nur wer die sehr menschliche Freiheit in der Kirche wagt, der wird die geistliche Qualität der evangelischen Freiheit gewinnen“126

Die Diskussionsveranstaltung der Erfurter Priesteramtskandidaten und der Vortrag des Hallenser Studentenpfarrers legten zahlreiche Konfliktfelder offen und deuten auf den damaligen Diskussionsbedarf hin. Es wird aber zugleich deutlich, dass sich die Priester nicht nur als Opfer einer Entwicklung verstanden und ihre Rollenverunsicherung passiv erduldeten. In bestimmten Kreisen begriff man diese Situation durchaus als Kairos. Die Infragestellung der traditionellen Ausrichtung des priesterlichen Lebens auf zeitlose Prinzipien und Forderungen nach Reformen waren in Ost und West ähnlich. Hervorzuheben bleibt allerdings, dass eine Nivellierung des genuin Priesterlichen in der Kirche der DDR trotz mancher Versuche auch deshalb zum Scheitern verurteilt war, weil es den Priestern durch ihre kirchenpolitisch abgesicherte Stellung möglich war, stellvertretend für viele Laien Protest gegenüber dem Staat und seinen Organen zu erheben. In den 60er Jahren organisierten sich verschiedene Gruppen aus Priestern und Laien, die Reformen und Veränderungen in der Kirche und ihrem Verhältnis zum SED-Staat vorbringen wollten.

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