Kitabı oku: «Der Aktionskreis Halle», sayfa 6
„Aus Solidarität mit unserem Bruder und Weihbischof Friedrich Maria Rintelen protestieren wir gegen die Verfahrensweise, mit der über den Kopf hinweg ein Koadjutor ernannt worden ist. Dieses Verhalten halten wir für unbrüderlich und vorkonziliar. Aus gemeinsamer Verantwortung für das Kommissariat erwarten wir auch jetzt noch, dass das Volk Gottes, zumindest aber das Presbyterium, bei der Ernennung eines neuen Bischofs gehört wird, zumal dessen Name bis zur Stunde nicht bekannt ist.“ 302
Für diese bis dahin einmalige Protestnote an den Papst und die Bischöfe, gab es zwei Auslöser. Zunächst ging es dem Magdeburger Priesterrat darum, den betreffenden kirchlichen Stellen „zumindest das Befremden zum Ausdruck zu bringen über diese Verfahrensweise.“303 Zu dieser Zeit wurde das Anliegen, das auch von zahlreichen Gemeinden und Gruppen geteilt wurde304, durch den noch amtierenden Magdeburger Weihbischof unterstüzt.305 Erst in zweiter Hinsicht wurde letztlich der wegweisende Impuls artikuliert, eine dem Gesit des Konzils entspringende Beteiligung des Volkes Gottes bei der Nominierung eines Nachfolgers einzufordern. Diese Chronologie zeigt, dass es sich keinesfalls um eine klerikale Revolte handelte, sondern um eine legitime Solidarisierung aus dem Geist des Konzils, die erst in zweiter Hinsicht der Forderung nach einer breiteren innerkirchlichen Mitverantwortung verpflichtet war. Auffallend ist, dass die offizielle Protestnote des Magdeburger Priesterrates nur wenige Tage später ebenfalls die konziliare Rückgebundenheit sowie innerkirchliche Kritik am Weihbischof thematisierte.306
Durch den zufällig auf der Hallenser Versammlung am 19. Juli anwesenden Priester Leonhard Harding wurden die Erklärung und ein Bericht wenige Tage später an die bundesdeutsche Presse übergeben.307 Ein daraufhin am 24. Juli 1969 erscheinender Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung begründete Rintelens Resignation mit dessen Verärgerung über die Ernennung eines Koadjutors über seinen Kopf hinweg.308 Das Paderborner Ordinariat bemühte sich zwar um ein kurzes Dementi.309 Doch die Geheimhaltung war damit endgültig gebrochen. Wenige Tage später informierten die staatlichen Stellen in der DDR den Berliner Erzbischof darüber, dass sie sich nach der Pressemeldung über den Koadjutor in Magdeburg nunmehr außerstande sähen, einer Wiedereinbürgerung des Paderborner Weihbischofs zuzustimmen.310 Damit war die von langer Hand vorbereitete Ernennung von Paul Nordhues zum Nachfolger für Weihbischof Rintelen zunächst an genau dem gescheitert, was Kardinal Bengsch hatte um jeden Preis verhindern wollen: am Einfluss kirchlicher Kreise und einer staatlichen Intervention in die kirchliche Selbstverwaltung.
2.3Phasen ortskirchlicher Mitbestimmung
Sollte die Nachfolgeregelung für Weihbischof Rintelen, weil sie öffentlich diskutiert wurde auch durch eine Wahl der Ortskirche entschieden werden? Diese Frage spiegelt den Konflikt wider, der das Kommissariat Magdeburg in der zweiten Hälfte des Jahres 1969 sowie zu Beginn des folgenden Jahres dominierte. Diese Zeitspanne lässt sich in drei Phasen unterteilen, mit denen jeweils unterschiedliche Kandidatenvorschläge, Interessenlagen, politische Implikationen und Grade der basiskirchlichen Mitbestimmung verbunden sind.
2.3.1„Stillhalteabkommen“ und hintergründige Diplomatie
Die erste Phase erstreckte sich über einen Zeitraum von vier Monaten und begann mit der Klerusversammlung am 19. Juli 1969 in Halle. Von Anfang an war es das Anliegen der hier versammelten Priester und Laien, nicht nur das Verfahren der geheimen Nachfolgeplanungen zu kritisieren, sondern zugleich Mitbestimmungsrechte anzumelden.311 Dabei ging es nicht um die Einforderung eines bereits kodifizierten Rechtes oder einer dezidiert konziliaren Aussage, sondern um das Äußern einer aufgrund der konziliaren und postkonziliaren Entwicklung als legitim erachteten Bitte.312 Am 3. August klärte Friedrich Maria Rintelen in einem Schreiben an alle Geistlichen des Kommissariates über die bisherigen Ereignisse auf und räumte dem Klerus grundsätzlich ein Vorschlagsrecht für seinen Nachfolger ein.313 Er drängte aber zugleich darauf, die Ernennung des bisher vorgesehenen Koadjutors abzuwarten und im Übrigen jeden Ernannten als rechtmäßigen Bischof und „Gesandten Christi“314 anzusehen. Schon in den ersten Wochen nach Bekanntwerden der Ablösungspläne kursierten verschiedene Namen - vorrangig Dozenten des Erfurter Philosophisch-Theologischen Studiums315 - als mögliche Nachfolgekandidaten für Weihbischof Rintelen. Auf einer Versammlung protestierender Priester und Laien am 10. August in Nienburg erschien plötzlich Weihbischof Rintelen offensichtlich in dem Bemühen zu einer einvernehmlichen Lösung mit dem „rebellierenden“ Klerus zu gelangen.316 Es gelang ihm dabei einen Kompromiss auszuhandeln: Sollte der bisher vorgesehene Koadjutor das Amt nicht antreten können oder wollen, sicherte Weihbischof Rintelen die Übermittlung von alternativen Kandidatenvorschlägen an Kardinal Jaeger zu.317 Im Gegenzug verlangte er, dass es bis zur endgültigen Klärung dieser Angelegenheit keine öffentlichen Proteste, keine Meinungsbildung und keine erneuten Nominationen geben sollte.318 Die Versammelten willigten in diesen Kompromiss ein. Damit war der Protest vorerst kanalisiert und weitere Aktionen der kirchlichen Basis waren einstweilen sistiert.
Mitte August war jedoch vermutlich durch eine „gezielte Indiskretion aus Berlin“319 der Name des vorgesehenen Koadjutors Paul Nordhues im Kommissariat Magdeburg bekannt geworden. Zudem schrieb der im Urlaub befindliche Paderborner Erzbischof am 15. August einen Brief an die Priester seines östlichen Diözesansprengels und bemühte sich darin, die aufgebrachten Gemeinden und Priester zu beruhigen.320 Dieser Brief und der durchgesickerte Name des Koadjutors veranlassten Adolf Brockhoff zu einem Text mit der zunächst unscheinbaren Überschrift „Bemerkungen zum Kardinalsbrief.“321 Diese zweiseitige Abhandlung spiegelt jedoch in zynischer Form die innere und äußere Zerrissenheit der durch die innerdeutsche Grenze geteilten Paderborner Diözesananteile wider.322 Die interne Absprache zur Ernennung eines Koadjutors trüge nicht nur „geheime und patriarchalistische“323 Züge. Brockhoff bezweifelte auch, dass „eine kleine Gruppe von Bischofsmachern auch nur entfernt in der Lage ist, die vielschichtige Situation, in die ein neuer Bischof hineingestellt wird, zu kennen, geschweige denn sie zu berücksichtigen.“324 In provokanter Form forderte er schließlich zur Verweigerung dieser anachronistischen Praxis auf, bei der es „dem Zufall“ überlassen bliebe, wer die „Treppe kirchlicher Karriere nach oben stolpert.“325 Vielmehr sei es die Aufgabe aller Christen, auf den Geist Gottes zu vertrauen, der „der ganzen Kirche mitgeteilt ist“ und „dessen Weisungen aus dem Wechselspiel aller Charismen zu erkennen sind.“326 Statt einen geheim ernannten westdeutschen Bischof in die Kirche der DDR zu schicken, optierte er offen für eine jurisdiktionelle Trennung327 von Paderborn und Magdeburg sowie eine Kandidatenfindung im Geist des Konzils.328 Kardinal Jaeger kommentierte diese Äußerungen nicht. Allerdings vertrat er später immer wieder die Position, dass der entscheidende Grund für die Probleme die staatlich gewirkte Isolation gewesen sei.329
Bis zum Ende der ersten Phase wurde immer klarer, dass die Ernennung des vorgesehenen Kandidaten Paul Nordhues wenig Aussicht auf Erfolg haben würde. Nicht nur die Hallenser Protestgruppe wandte sich in einem Brief an Weihbischof Nordhues, in dem sie die eindringliche Bitte formulierte, das Amt des Koadjutors nicht anzunehmen und von der gegebenen Zustimmung zurückzutreten.330 Die kirchenpolitische Situation ließ die Wiedereinbürgerung von Paul Nordhues schnell zu einem Politikum ersten Grades avancieren. Nach den plötzlich aufgeflammten Protesten in Halle und ihrer Verbreitung in den westdeutschen Medien hatte Rom den gesamten Vorgang vom Staatssekretariat stoppen lassen.331 Während die vatikanische Sistierung kirchenintern bekannt war, erlangte von der staatlichen Verweigerung der Einreisegenehmigung offensichtlich nur ein enger Kreis um Kardinal Bengsch, Nuntius Bafile und Kardinal Jaeger Kenntnis.332 Nach einem Bericht der Paderborner Kirchenzeitung „Der Dom“ erkannte die DDR-Regierung den Trumpf, den sie durch den Wiedereinbürgerungsantrag in Händen hielt. Sie eröffnete der katholischen Kirche, dass eine Wiedereinbürgerung an die Zahlung von einer Million DM sowie an ein offizielles Antragsschreiben des Heiligen Stuhls geknüpft sei.333 Diese staatspolitische Erpressung fiel in eine Zeit politischer Paradigmenwechsel unter der Regierung Willy Brandt.334 Eine Zustimmung zur geforderten völkerrechtlichen Anerkennung der DDR durch den Vatikan hätte die Kirche nicht nur zum unfreiwilligen „Vorreiter der Brandt-Scheelschen Ostpolitik“335 gemacht. Sie hätte ohne zwingende Not eine international höchst brisante Frage präsumiert. Deshalb hielt der Paderborner Erzbischof den Weg, dass sich der Heilige Stuhl direkt an die „Pankower Regierung“ wendet, um die Einreise für Paul Nordhues zu erbitten, für ungangbar: „Ein solches Schreiben würde ein Politikum allererster Ordnung darstellen.“336 Jaeger erläuterte in einem Schreiben an den Nuntius in Bonn: ein „solcher Brief aus Rom an die Regierung in der DDR würde von der derzeitigen Bonner Regierung als Konkordatsverletzung angesehen und von der Weltöffentlichkeit auch gewertet werden als die Anerkennung zweier deutscher Staaten durch Rom.“337 Delikaterweise fügte der Kardinal hinzu, dass nach der bevorstehenden Bundestagswahl am 28.9.1969 und einer möglichen SPD-FDP Regierung ein solcher Brief „nicht mehr so sehr schockieren würde, wie das bei der derzeitigen CDU-Regierung der Fall sein würde.“338 Allerdings könnte die SPD dann die „Kirche vor ihren politischen Wagen spannen“339 und als Legitimation ihrer Ostpolitik instrumentalisieren. Abschließend konstatierte Jaeger die nach seiner Meinung mit der Magdeburger Nachfolgeregelung und einer völkerrechtlichen Anerkennung verbundenen Dimensionen: „Ganz zweifellos würde der Kirche dann ein solcher Schritt von weitesten Kreisen des deutschen Volkes angelastet werden als Preisgabe von 17 Millionen deutscher Menschen an eine kommunistische, nicht frei gewählte Staatsform. Ich sehe in dem Dilemma, in das die Nachfolgefrage von Exzellenz Rintelen hineinmanövriert worden ist, z. Zt. keine andere Lösung, als das Weihbischof Rintelen, der durchaus noch arbeitsfähig ist, noch für einige Zeit in Magdeburg belassen wird…“340
Auch Kardinal Bengsch hatte zwischenzeitlich die diplomatische Brisanz des Einbürgerungsantrages realisiert und sich in einem vertraulichen Memorandum an Nuntius Bafile gewandt.341 Darin unterstrich der Vorsitzende der Berliner Ordinarienkonferenz die Problematik einer völkerrechtlichen Anerkennung durch den Vatikan, sollte dieser einen offiziellen Einreiseantrag stellen müssen. Weil auf diesem kirchenpolitisch und völkerrechtlich höchst brisanten Terrain kaum anzunehmen war, dass der SED-Staat die Wiedereinbürgerung von Weihbischof Nordhues unter ihrem diplomatisch-politischen Wert anbieten würde, plädierte Kardinal Bengsch gegenüber Nuntius Bafile ab Ende September 1969 für eine DDR-interne Lösung der Nachfolgefrage.342
Am Ende der ersten Phase war nicht nur der Berliner Wunschkandidat ausgeschieden, sondern zugleich das mit dem Magdeburger Klerus ausgehandelte Stillhalteabkommen obsolet geworden, das die basiskirchliche Mitwirkung in jener Zeit unterdrückt hatte. Bei der Nominierung eines neuen Kandidaten sollte sich nun erweisen, ob Weihbischof Rintelen und Erzbischof Jaeger dem Geist der innerkirchlichen Reform Raum gewähren würden und deshalb Kandidatenvorschläge des Magdeburger Klerus und der Laien übermitteln, annehmen und sich zu eigen machen würden.
2.3.2Gründungsmythos Bischofswahl
Die zweite Phase ortskirchlicher Mitbestimmung erstreckte sich von November 1969 bis Mitte Dezember 1969 und beschrieb für die katholische Kirche in der DDR ein Novum.
Es ist zunächst festzuhalten, dass Weihbischof Rintelen der Art und Weise des Protestes anlässlich seiner Emeritierung zunehmend ablehnend gegenüberstand.343 Es muss jedoch ausdrücklich betont werden, dass der kirchenrechtlich zuständige Paderborner Erzbischof Lorenz Kardinal Jaeger mehrfach die Möglichkeit eines Mitspracherechtes des Klerus schriftlich und mündlich eingeräumt und seine Bereitschaft signalisiert hatte, Kandidatenvorschläge des Presbyteriums entgegennehmen zu wollen. Diese wollte er in seine Vorschlagsliste einfließen lassen344: „Ich wäre dankbar, wenn der Priesterrat sich Gedanken machen würde über die mögliche Nachfolge, die doch in einer absehbaren Zeit einmal erforderlich werden wird... Ich bin gern bereit, diesen Dreiervorschlag weiterzuleiten. Sagen Sie, bitte, allen Mitbrüdern, dass ich Ärger und die Aufregung, die um sich gegriffen hatten, gut begreife; dass ich ebenso deswegen niemandem gram bin.“345 Eine Begründung, weshalb Kardinal Jaeger diesen Weg beschritt und damit den tradierten Modus einer geheimen Nominierung umging, ist nicht überliefert. Klar ist allerdings, dass der Erzbischof mit diesem Prozedere keine kanonische oder konkordatäre Vorgabe missachtet hat.346 Weihbischof Rintelen hat die Möglichkeit einer Wahl des Presbyteriums nicht annähernd so protegiert wie Kardinal Jaeger.347 Auch die Berliner Ordinarienkonferenz schien von einem solchen Vorgehen nicht begeistert gewesen zu sein.348 Obgleich Rintelen derartigen Entwicklungen distanziert begegnete, hat er sich nicht gegen einen solchen Modus gestellt. Wie Quellenrecherchen in den Unterlagen des DDR-Geheimdienstes nahelegen, haben Jaeger und Rintelen nicht eigenwillig, sondern ausdrücklich mit römischem Placet agiert. Ein von der MfS-Postkontrolle (Abteilung M) abgefangener und kopierter handschriftlicher Brief von Kardinal Jaeger aus Rom an den Magdeburger Weihbischof vom 28. November 1969 konstatiert hierzu knapp, aber unmissverständlich: „Deine Vorstellungen habe ich hier vorgetragen und Verständnis gefunden. Es wird trotzdem eine Dreierliste verlangt, wenn man auch Deinen Wünschen Rechnung tragen wird.“349 Diese, von Kardinal Jaeger bewusst350 knapp gehaltene Darstellung lässt den Schluss zu, dass man in Rom nicht nur von dem angestrebten Wahlverfahren durch den Magdeburger Klerus Kenntnis besaß, sondern es unter Wahrung einer gewissen Formpflicht durchaus billigte.351 Für eine solche Interpretation spricht auch ein Hinweis aus der Korrespondenz des Apostolischen Nuntius in Deutschland Erzbischof Konrad Bafile. Offensichtlich hatten kurze Zeit später noch weitere deutsche Diözesen Klärungsbedarf in der Frage einer möglichen Beteiligung von Priestern und Laien bei der Erstellung von Vorschlagslisten für die Benennung von Bischöfen und Auxiliarbischöfen angemeldet. In seinen Antworten an den Kapitelsvikar von Meißen Heinrich Bulang352 und an Kardinal Döpfner353 in München deutete Nuntius Bafile an, dass der Vatikan in Erwartung einer „Neuregelung des Fragenkomplexes ‚de proponendis ad Episcopatum‘ “354 sei und bis dahin ein entsprechender Modus der Diözese Aachen Anwendung finden könne, der die geheime Beteiligung der Diözesanräte vorsähe.355 Auch wenn damit kein demokratischer Automatismus für die katholische Kirche in Gang gesetzt wurde, zeigen diese Beispiele dennoch, dass ein solches Vorgehen nicht nur stillschweigend durch den Vatikan geduldet wurde. Vielmehr wurde es in Vorbereitung einer offensichtlich weitreichenden Neuregelung der Materie als sinnvoll und statthaft angesehen, die Ortskirche bei der Kandidatenfindung in breiterem Umfang zu beteiligen als bisher. Nach den Magdeburger Vorgängen 1969 blieb die Beteiligung des Presbyteriums bei der Erstellung von Kandidatenlisten in der DDR kein Einzelfall. Sie fand mindestens noch in Görlitz 1971 statt.356 Zu der in Aussicht gestellten Neuregelung durch den Vatikan ist es letztlich nicht gekommen; auch die geheime Beteiligung des Presbyteriums bei der Nominierung möglicher Kandidaten geriet in der DDR spätestens Anfang der 1980er Jahre ins Wanken.
Bevor es im Herbst 1969 um Kandidaten und deren Wahl gehen konnte, musste ein tragfähiger Nominierungsmodus gefunden werden. Obwohl Wahlen für die katholische Kirche an sich kein Novum darstellten, ist eine derart breit angelegte Bischofswahl seit Jahrhunderten nicht praktiziert worden. Der Priesterrat und Weihbischof Rintelen sahen sich dabei in die Pflicht genommen. Der Vorschlag des Priesterrates wurde auf seiner Sitzung am 10. November verabschiedet und beinhaltete folgende Eckpunkte: Jeder Geistliche des Kommissariates Magdeburg sollte anonym einen oder mehrere Kandidatenvorschläge über den zuständigen Dechanten nach Magdeburg schicken. Die fünf Kandidaten mit den meisten Stimmen sollten dem Klerus bekannt gemacht und zur Wahl gestellt werden. Die Priester könnten schließlich anonym aus diesen fünf Kandidaten einen über die Dechanten wählen. Weihbischof Rintelen sollte mit zwei Vertretern des Priesterrates die Wahlzettel auswerten und unter strenger Geheimhaltung das Ergebnis an Kardinal Jaeger übermitteln.357 Weihbischof Rintelen hatte diesem Modus noch am selben Tag zugestimmt. Nachträglich waren ihm jedoch Bedenken gekommen und teils zugetragen worden.358 Ohne den Priesterrat nochmals mit dem Thema zu befassen, suspendierte der Weihbischof das Votum seines Beratergremiums und wandelte es am 29. November nach eigenem Ermessen ab.359 Ausschlaggebend für ihn war, dass die öffentliche Nominierung von fünf Kandidaten die Entscheidungsfreiheit des Heiligen Stuhls einengen könnte, sollte sich dieser für keinen der Vorgeschlagenen entscheiden können. Aufgrund einer Mitteilung von Kardinal Jaeger, dass mit der Ablösung Rintelens im Frühjahr 1970 gerechnet werden müsse, sah Weihbischof Rintelen nach eigenen Angaben keine Zeit mehr, sich mit dem Priesterrat abzustimmen.360 Darüber hinaus musste sich Friedrich Maria Rintelen gegenüber verschiedenen Standpunkten innerhalb des Presbyteriums positionieren. Über 100 Priester hätten sich gegen den Vorschlagsmodus des Priesterrates und gegen die zwischenzeitlich aufgekommene Forderung nach einer Vollversammlung des Klerus ausgesprochen.361 Stattdessen sollte die Kandidatenaufstellung entsprechend der Nomination eines Dechanten durch geheime, anonyme und direkte Wahlen erfolgen. Andere Priester hätten sich überhaupt gegen eine Beteiligung des Presbyteriums gestellt.362 Infolge der Bedenken und des Zeitdrucks entschied sich Rintelen für ein geheimes Votum entsprechend der Dechantenwahl, das er ohne Kommentierung nach Paderborn weiterleiten wollte.363 In der Anlage zu seinem Brief vom 29. November lag ein vorgefertigter offizieller Stimmzettel für alle Geistlichen des Kommissariates. Friedrich Maria Rintelen befürchtete bereits beim Verfassen seines Schreibens, dass diese kurzfristigen und eigenverantwortlichen Veränderungen auf Unverständnis treffen und Verärgerungen provozieren könnten. Die anschließenden Reaktionen der Mitglieder der Hallenser Gruppe kamen daher nicht unerwartet. Bereits am 1. Dezember verfasste der Nienburger Pfarrvikar Willi Verstege einen Brief an Rintelen, in dem er seiner Enttäuschung und Desillusionierung Ausdruck verlieh.364 Zwei Tage später lud ein Brief der Hallenser Gruppe für den 9. Dezember, einen Tag vor Rintelens 70. Geburtstag, zum Gespräch nach Nienburg ein.365 Die apodiktische Formulierung „Gespräch oder Spaltung, das ist die Alternative“ 366 löste heftige Reaktionen im Presbyterium aus und offenbarte seine innere Zerrissenheit. Die Hallenser Gruppe wandte sich einerseits gegen die Düpierung des Priesterrates durch Weihbischof Rintelen, der einen Beschluss von sich aus annulliert und damit die Verbindlichkeit der kurz zuvor errichteten Rätestrukturen grundsätzlich infrage gestellt hatte.367 Andererseits kritisierte man den geheimen und kleruszentrierten Wahlmodus und bat alle Priester, die verschickten Stimmzettel noch nicht auszufüllen.368 Das Treffen in Nienburg vermochte allerdings weder den Wahlmodus hinsichtlich einer Beteiligung der Laien zu ändern noch die Stellung des Priesterrates gegenüber dem Weihbischof zu stabilisieren. Es verzögerte lediglich die Abgabe der Stimmzettel und ließ eine letzte Meinungsbildung zu. Am 13. Dezember 1969 wählte das Presbyterium des Erzbischöflichen Kommissariates Magdeburg durch eine geheime Abstimmung drei Priester, die Kardinal Jaeger für seine Vorschlagsliste verwenden wollte.369
Der von Weihbischof Rintelen festgesetzte Wahlmodus erlaubte allerdings keine vorherige öffentliche Aufstellung von Kandidaten, sondern sah nur eine direkte und geheime Briefwahl des Klerus vor.370 Die fehlende Nominierungsmöglichkeit und die absolute Geheimhaltung der Ergebnisse verhinderten eine transparente Beurteilung der Wahl und leisteten so Spekulationen Vorschub, es sei zu Unregelmäßigkeiten gekommen.371 Nach Abgabe der Stimmen wurde das Ergebnis von Weihbischof Rintelen nach Paderborn geschickt.372 Lange Zeit existierten nur vage Vermutungen, welche Kandiaten aus der in dieser Form bislang einzigartigen Wahl hervorgegangen waren. Erst jüngste Quellenrecherchen im Nachlass des Paderborner Erzbischofs Lorenz Kardinal Jaeger geben nun zuverlässig Auskunft über die damaligen Vorgänge.
Auch wenn es offiziell zu keiner Nominierung kam, ergeben sich aus der Quellenlage verschiedene Kandidatenvorschläge. Zunächst sind die drei Professoren des Erfurter Philosophisch-Theologischen Studiums Lothar Ullrich, Franz-Peter Sonntag und Heinz Schürmann zu nennen.373 Sie dürften aufgrund ihrer Bekanntheit und ihrer theologischen Qualifikation ins Gespräch gebracht worden sein. Aussichtsreichster Kandidat unter diesen Dreien war sicher der international renommierte Exeget Heinz Schürmann, der als Paderborner Diözesanpriester selbst dem Magdeburger Presbyterium angehörte. Als Schürmann von seiner inoffiziellen Nominierung durch den Dechanten von Aschersleben Adolf Betz erfuhr374, wandte er sich in einem persönlichen Brief an den Paderborner Erzbischof.375 Schürmann brachte drei Argumente gegen seine Nomination vor: erstens sei er seit 23 Jahren der Seelsorge entzogen und die vielfältigen, vor allem kirchenpolitischen Herausforderungen eines solchen Amtes traute er sich nicht zu.376 Zweitens sei es zwischen 1957 und 1960 zu einem Erpressungsversuch durch das MfS gekommen.377 Schließlich habe er mit Weihbischof Aufderbeck gesprochen. Zusammen sei man zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Fortgang aus Erfurt schwierig sei, da mehrere Professoren an der Emeritierungsgrenze stünden. Zudem habe er den Ruf anderer Hochschulen stets abgelehnt, um in Erfurt arbeiten und lehren zu können.378 Die Antwort Kardinal Jaegers bestätigte zwar die aussichtsreiche Nominierung.379 Sie war aber zugleich geeignet, Schürmanns Befürchtungen, Erfurt verlassen zu müssen, weitgehend zu zerstreuen.380 Wenngleich auch andere Kreise des Magdeburger Klerus den Erfurter Neutestamentler favorisiert hatten, war seine Nominierung nicht unumstritten.381
Ein zweiter Name wurde von verschiedener Seite immer wieder für die Nachfolge Rintelens genannt: Prälat Johannes Braun. Als Leiter des Magdeburger Norbertuswerkes war er nicht nur der Magdeburger und Paderborner Diözesanverwaltung bekannt, er erfreute sich auch unter den Absolventen dieser Einrichtung großer Beliebtheit.382 Aufgrund der örtlich stark gebundenen Tätigkeit im Norbertinum schränkte sich seine Bekanntheit im Presbyterium jedoch auf einen überschaubaren Personenkreis ein. Zu diesem Kreis gehörte auch der Magdeburger Personalreferent und Sekretär des Weihbischofs, Prälat Heinz Jäger.383 In Vorbereitung auf die Wahl des Koadjutors engagierte sich Prälat Jäger offensichtlich besonders für seinen langjährigen Freund und Weggefährten.384 Gegen Jägers Protegé waren zu jener Zeit acht Karikaturen von Pfarrer Theo Mechtenberg in Umlauf gebracht worden, die Prälat Braun in Anspielung auf den gleichnamigen Hersteller von Rasierapparaten persiflierten.385 Mechtenberg wollte nach eigener Aussage durch die Zeichnungen und Verse zur „heilsamen Entkrampfung“386 der Situation beitragen, erreichte aber mit Kommentaren wie „Braun rasiert an allen kritischen Stellen“387 nicht selten das Gegenteil. Aufschlussreiche Informationen über die Nominierung Brauns ergeben sich auch aus dem Nachlass von Kardinal Jaeger. Sowohl der Spiritual des Magdeburger Norbertuswerkes Dieter Lehnert als auch der Magdeburger Pfarrer Heinrich Behrens und nicht zuletzt Friedrich Maria Rintelen selbst warben gegenüber dem Paderborner Erzbischof sowie dem Nuntius für Prälat Braun als neuen Magdeburger Weihbischof und trafen damit offensichtlich auch die Vorstellungen des Paderborner Kirchenfürsten.388 Jaeger selbst kannte Braun seit „seinen Gymnasialjahren in Dortmund“389 und hat ihn bereits am 15. November 1969 gegenüber dem Apostolischen Nuntius als seinen Wunschkandidaten für Rintelens Nachfolge präsentiert.390 Zudem hatte Geistlicher Rat Franz Wiemers aus Winterstein, ein enger Vertrauter391 Jaegers, dem Paderborner Erzbischof nach einem vierwöchigen Aufenthalt im Kommissariat Magdeburg im Dezember 1969 mitgeteilt, dass „Braun am stärksten ins Gespräch gekommen ist als künftiger Kommissar in Magdeburg.“392 Es dürfte daher nicht nur eine nachträgliche Legitimierung darstellen, wenn Erzbischof Jaeger kurz vor der Weihe Brauns bemerkte: „Ich weiß, was er [Braun, SH] für ein edler Mensch, sauberer Charakter und tieffrommer Priester ist. Ich wüsste unter dem Klerus des Kommissariates niemanden, der so viele gute Voraussetzungen mitbrächte für die Verwaltung des bischöflichen Amtes.“393
Als dritter und wohl nicht minder aussichtsreicher Kandidat neben Professor Schürmann und Prälat Braun wurde der Erfurter Weihbischof gehandelt. Hugo Aufderbeck wurde 1936 zum Paderborner Diözesanpriester geweiht, war seit 1938 Pfarrer in Halle und wirkte von 1948 bis 1962 als Seelsorgeamtsleiter des Kommissariates Magdeburg.394 Über ein Jahrzehnt war er einer der pastoralen Vordenker des Kommissariates und durch die zentrale Tätigkeit überall bekannt. 1962 wurde er zum Fuldaer Auxiliarbischof mit Sitz in Erfurt ernannt. Aufderbeck wurde bereits im Mai 1969, also noch vier Wochen, bevor Weihbischof Rintelen selbst darüber informiert wurde, dass er einen Koadjutor bekommen würde, als möglicher Nachfolger zusammen mit Heinz Schürmann vorgeschlagen.395 Dieser Vorschlag ging nicht auf eventuelle Rücktrittsabsichten Rintelens, sondern auf Kritik an seiner Amtsführung zurück.396 Aufgrund seiner wegweisenden pastoralen Tätigkeit und seiner zahlreichen persönlichen Kontakte ins Kommissariat war Aufderbecks Nominierung keine Überraschung.397 Auch Heinz Schürmann warb vermutlich nicht nur in Paderborn für den ehemaligen Magdeburger Seelsorgeamtsleiter. Aufderbeck traute man es wohl noch am ehesten zu, die Spaltungen im Kommissariat sowie in der Ordinarienkonferenz überbrücken zu können.398 Wieviel Aussicht auf Erfolg dieser Kandidat tatsächlich hatte, kann nun erstmals an bislang unerforschten Quellen belegt werden. Offensichtlich war Hugo Aufderbeck der Wunschkandidat Roms. Dies deutet sich zumindest aus einem Brief des Paderborner Erzbischofs an den Apostolischen Nuntius vom 15. November 1969 an: „Euer Exzellenz teile ich ergebenst mit, dass ich mit Herrn Bischof Bolte, Fulda, gesprochen habe. Er war entsetzt. Trotzdem würde er selbstverständlich nicht nein sagen, wenn der Heilige Stuhl an ihn die Forderung auf Freigabe seines Weihbischofs richten würde.“399 Offensichtlich war die Nominierung Aufderbecks durch Rom keine rein fiktive Option. Andernfalls hätte man kaum den Vorgesetzten Aufderbecks, den aufgrund dieser Anfrage „entsetzten“ Fuldaer Bischof Bolte um eine Stellungnahme ersucht. Dass Hugo Aufderbeck kurz davor stand, neuer Magdeburger Weihbischof zu werden, ergibt sich auch aus den Einlassungen Kardinal Jaegers, die an Deutlichkeit kaum zu überbieten sind: „Ich sage aber noch einmal, so lieb mir dieser Nachfolger wäre, so groß und menschlich schwer tragbar wäre eine solche Forderung für den Betroffenen. Er sollte mit auf die Liste gesetzt werden. Aber andererseits bitte ich, dem Apostolischen Stuhl mitzuteilen, dass man tunlichst eine andere Wahl treffen würde.“400 Dass der Erfurter Weihbischof nach diesem Brief noch eine reale Chance besaß nach Magdeburg transferiert zu werden, selbst wenn er die Wahl des Klerus hätte für sich entscheiden können, darf bezweifelt werden. Ob dies allerdings überhaupt in seinem Interesse gelegen hat, kann anhand von Quellen nicht eruiert werden.
Nach Wahrnehmung von Willi Verstege und der Hallenser Protestgruppe hatte sich am Vorabend der Wahl im Dezember 1969 der Klerus in drei Fraktionen geteilt: Die erste Gruppe sammelte sich um den Namen Johannes Braun.401 Über die Anhängerzahl wird keine Auskunft gegeben. Eine zweite „kleinere Gruppe erklärte sich außerstande, diese Wahl ernst zu nehmen.“402 Die dritte „große Gruppe“403 „glaubte sich schnell auf einen Kandidaten einigen zu müssen“404 und nominierte deshalb den früheren Magdeburger Seelsorgeamtsleiters Hugo Aufderbeck.405 Aufgrund der Geheimhaltungsklausel wurde das gesamte Ergebnis der Wahl nie veröffentlicht.406 Weihbischof Friedrich Maria Rintelen hatte das Ergebnis der geheimen Wahl nach Paderborn geschickt, aufgrund der Brisanz des Briefes und der DDR-Postkontrolle vermutlich durch einen vertrauenswürdigen Kurier. Ob der Weihbischof die Stimmen alleine ausgezählt hat oder zusammen mit zwei Mitgliedern des Priesterrates, wie von ihm angekündigt407, lässt sich nicht mehr ermitteln. Laut offizieller Stimmauszählung hatten 216 der über 300 wahlberechtigten Priester einen Wahlzettel abgegeben. Platz eins nahm mit 61 Stimmen Prälat Johannes Braun, Platz zwei mit 53 Stimmen Professor Heinz Schürmann und Platz drei mit 51 Stimmen Weihbischof Hugo Aufderbeck ein.408