Kitabı oku: «Was Menschlich Ist», sayfa 5

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12

Chris

10. November

Erde

Sekunden später schlug Chris eine höllische Hitze ins Gesicht, und wider Erwarten ging er nicht in Flammen auf. Es brauchte einige Sekunden und mehrere Schreie von irgendwo über ihm, bis er einigermaßen verstand, was passiert sein musste: Dorian hatte Adrian abgefangen, von Chris weggezerrt und sie beide in die Luft befördert, wo sie nun aufeinander losgingen. Adrian schrie Dorian währenddessen eine nicht enden wollende Schimpftirade entgegen, bei der sich Chris schon nach wenigen Worten die Ohren auswaschen wollte.

Mit zitternden Knien sank er zurück ins Gras, als ihn eine erneute Schockwelle erfasste, und schaute dem Geschehen kopfschüttelnd weiter zu. Jedes Mal, wenn sich Adrian dem Boden näherte, stieß Dorian ihn zurück in die Luft und weiter von Chris weg.

›Er verteidigt mich‹, dachte er langsam. ›Erst entführt er mich und jetzt rettet er mir vielleicht das Leben. Was ist los mit ihm?‹

Adrian wich Dorian aus und schlug ihm danach so heftig in den Bauch, dass die Luft um ihn herum bebte. Dorian taumelte und fiel mehrere Meter tief, bevor er sein Gleichgewicht wiederfand, während Adrian sich umwandte und Chris grinsend ins Gesicht sah.

Chris überlegte kurz, sich einfach zu ergeben, aber am Ende überwiegte sein Überlebensinstinkt. Er kam auf die Beine, stieg mit einem Flügelschlag in die Luft und sah Adrian unter sich ins Leere schlagen. Eine Stichflamme loderte Sekunden später an der Stelle auf, an der er gerade noch gesessen hatte.

Dorian kam ihm entgegen. Es sah wie ein Angriff aus, bis er im letzten Moment bremste und eine Handbreit vor Chris zum Stehen kam. »Weg von hier!«

›Guter Witz.‹ »Wohin denn?«

Darauf wusste er offenkundig keine Antwort. Zeit zum diskutieren hatten sie allerdings ohnehin nicht, denn Adrian schoss auf sie beide zu. Dorian streckte einen Arm aus und kurz darauf wurde Chris von einer unsichtbaren Macht mehrere Meter rückwärts gestoßen. Er verlor das Gleichgewicht, stürzte nach unten und konnte sich gerade genug bremsen, um sich beim Aufprall nicht alle Knochen zu brechen. Kurz flackerten schwarze Punkte vor seinen Augen.

In der Luft schlugen die Angriffe der beiden Engel unterdessen Wellen im Nebel. Dorian tauchte unter Adrian hindurch und auf dessen Rückseite wieder auf, legte ihm eine Hand auf den Rücken, direkt zwischen die Flügel. Im nächsten Moment stürzte Adrian in freiem Fall Richtung Wald und verschwand mit einem lauten Schrei zwischen den Baumkronen.

Dorian landete mit einem leidenden Gesichtsausdruck. Wieder stand er Chris zunächst regungslos gegenüber und überlegte sichtlich, was er sagen sollte. »Er wird wiederkommen. Weg von hier.«

Sie stiegen erneut in die Luft, Dorian hielt mitten auf die Großstadt zu. Chris warf einen Blick zurück und erschrak, als er feststellte, dass sowohl der Wald als auch die Wiese so verwüstet aussahen, als hätte dort gerade ein Sturm gewütet. Bäume waren entwurzelt und jegliches Laub von den Ästen gerissen worden, die Erde aufgewühlt und das Gras niedergedrückt. Von der Scheune fehlte jede Spur.

»Ach du Scheiße«, murmelte Chris. Wind und Nebel verschluckten seine Worte. ›Wenn sie das ohne Probleme anrichten können, wie hab ich dann bis hierhin überlebt?‹

Chris hatte geglaubt, mittlerweile Fliegen gelernt zu haben, doch jetzt kam er Dorian kaum hinterher. Erst wollte er den Engel einfach ziehen lassen und entschied sich im letzten Moment dagegen. »Warte!«

Dorian bremste und schwebte auf der Stelle, bis Chris zu ihm aufgeschlossen hatte.

»Ich kann nicht schneller«, erklärte er und bekam wie zur Bestätigung direkt Seitenstechen. »Und… und ich kann auch nicht mehr.«

»Oh«, machte Dorian, als käme das vollkommen überraschend für ihn. »Ein bisschen weiter noch.«

»Ich geb mein Bestes.«

»In der Nähe von Menschen ist es sicherer. Sie wollen nicht auffallen.«

»Okay. Gut.« Chris atmete tief ein und mobilisierte, was sich wie seine letzten Kräfte anfühlte. Hoffentlich fiel er nicht vom Himmel. »Was genau willst du eigentlich von mir?«

Dorian schüttelte nur den Kopf.


13

Dorian

10. November

Erde

Abgesehen von einem Dach über dem Kopf bot die Bauruine so gut wie keinen Schutz. Der Beton und die Ziegelsteine sahen aus, als wären die Arbeiten schon vor langer Zeit aufgegeben worden, eine Wand war zur Hälfte eingestürzt, und im Garten wuchs das Unkraut unkontrolliert vor sich hin. Wie ein Schandfleck stand das Gebäude am Rande der Siedlung in gebührendem Abstand zu den restlichen Häusern und Dorian wunderte sich, weswegen es noch niemand abgerissen hatte.

Nachdem sie gelandet waren, hatte er sich mit der Ausrede entschuldigt, etwas Essbares zu suchen. Nicht nur, um Chris und sich wieder auf die Beine zu bekommen, sondern auch, weil Herumschleichen, Auskundschaften und Einbrechen Routine bedeutete. Nur ein gewöhnlicher Auftrag. Völlig an der Realität vorbei.

Die gewohnten Abläufe beruhigten ihn. Dorian ging einmal um das Haus herum, immer im Schatten verborgen, und spähte durch die Fenster auf der Suche nach Lebenszeichen. Innen fand er keine Menschen, in der Garage kein Auto, dafür allerdings einen Stapel Zeitungen vor der Haustür. Gut.

Mit einem Flügelschlag überwand Dorian den Gartenzaun, landete auf der anderen Seite und rutschte fast auf den feuchten Terrassenfliesen aus. Er streckte sich, ging vorsichtig zur Tür herüber und trat mit voller Wucht auf die Scheibe ein, sodass sich Scherben in jede Richtung verteilten. Normalerweise legte Dorian Wert darauf, weder Lärm zu machen noch Spuren zu hinterlassen, aber gerade brachte er die Konzentration nicht dafür auf. Und wenn jemand nach ihm suchte, sah das hier nicht nach seiner Methodik aus.

Der Gedanke stoppte ihn mitten in der Bewegung. ›Ob wohl jemand außer uns nach Chris sucht? Hat er Freunde und Verwandte, die ihn jetzt vermissen? Habe…‹ Allein bei der Überlegung wurde Dorian übel. ›Habe ich Freunde und Verwandte gehabt?‹

Die Scherben knirschten unter seinen Stiefeln, als er ins Haus trat, bohrten sich aber nicht tief genug in die Sohlen, um ihn zu verletzen. Mit schnellen Schritten ging er durchs Wohnzimmer, fand die Küche und klemmte sich als erstes zwei Wasserflaschen unter den Arm, die einsam auf der Arbeitsplatte standen. Er durchsuchte eine Handvoll Schränke und stieß erst nur auf Töpfe, Pfannen und Geschirr, bevor er den Kühlschrank öffnete. Außer ein paar Früchten nahm er nichts mit, denn den Inhalt der Plastikpackungen und Glasflaschen kannte er nicht.

›Isst Chris solche Sachen?‹, dachte Dorian. ›Und wenn ich ihn frage, glaube ich ihm dann?‹

Beim Hinausgehen entdeckte er im Wohnzimmer eine zusammengefaltete Decke auf dem Sofa liegen und Dorian nahm sie spontan auch noch mit. Der Morgen mochte zwar schon ein paar Stunden alt sein, doch es wollte und wollte nicht wärmer werden und sie hatten wahrscheinlich beide genug gefroren.

Dorian verließ das Haus durch die Vordertür, hielt einen Moment lang inne und flog schließlich zurück zur Bauruine. Seine Flügel trugen ihn automatisch in die richtige Richtung.

Der Mensch saß immer noch genau so in dem Raum, wie Dorian ihn zurückgelassen hatte. Durch die harten Schatten und das kalte Licht von draußen sah Chris kreidebleich aus, seine Augenringe wie mit schwarzer Tinte gemalt. Die dunkelbraunen, beinahe kinnlangen Haare fielen ihm strähnig und verschwitzt in die Stirn. Um seinen Hals hing ein silbriger Anhänger, den er mit abwesender Miene zwischen den Fingern drehte. Die Flügel spreizten sich in einem merkwürdigen Winkel von seinem Rücken ab, damit sie den Beton nicht berührten und das Zittern machte nur allzu deutlich, wie anstrengend das sein musste.

Dorian flog zielsicher durch das Loch in der Wand, landete und zog seine eigenen Flügel ein, ehe er zu Chris herüberging. Der blinzelte daraufhin mehrmals und schüttelte den Kopf. »Wie hast du-«

»Die Flügel sind zu empfindlich, um sie jederzeit offen zu tragen. Wenn wir nicht fliegen müssen, ziehen wir sie ein.«

»Wie soll das… Dreh dich mal um.«

Bei jeder anderen Person hätte Dorian befürchtet, sie wollte ihm in den Rücken fallen, aber hier erschien ihm das Risiko klein genug. Wirklich wohl fühlte er sich trotzdem nicht dabei.

Eine Weile lang blieb Chris still und begutachtete vermutlich die zwei offenen Wunden auf Dorians Rücken, die sich dort anstelle seiner Flügel befanden. Natürlich waren auch sie empfindlich, aber damit konnte man in der Regel deutlich besser umgehen als mit zwei riesigen gefiederten Gliedmaßen.

»Wie?«, fragte Chris schließlich noch einmal.

Dorian zögerte und musste ernsthaft nachdenken, ehe er auf eine Antwort kam. Er hatte nie eine Anleitung gebraucht, als gefallener Engel gehörte er in die Luft. Fliegen fühlte so natürlich an wie Atmen – das hatte Luzifer gesagt. Impliziert.

Er senkte den Blick. Wenn er wirklich gefallen war, müsste er sich dann nicht daran erinnern können, auch im Himmel geflogen zu sein? Kein konkretes Bild tauchte in seiner Vorstellung auf. Es warf Dorian so sehr aus der Bahn, dass er Chris völlig vergaß, bis der ihm auf die Schulter tippte.

Dorian fuhr zusammen und ließ die Decke und das Wasser fallen. Die Fragen blieben. Die Erinnerungslücken auch. »Flügel sind Ausdruck und Quelle unserer Macht«, erklärte er hastig. »Ohne Flügel sind wir nicht mehr als Menschen. Ohne sie könnten wir nicht leben.« Schon beim Gedanken daran wurde ihm schlecht. Dämonen machten Witze darüber, Engeln die Flügel auszureißen, wenn sie sich Luzifers Diener zuverlässig vom Leib halten wollten.

»Ich bin menschlich, auch wenn ich- Egal.« Chris seufzte. »Ich will also drauf aufpassen. Was muss ich machen, um sie, äh, einzuziehen?«

»Schwer zu erklären.« Weil Dorian sich denken konnte, wie hilfreich diese Antwort war, riss er sich zusammen. »Stell dir vor, du ziehst sie in deinen Körper. Das sollte funktionieren.«

Chris nickte offenkundig wenig überzeugt, schloss aber die Augen und schien es zu versuchen. Einen Moment später waren die Flügel spurlos verschwunden, woraufhin er sichtlich erleichtert aufatmete.

Dorian reichte ihm die Decke, eine Flasche Wasser und kramte einen Apfel aus seinen Manteltaschen, ehe er sich ihm gegenüber an den intaktesten Teil der Wand setzte. »Hier.«

Chris begutachtete alles mit skeptischem Blick, nahm es aber schließlich mit einem gemurmelten »Danke« an. Er wickelte sich in die Decke ein, trank die Flasche in einem Zug halb leer und legte den Apfel neben sich auf den Boden. »Was ist passiert, dass du mir jetzt auf einmal helfen willst?«

»Wer bist du?«, erwiderte Dorian. Eine sinnvollere Antwort wusste er nicht.

»Mein Name ist Chris. Ich bin ein Mensch, den du in die Hölle entführt hast und der danach aus welchen Gründen auch immer mit Flügeln aufgewacht ist.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was du sonst noch von mir hören willst.«

›Er ist ein Mensch.‹ Je öfter Chris das wiederholte, desto weniger hörte es wie Unsinn an.

»Ich habe nichts gesehen«, murmelte Dorian unwillkürlich und wollte sich an den Worten festhalten, aber sie zerronnen ihm zusehends zwischen den Fingern. »Ich habe nichts gesehen.«

Chris legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. »Du warst doch die ganze Zeit bei mir, oder nicht?«

»Ich…«

»Warte. Fangen wir ganz von vorne an.« Dorian hatte erwartet, dass Chris wütend klang, verletzt, und in jedem Fall deutlich emotionaler. Stattdessen machte er den Eindruck, als wollte er ein Rätsel lösen und bräuchte noch mehr Hinweise. »Luzifer schickt euch auf die Erde, um Menschen umzubringen. Aber nach welchen Kriterien sucht er seine Opfer aus?«

»Meistens gibt er uns nur ein Gebiet auf der Erde vor«, antwortete Dorian. »Wen wir dort töten, bleibt uns überlassen.«

Mit einem tiefen Seufzen legte Chris den Kopf in den Nacken und starrte einen Moment lang Löcher in die Luft. »Das heißt, das alles war nur reiner Zufall?«

»Ja.« Das Wort hing bleiern in der Luft und verlangte nach Fortsetzung. »Es tut mir leid.«

Ein mattes Lächeln schlich sich auf Chris’ Gesicht, gab aber keine Auskunft darüber, ob er Dorian glaubte oder nicht. »Du wusstest es nicht besser, oder?«

»Nein.« Bis vor zwei Wochen hatte Dorian nie auch nur eine unnötige Frage gestellt, und jetzt rieselten sie kontinuierlich auf ihn herab wie Staub von der baufälligen Decke. Dieses Gespräch sollte ihm vor Augen führen, dass Luzifer Recht behielt, und die Welt noch genauso funktionierte wie vor zwei Wochen. Doch mit jedem gewechseltem Wort fühlte er eine fremde Art von Schuld in sich wachsen, ein Bedauern gegenüber jemandem, der ihm völlig fremd sein sollte. Dorian sollte Chris hassen, aber stattdessen kam er sich in seiner Unsicherheit beinahe verstanden vor.

Er musste fragen. »Bist du wütend?«

»Ganz ehrlich? Keine Ahnung.« Chris sah aus, als stellte ihn das selbst nicht zufrieden. »Ich sollte es sein. Und vielleicht würde ich auch tatsächlich auf dich losgehen, wenn ich nicht so müde wäre, aber… Ich weiß auch nicht. Ich glaube, zum Verarbeiten hatte ich einfach keine Zeit.«

Dorian nickte, als könnte er das nachvollziehen. Tatsächlich fiele es ihm leichter, mit unverhohlener Wut umzugehen, als mit dem hier. War es das, was Chris so menschlich machte?

»Warum hast du mich eigentlich nicht auch noch umgebracht?«

»Wenn uns ein Mensch sieht, sollen wir ihn mit in die Hölle nehmen.«

»Und was passiert dann?«

»Ich weiß nicht.« Dorian musste Chris nicht ansehen, um zu wissen, dass er ihm das nicht glaubte. »Luzifer hat mir befohlen zu gehen, aber ich bin geblieben. Er hat dich zurückgeholt, ich weiß nicht wie, und er hat dich… verändert. Erst warst du ein Mensch. Und dann hattest du Flügel und seine Augen.«

»Ich hab auch noch…« Hektisch rieb sich Chris übers Gesicht und hinterließ gerötete Wangen. »Ich sehe aus wie ihr.«

»Aber wir sind Engel.«

»Luzifer hat euch gesagt, dass ihr welche seid.«

Daran erinnerte sich Dorian, als wäre es gestern gewesen. Wie er aufwachte und sein Meister ihm erzählte, was passiert war, wie seine Verwirrung Dankbarkeit wich, wie er Luzifer jedes Wort geglaubt und zu seiner Identität gemacht hatte.

»Mir auch«, fuhr Chris fort, als wäre ihm die Wirkung seiner Worte nicht bewusst. »Er hat wohl erwartet, dass ich ihm das abnehme, aber ich weiß, dass es gelogen ist. Ich glaube, ich weiß das als einziger von euch. Irgendwas ist mit mir schiefgelaufen.«

»Ja.« Die Teile fügten sich von selbst zusammen. »Ich habe Luzifer abgelenkt, weil ich geblieben bin.«

»Ah.« Chris lehnte seinen Kopf an die Wand und fasste sich an die Stirn. »Was für eine Scheiße.«

Dorian nickte. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Er rollte die zweite Wasserflasche zu Chris herüber, der sie schweigend entgegennahm und zu der anderen neben sich stellte.

›Was ist, wenn er Recht hat?« Gegen den Gedanken anzukämpfen fühlte sich mittlerweile sinnlos an. ›Was ist, wenn wir alle Menschen sind und es vergessen haben? Was bleibt dann noch von mir?‹

»Und du weißt wirklich gar nichts?«, fragte Chris nach einer Weile. »Warum ihr Menschen töten sollt und wie ihn das befreien soll und alles.«

»Wir versuchen, Engel so sehr zu provozieren, dass einer von ihnen auf die Erde geht. Wenn dieser Engel dann von uns getötet wird, befreit das Luzifer.«

»So weit bin ich auch gekommen«, murmelte Chris. Vielleicht hatte er dabei versagt und Luzifer deswegen gegen sich aufgebracht. Einen größeren Verrat konnte sich Dorian definitiv nicht vorstellen.

Sie schwiegen wieder. Chris griff nach dem Apfel neben sich, wischte ihn mehrfach mit dem Ärmel ab, biss schließlich hinein und kaute mit nachdenklicher Miene. Er aß auf, warf den Rest aus einem Loch in der Wand und lehnte sich zurück. Wieder berührte er den Anhänger um seinen Hals, und wieder wurde Dorians Blick davon angezogen, aber er riss sich los, um nicht zu starren.

»Willst du mehr?«, fragte er stattdessen.

Chris schaute auf. »Wovon?«

Dorian holte das restliche Essen aus seinen Taschen. »Du kannst alles haben, wenn du willst.«

»Wo hast du das überhaupt her?«

Auf die Schnelle fiel Dorian keine Lüge ein. »Ich bin in das nächste leer stehende Haus eingebrochen.«

»Also ist niemand zu Schaden gekommen oder so?«

Er nickte.

»Okay«, murmelte Chris und nahm das Essen entgegen. »Du sagtest, Adrian würde wiederkommen.«

»Die Niederlage lässt er nicht auf sich sitzen«, antwortete Dorian. »Er trägt einem auch schon weniger nach.«

»Und jetzt ist er hinter uns beiden her.«

»Hinter dir. Ich stehe ihm nur im Weg.«

»Warum bist du dann noch hier? Entweder, nimmst du mich selbst wieder mit in die Hölle, oder du überlässt mich Adrian.«

»Soll ich gehen?«

Insgeheim wünschte sich Dorian, dass ihm Chris die Entscheidung einfach abnahm. Stattdessen bekam er ein Schulterzucken und ein »Ich kann dir schlecht vorschreiben, was du machen sollst«.

›Aber wer sagt es mir dann?‹ Noch eine Erkenntnis, die an sich schon eine Sinnkrise nach sich gezogen hätte. Gerade aber ging sie zwischen all den anderen erschütterten Grundfesten beinahe unter. ›Habe ich jemals etwas selbstständig entschieden?‹

Dorian stand auf und danach unschlüssig im Raum herum. Schließlich fasste er sich ein Herz, ging zu Chris herüber und setzte sich neben ihn. Der sah sichtlich irritiert aus, ließ ihn aber gewähren. »Heißt das, du bleibst?«

»Ich… denke schon.«

Chris wickelte sich aus der Decke und reichte Dorian ein Stück. »Hier. Bevor es zu kalt wird.«

›Warum machst du das?‹ Ihm wäre es immer noch lieber, würden sie sich gegenseitig einfach umbringen wollen.

In einer einfacheren Welt könnte er längst zurück in der Hölle sein und seine Schuld bereinigen. So aber deckte er sich zu, schloss die Augen und schlief zu dem Geräusch eines gleichmäßigen Atems neben sich ein.


14

Dorian

11. November

Erde

Etwas riss Dorian aus dem Tiefschlaf. Er schreckte hoch, zwang sich sofort zur Ruhe und schaute sich um. Chris schlief weiterhin in seiner Decke eingerollt, von draußen schien Laternenlicht in die Bauruine hinein. Ein allgegenwärtiges Staubrieseln wanderte durch den Raum, ansonsten blieb es still.

Dann breitet sich eine unverwechselbare Übelkeit in seinen Eingeweiden aus, bis Dorian nichts anderes mehr spürte. Es kostete all seine Selbstbeherrschung, um sich nicht in der nächsten Ecke zu übergeben.

Durch das Loch in der Wand war nichts zu erkennen. Dorian wollte die Augen schließen und auf ein größeres Zeichen warten, als die Straßenlaternen zu flackern begannen. Stimmen von draußen.

»Ihr wartet draußen, ich geh rein und erledige das.«

»Du machst hier gar nichts. Ihr schafft es gerade nicht einmal, einen wehrlosen Schutzengel zu erledigen, glaubst du, ich-«

»Das war Janne, nicht ich!«

Neben Dorian schreckte Chris mit einem überraschten Geräusch hoch und machte kurz Anstalten, um sich zu schlagen. »Was-«

Dorian legte einen Finger an die Lippen und deutete nach draußen.

»Ihr seid alle gleich«, sagte eine Person, deren Stimme Dorian vage bekannt vorkam. »Ihr werdet alle bei den gleichen Sachen sauer, ihr sagt das Gleiche und zieht euch gleich an. Wie um alles in der Welt soll ich euch da unterscheiden können?«

»Halt den Rand«, grummelte Adrian. Schritte auf dem Asphalt. »Ihr könnt auch von alleine rauskommen, wenn ihr wollt!«

»Ganz bestimmt nicht«, murmelte Chris.

»Bleib hier«, erwiderte Dorian und stand auf. Weglaufen war keine Option mehr, er hatte ja schon nur noch die Wand hinter sich.

Geschickt kletterte er über die kläglichen Reste der eingestürzten Mauer, ließ sich ein ganzes Stockwerk nach unten fallen, landete auf den Füßen und sah sich einem Adrian und zwei ihm leider sehr bekannten Dämonen gegenüber.

Beide zeigten kaum mehr als ihre Augen. Den Rest ihrer Haut bedeckten, wie bei ihnen üblich, mehrere Lagen Stoff. Der eine trug hauptsächlich hellgrüne und goldene Kleider, erkennbar halbherzig in Form drapiert, und eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Seine gelblich grünen Augen reflektierten das spärliche Licht, und trotz der dunklen Nacht verengten sich die Pupillen zu Schlitzen.

›Belphegor‹, dachte Dorian und war sich sicher, gerade weil der Dämon den Eindruck machte, als würde er jeden Moment einschlafen. Man sagte, dass er die meisten Geheimnisse der Hölle kannte, weil die Leute in seiner Gegenwart zur Achtlosigkeit neigten.

Die andere trug dunkelgrüne, deutlich edlere Stoffe und gab sich sichtlich mehr Mühe mit ihrem Aussehen als ihr Begleiter. Ihre Haare waren ebenso mausbraun wie die von Adrian, bedeckten Stirn, Nacken und teilweise ihre hellgelben Augen. Mammon. Unmöglich zu sagen, weswegen genau sie hier – sie schlug sich grundsätzlich auf die Seite desjenigen, von dem sie sich am meisten Profit erhoffte, auch wenn das zufällig Luzifer sein sollte. Dämonen bekam man am besten zum Gehorchen, indem man ihnen drohte oder ihnen glaubwürdig genug alles Mögliche versprach, bis sie ihr Misstrauen vergaßen. Mammon bot sich einem von sich aus an, und mit einer Ablehnung war man am besten bedient.

Adrian grinste, als Dorian vor ihm landete. »Immerhin bist du hier vernünftig«, sagte er. »Ich nehme an, dein neuer Freund sitzt noch da oben?«

›Das ist nicht mein Freund‹, dachte Dorian und biss die Zähne zusammen. ›Das ist ein Fehler. Etwas, das nicht sein sollte. Jemand, der mich versteht.‹ »Was macht ihr hier?«, fragte er an die Dämonen gewandt und erwartete sicherheitshalber nichts.

Mammon zuckte mit den Schultern. »Mir ist langweilig«, erklärte sie. »Und da man sich seit Tagen erzählt, dass Luzifers Dienerschaft in Aufruhr ist, wollte ich persönlich nachschauen, was los ist. Dann ist mir der hier«, sie deutete auf Adrian, »über den Weg gerannt und war verzweifelt genug, sich bei mir auszuheulen und dann sind wir mitgekommen. Richtig?«

Belphegor nickte.

Adrian wandte sich mit offen stehendem Mund um. »Das ist-«

»Ganz genau, was passiert ist«, unterbrach ihn die Dämonin. »Und davon einmal abgesehen würde mich brennend interessieren, warum es hier schon wieder niemand geschafft hat, einen kleinen unschuldigen Schutzengel zu ermorden. Der Himmel setzt sie euch vor die Nase, als wollte er Luzifer zurückhaben und ihr versagt trotzdem auf ganzer Linie.«

Adrian ballte die Fäuste. Dorian überlegte, Mammon einfach weiterreden zu lassen, damit die drei irgendwann aufeinander losgingen und sich die Sache von selbst erledigte. Auf Adrians Gesicht war nur allzu gut abzulesen, wie kurz er davor stand, die Beherrschung zu verlieren – doch dann deutete er seufzend auf Dorian, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »Kümmert euch um den hier und macht mit ihm, was ihr müsst. Ich hol Chris von da oben weg.«

Mammon beugte sich daraufhin vor, fasste Adrian am Kinn. Der riss sich los, stolperte einen Schritt zurück und fiel Dorian beinahe in die Arme. »Erstens gibst du uns hier keine Anweisungen. Du benimmst dich wie ein guter, zum Gehorsam erzogener echter Engel. Und zweitens heißt es Flügelschlag.«

›Nein.‹ Von jetzt auf gleich wurde Dorian kalt. ›Nein. Nicht meine Flügel.‹

Adrian vor ihm erblasste ebenfalls schlagartig, wandte sich um und stieg in die Luft. Er ging sich Chris holen, aber Dorian konnte ihm nicht einmal hinterhersehen. Flügelschlag. Sie waren gekommen, um ihm das einzige zu nehmen, das er noch besaß.

›Nein.‹ Wieder die Flucht nach vorn. »Nein!«

Schreiend stürzte sich Dorian auf Mammon, wollte sie packen und griff ins Leere. Zwei Schritte weiter hinten tauchte sie aus dem Nichts auf und ihre Augen allein sagten deutlich aus, wie sehr sie unter ihrem Schleier grinste. »Tut mir leid, aber dein Herr und Meister wollte es so.«

»Ihr lügt!«, brüllte Dorian den Dämonen entgegen, setzte erneut an und beschwor das Feuer, schlug mit in Flammen gehüllter Faust nach Belphegor, weil der im Weg stand. ›Luzifer kann das nicht befohlen haben. Kein Engel könnte den Flügelschlag beschließen.‹

Der Dämon reagierte erst im allerletzten Moment und dann zuerst mit einem tiefen Seufzen, ehe er den Schlag abfing und keine Miene verzog. Er erstickte die Flammen langsam in seiner Hand und stieß Dorian mit gewaltiger Kraft von sich.

Er verlor das Gleichgewicht, flog durch die Luft, und breitete die Flügel im letzten Moment aus, um in der Luft stehenzubleiben. Die Druckwelle schob sich unterdessen weiter die Straße entlang, in der Ferne klirrte Glas und splitterte. Mehr Laternenlichter erloschen und gaben den Blick auf den Sternenhimmel frei, von dem eine dünne Mondsichel auf sie herab schien.

Dorian warf einen Blick auf die Bauruine, konnte aber niemanden erkennen. Es blieb zu hoffen, dass Chris entweder entkommen oder wenigstens schnell gestorben war. Der letzte Gedanke trieb ihm Tränen in die Augen, aber die Verwirrung darüber hielt nicht lange, ehe die Angst sie wieder komplett verschluckte.

Flügelschlag. Nein.

Mammon gab mehrere Meter weit von ihm weg einen Fluch von sich, bei dem der Boden erzitterte, dann kam sie Dorian hinterher. »Du hast es schneller hinter dir, wenn du dich nicht wehrst.«

»Nein!«

»Hör mal, ich habe auch Besseres zu tun, aber was sollen wir machen?« Sie stieg ebenfalls in die Luft, packte Dorian an beiden Handgelenken und zog ihn wieder Richtung Boden. Er versuchte sich loszureißen und bekam zumindest einen Arm frei, streckte ihn in Mammons Richtung aus, fokussierte die Energie und ließ sie frei, doch die Dämonin ließ selbst im freien Fall nicht los. Sie kamen krachend in einem Vorgarten auf, das Gras federte den Sturz immerhin ein wenig ab. Hinter ihnen brach die Hausfassade auf, die Fenster fielen auseinander, Dachziegel regneten auf sie herab. Dorian kam frei, duckte sich erst und begann gegen den Instinkt seines schmerzenden Körpers zu rennen, um nicht erschlagen zu werden.

Mammon begutachtete die Zerstörung unterdessen mit skeptischem Blick und zuckte mit den Schultern. »Bevor mir das ganz auf den Kopf fällt…«

Sie schlug auf die Wand ein und die Welt verstummte mit einem dumpfen Geräusch. Dorian ging noch einen Schritt rückwärts, doch weiter trug ihn selbst sein Fluchtinstinkt gerade nicht. Reglos schaute er zu, wie sich Risse spinnennetzartig durchs Mauerwerk ausbreiteten und das Haus nur Sekunden später in sich zusammenstürzte. Mammon nickte seelenruhig und murmelte ein zufriedenes »So«, ehe sie verschwand und direkt vor Dorians Nase wieder auftauchte. »Und nun zurück zu dir.«

Dorian schlug mit den Flügeln und der Dämonin fast damit ins Gesicht, doch er gewann nicht schnell genug an Höhe. Seine Füße streiften den Gartenzaun unter sich, er verlor das Gleichgewicht und schlug wieder auf dem Boden auf. Tränen stiegen ihm in die Augen, sein Rücken fühlte sich erst taub an, dann wie eine einzige, dumpf schmerzende Prellung. Immerhin hatte er es geschafft, die Flügel rechtzeitig einzuziehen. ›Ich gebe sie nicht her. Was bin ich ohne meine Flügel?‹

Er schaute auf. Die Bauruine war kaum noch in der Dunkelheit zu erkennen. Zwei Meter vor ihm stand Mammon von faserhaften Schatten umhüllt, beide Hände in die Hüften gestemmt. »Wenn du von alleine nicht willst, dann tu es wenigstens für Luzifer.«

»Nein«, murmelte Dorian, zwang sich auf die Beine und ging rückwärts. Dabei ahnte er schon, wie das ausging. »Das würde er nicht wollen!«

»Er ist nur zu feige, es selbst zu machen.«

›Das kann er nicht… Er ist doch ein Engel, er muss doch wissen…‹ Dorians Sichtfeld verschwamm vor lauter Tränen, bis er nur noch eine Anzahl unterschiedlich düsterer Flecken sah. Trotzdem rannte er weiter, dieses Mal Mammon entgegen, und griff sie mit wenig mehr als dem Mut der Verzweiflung an. Tatsächlich landete er mehrere Treffer, obwohl er nicht einmal genau sehen konnte, wohin er eigentlich schlug. Mammon gab einen unterdrückten, dennoch sehr entsetzten Schrei von sich, taumelte nach hinten, packte Dorian und zog ihn mit sich.

Plötzlich wurde es schwarz um ihn herum und auch das letzte Licht erlosch. Schatten krochen unter seinen Mantel und über seine Haut, hinterließen brennende Striemen und eine merkwürdige Leere. Dorian fror mitten in der Bewegung ein, als sich eine Kälte in ihm ausbreitete, die Angst und Wut kurzerhand erstarren und dann splittern ließ. Zusammen mit den Scherben stürzte er zu Boden – im nächsten Moment zog ihn jemand an den Schultern wieder auf die Beine. Durch die Tränen hindurch sah er Mammon vor sich stehen, wie sie sich Staub von den Kleidern klopfte und ihre Augen wieder grinsten. »Die Hilfe hätte ruhig früher kommen dürfen.«

Natürlich hatte er Belphegor aus den Augen verloren und ihn vergessen. Dorian schaute sich um und sah den Dämonen hinter sich mit den Schultern zucken, während er ihn weiter festhielt. Die letzten Schattenschlieren zogen sich in seine Richtung zurück, bevor sie ganz zerfaserten, als wäre nie etwas gewesen.

»Aber es hat ja funktioniert, also will ich mich nicht beschweren.«

Dorian wollte sich losreißen und kam keinen Zentimeter weit. Die Realisation, verloren zu haben, schmerzte mehr als alle Erkenntnisse der letzten Tagen zusammen. Dieses Mal ging es um seine Flügel, um alles, was er besaß. Und Luzifer sollte das befohlen haben?

»Komm«, sagte Mammon. »Dann haben wir es hinter uns.«

»Tötet mich lieber!«, hörte Dorian sich schreien und stand voll und ganz dahinter. »Bringt mich einfach um, bitte!«

»Wenn wir das vorgehabt hätten, hättest du uns in den letzten fünf Minuten genug Gelegenheit gegeben.«

»Bitte…« Die Tränen raubten ihm alle Sicht und er wollte auf die Knie gehen, flehen, betteln. »Tötet mich, bitte! Bringt mich um, ich kann das nicht, ich…«

»Du bist ein Mensch, du hältst das aus.«

»Nein!« Jetzt wusste er nicht einmal, weswegen er das schrie. »Nein, nein!«

Dorian spürte den Boden unter sich nicht mehr. Die Temperatur stieg, das war nicht mehr die Erde. Ihm wurde immer schlechter, als er Gestalten vor sich erkannte, alle fast bis zur Unkenntlichkeit verhüllt.

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