Kitabı oku: «Was Menschlich Ist», sayfa 6
›Wie kann Luzifer mir das antun?‹
»So«, sagte Mammon und klang immer noch kaum angestrengt. »Macht schnell, wenn’s geht, ich habe heute noch was vor.«
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15
Chris
11. November
Erde
Chris schaute an die Stelle, an der Dorian eben noch gestanden hatte, und schüttelte den Kopf. Halb erwartete er, ihn gleich zusammen mit Adrian gemeinsam auf ihn losgehen zu sehen und sich endgültig naiv vorzukommen, doch stattdessen begann Dorian zu diskutieren. Den Stimmen nach zu urteilen, brachte das herzlich wenig.
Nur einen Augenblick später traf eine plötzliche Welle von Energie Chris mitten im Gesicht, sodass er nach hinten stolperte und sich beinahe den Kopf am Beton aufschlug. Es knallte etwas weiter entfernt von ihm, er schaute wieder auf und sah zwei Umrissgestalten aufeinander losgehen, bevor sie in einen Vorgarten stürzten. Chris ahnte, dass er das in dieser Dunkelheit gar nicht erkennen können sollte.
Im nächsten Moment kam Adrian durch das Loch in der Wand geflogen und bewies, dass Blicke nicht töten konnten, denn ansonsten hätte Chris gerade das Zeitliche gesegnet. »Ich will sehen, wie du dieses Mal deinen Arsch rettest.«
Instinktiv hechtete er zur Seite und wurde trotzdem noch erwischt. Adrian packte ihn und schleifte ihn einmal durch den ganzen Raum, bis sie beide gegen die Wand stießen. Der Boden verschwand unter Chris’ Füßen und er fühlte sich kurz wie im freien Fall, dann spürte er rauen, heißen Stein unter sich. Er wurde losgelassen, blieb kurz liegen und atmete die sengende Luft ein. Immerhin hatte ihn das aufgeweckt.
Er kam auf die Beine, sah Adrian neben sich dasselbe tun und ihn mit noch deutlicherer Mordlust in den Augen erneut angreifen. Chris wollte zuerst ausweichen, realisierte aber im letzten Moment, dass er so nicht ewig weitermachen konnte, und schlug stattdessen zu. Seine Faust traf etwas Hartes und Adrian stöhnte auf, fing sich aber direkt und zielte auf Chris’ Magen.
Er biss die Zähne zusammen, wollte keinen Laut von sich geben und schaffte es nicht ganz. Kurz tanzten bunte Funken vor seinen Augen. Chris atmete tief ein und gegen das aufkommende Seitenstechen an. ›Wenn ich gewusst hätte, dass ich irgendwann hier ende, hätte ich doch mit Sport angefangen.‹
Adrian setzte dazu an, ihn in den Schwitzkasten nehmen zu wollen. Chris riss sich gerade noch rechtzeitig los, tauchte unter ihm hinweg, und schürfte sich Handflächen und Ellbogen auf. Als er sich abrollte, schaute er nach oben und bemerkte jetzt erst, unter einem freien, blutroten Himmel zu stehen – selbst außerhalb der Tunnel im Gebirge, fühlte er sich eingeschlossen. Die schiefergrauen Wolken hingen in der Luft, als liefen sie Gefahr, ihnen jeden Moment auf den Kopf zu fallen.
›Okay‹, dachte Chris. ›Mit Kraft alleine gewinne ich das hier bestimmt nicht. Aber mit ein bisschen Glück kann ich ja…‹
Er streckte einen Arm aus, so wie Dorian das gestern noch getan hatte, fokussierte sich auf eine Energie, die er nicht kannte und an die er nicht einmal glauben würde, hätte er sie nicht eigenen Leib erlebt. Tatsächlich sammelte sich etwas in seiner Handfläche und wurde als Leuchten sichtbar, bis Chris es von sich stieß – im nächsten Moment wurde Adrian von einer unsichtbaren Kraft erwischt und mit einem erneuten Schrei weit nach hinten geschleudert. Er breitete seine Flügel aus, bremste mitten in der Luft und kam zum Stehen, noch ehe er auf dem Boden aufschlug.
»Wehr du dich wenigstens nicht!«, brüllte er Chris entgegen. »Ergib dich einfach, das hätte Dorian auch machen sollen!«
»Was passiert jetzt eigentlich mit dem?« Es sollte Chris wirklich nicht kümmern, aber er kam nicht umhin, sich trotzdem zu wundern.
Adrian sank kurz Richtung Boden, landete aber nicht. Die Frage brachte ihn offensichtlich durcheinander. »Luzifer hat die Höchststrafe angeordnet«, murmelte er. »Er kriegt die Flügel gestutzt… Scheiße, frag mich sowas nicht!«
›Können sie nicht einmal darüber reden?‹ Spätestens jetzt machte Chris sich Sorgen. Er hätte alles Recht, Dorian die Pest an den Hals zu wünschen, aber nach allem, was er mittlerweile wusste und sich zusammengereimt hatte, erschien ihm das nicht mehr verhältnismäßig. »Warum?«
»Was kümmert dich das überhaupt?« Adrian sah aus, als drehte es ihm mit jedem Gedanken an die Sache den Magen noch ein Stückchen weiter um. »Steht die ganze verdammte Welt auf dem Kopf oder was?«
»Aus meiner Perspektive schon«, erwiderte Chris, weil er nicht anders konnte. Im nächsten Moment duckte er sich unter einem Schlag weg, stolperte über seinen Mantel und bekam überraschend Adrians Fußgelenk zu fassen, als er nach Gleichgewicht suchte. Sie gingen beide mit einem unterdrückten Stöhnen zu Boden, aber Chris stand zuerst wieder auf.
Die Gelegenheit musste er nutzen, ob sein Gewissen wollte oder nicht. Ehe er es sich versah, stand er über Adrian, einen Fuß auf dessem rechten Schlüsselbein, um ihn am Aufstehen zu hindern.
»Wag es nicht«, flüsterte der Engel zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch, wollte nach hinten rutschen und kam höchstens ein paar Zentimeter weit. »Wir lassen dich nicht in Ruhe, wir werden dich jagen und Luzifer wird dich quälen, bis du um Gnade flehst. Glaub ja nicht, dass du jetzt gewonnen hast!«
›Ich glaube nicht, dass gerade irgendjemand irgendetwas gewinnt‹, dachte Chris. Er könnte Adrian laufen und mit Schrecken davonkommen lassen, oder einen Fehler machen und sich seinem Schicksal stellen. Aber das eine half ihm nicht weiter und das andere verbot ihm sein Überlebensinstinkt.
›Ich wünschte, mich würde jemand zwingen. Egal wer. Hauptsache, ich hätte die Freiheit nicht.‹
Chris kniff die Augen zusammen, als müsste er das alles dann nicht erleben müssen, ballte die Fäuste, atmete tief durch. Versuchte, allen Hass auf die Welt, auf Luzifer und seine Leute und auf die Gesamtsituation zu kanalisieren, damit es sich zumindest für den Moment nicht mehr schlimm anfühlte, und trat zu. Adrian gab einen unterdrückten Schmerzensschrei von sich, dann noch einen, und danach wimmerte er nur noch. Chris wollte sich zurückhalten, verfolgen würde er ihn jetzt nicht mehr, aber zumindest die Schmerzen wollte er Adrian ersparen. Wenigstens irgendeine Form von Gnade. Nicht, dass das groß zählte.
Er behielt die Augen geschlossen und hörte nicht auf zu treten, bis er das Gefühl hatte, dass da nur noch ein lebloser Körper unter ihm lag. Ruckartig löste er sich aus seiner Trance, und stolperte mehrere Schritte nach hinten, während das Realisieren einsetzte. Die Übelkeit schlug ihm in den Magen, Chris fiel zurück auf den Boden und konnte die ohnehin schon kläglichen Reste seines Essens nicht mehr länger bei sich behalten. Seine Gedanken flossen immer zäher, bis sie schließlich ganz die Arbeit einstellten. Alles um ihn herum kam ihm nicht länger real vor.
Chris blieb am Boden sitzen, hielt sich den Magen, würgte wieder, aber es kam nichts mehr. Das Adrenalin ließ nach und ließ ihn am ganzen Körper zittern, bis er sich Dorians Decke zurückwünschte, ein Bett zum verkriechen und jemanden, der ihn festhielt und ihm sagte, dass alles wieder gut wurde. Irgendjemand, der ihn verstand.
›Was bin ich geworden?‹
Er zwang sich, die Augen zu öffnen und wenigstens anzusehen, was er angerichtet hatte. Zuerst glaubte er, vor lauter Verwirrung Adrians Leiche nicht mehr wiederzufinden, dann fiel ihm eine einzelne, schwarze Feder vor die Füße. Dann noch eine. Dann begann es in der Hölle zu regnen.
Tausende Federn hingen wie schwerelos in der Luft, sanken anschließend zu Boden und bildeten einen schwarzen Teppich auf dem blutig roten Stein. Sie konzentrierten sich an der Stelle, an der Adrian liegen sollte, doch von ihm fehlte jede Spur.
Chris kam nicht umhin, den Anblick merkwürdig schön zu finden, so sehr er sich auch dagegen wehrte. Er wollte die Hand ausstrecken und eine der Federn berühren, zuckte aber wenige Millimeter davor zurück. Es kam ihm nicht richtig vor.
Ein leichter Windstoß kam auf. Die Federn wirbelten durcheinander, schienen sich einen Moment lang den Kräften widersetzen zu wollen, und ließen sich dann doch in die Ferne tragen. Hunderte andere blieben auf dem Boden liegen, als wollten sie Chris daran erinnern, sich auch das hier nicht einzubilden.
›Hoffentlich kannst du so etwas wie Frieden finden‹, dachte er. Er umklammerte den Anhänger mit beiden Händen, hielt sich daran fest, klammerte sich ans Hier und Jetzt, damit die Panik ihn nicht holte. Trotzdem schlich sie um ihn herum, kroch ihm in den Nacken, und wartete auf den Moment, in dem Chris in sich zusammenfiel.
»Es tut mir leid.« Mit jedem Wort wurde er heiserer. »Du hast das nicht verdient, es tut mir so leid.«
Er gab sein Bestes, um zu weinen, aber die Hitze trocknete seine Tränen aus.
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16
Metatron
11. November
Himmel
Niemand von ihnen war gerne hier, das sah Metatron den Erzengeln deutlich an. Er selbst versuchte, seinen Unmut so gut wie möglich zu verbergen, aber da ihn in niemand darauf ansprechen würde, wusste er erstens nicht, ob er damit Erfolg hatte, und fühlte sich zweitens von allen Seiten beobachtet.
Sie saßen an einem runden Tisch in einem verhältnismäßig kleinen Zimmer und schauten auf einen Riss im Raum, der ihnen als Fenster zur Erde diente. Es zeigte eine vollkommen verwüstete Landstraße, ein quasi zu Staub zerfallenes Haus und mehrere einsturzgefährdete Gebäude in der Umgebung.
Gabriel seufzte. Er saß Metatron direkt gegenüber, die langen schwarzen Haare fielen ihm teilweise ins Gesicht, die tiefblauen Augen wirkten müde. Letzte Nacht hatte er Wache gehalten und dem Desaster zugesehen. »Das können wir nicht hinnehmen«, sagte er jetzt. »Das Maß an Zerstörung ist zu groß.«
Remiel neben ihm nickte. Sie war nur Minuten vor Metatron hier angekommen. Davor hatte sie wohl wieder eine Horde aufgebrachter Schutzengel mit fast haltlosen Begründungen beruhigen müssen. »Hin und wieder einzelne Menschen zu opfern ist das Eine. Schutzengel müssen ein gewisses Maß an Kollateralschaden hinnehmen. Aber das«, sie nickte knapp in Richtung des Fensters, »das war vermeidbar.«
»Trotzdem ist es essenziell, dass sich die Schutzengel aus dieser Sache heraushalten«, sagte Gabriel.
»Ich weiß.«
»Wenn sich die Hölle so sehr einmischt, können sie nur verlieren.«
»Ich weiß!«, erwiderte Remiel und rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum. »Und ich will behaupten, das ist mir von uns allen am meisten bewusst. Genauso, wie dass wir nicht ewig Glück haben können.«
Metatron nickte. Insgeheim hatte niemand damit gerechnet, dass Luzifer es überhaupt so lange in der Hölle aushielt. Sie hatten ihm höchstens ein paar Jahre gegeben und die Sicherheitsmaßnahmen entsprechend auf diese Zeitspanne ausgelegt. Uriel sollte längst zurück im Himmel sein, die Schutzengel beruhigter und die Katastrophe schon passiert.
»Was ich sagen will, ist dass ich nicht viel länger für meine Leute garantieren kann«, fuhr Remiel fort. »Nicht bei der momentanen Lage und der Aussicht, dass die Unruhe länger dauern wird. Es ist nicht richtig, den Schutzengeln dauerhaft zu predigen, dass sie sich gefälligst unter Kontrolle halten sollen.«
Bei dem Wort »richtig« verdrehte Jehudiel kaum merklich die Augen und rückte seine Brille zurecht. Der Richter hatte sich im vergangenen Jahr mehr mit diesem Konzept beschäftigen müssen als ihm lieb gewesen war und mittlerweile gab es kaum etwas, das ihn ähnlich aufregte wie dieses Wort. Wenn Metatron sich das vor Augen führte, war er doch ganz erleichtert, nichts von der Sache mitbekommen zu haben.
Zum Glück nahm ihm Michael die Aufgabe ab, eine Entscheidung für die Erzenge zu treffen. »Wir haben uns geeinigt, Attentäter zu schicken«, erklärte der Heerführer. »Sie sollen sich um die beiden Menschen kümmern. Wenn sie die Erde das nächste Mal betreten, sind sie tot, vorausgesetzt, Luzifer erledigt das nicht für uns.«
Obwohl nur vier der sieben Erzengel hier saßen, fühlte sich Metatron, als schauten sie ihn gerade alle mit der Erwartung an, dass er die Sache abnickte und damit erledigte. Die Last der Blicke reichte beinahe aus, um dem nachzugeben und Michael machen zu lassen, aber so funktionierten die Dinge am Ende nicht.
›Was ist Gottes Wille?‹, dachte er und schaute auf die Tischplatte, als könnte die ihm weiterhelfen. Sie blieb still, ebenso wie sein Wasserglas und der Haufen Notizzettel, der sich inzwischen überall verteilt hatte. ›Wie soll ich für ihn sprechen? Alle denken, dass ich weiß, was er will, aber…‹
Es war nicht so, als hätte er nicht mehrfach nachgefragt, aber Gott hatte ihn jedes Mal dazu angehalten, zu tun was er für richtig hielt. Ein kompetenterer Herrscher hätte das wohl als Freiheit empfunden.
»Erst einmal müssen wir herausfinden, wie sich die Sache weiter entwickelt«, erklärte Metatron, als er das Schweigen nicht mehr aushielt. »Vielleicht werden die Menschen in der Hölle getötet.«
Natürlich war das mehr Hoffnung als eine vernünftige Strategie. Entsprechend wunderte es ihn wenig, dass Michael neben ihm trocken auflachte. »So was erledigt sich nie von alleine«, sagte er. »Luzifers Diener sind immer noch da und da dachten wir auch erst, sie würden irgendwann aufgeben. Stattdessen versuchen sie alles und sie versuchen es weiter, bis selbst der sturste Schutzengel irgendwann die Nerven verliert oder der erste Soldat. Der ganze Himmel will diese Leute tot sehen, damit die Welt wieder die Alte ist.«
»Ich muss den Schutzengel versichern, dass das bald aufhört«, pflichtete Remiel ihm bei. »Dass wir das seit sechshundert Jahren auf unbestimmte Zeit machen, ist das größte Problem. Wenn die Belastung noch größer wird, halten sie das nicht mehr durch.«
›Glaub mir, wir wollen alle, dass es aufhört‹, dachte Metatron und da war es wieder, das schlechte Gewissen. Die Schuld. Und die Last des Schweigens, das er sich selbst auferlegt hatte. ›Die Frage ist, wie wir das anstellen. Und wer davon profitiert.‹
»Ich sage nicht, dass wir alles so lassen, wie es ist. Ich will nur vorsichtig sein. Jeder Engel, den wir zusätzlich auf die Erde schicken, ist ein Risiko.«
»Dieses Maß der Zerstörung ist es wert, das einzugehen«, erwiderte Gabriel direkt. »Mit Verlaub, der Himmel hat sich lange genug zurückgehalten. Es wird Zeit, dass wir Luzifer und den Dämonen, die die Ereignisse von letzter Nacht mit zu verantworten haben, Grenzen aufzeigen. Es ist unsere Aufgabe, die Erde vor Schaden zu bewahren und wenn wir uns aufs Warten und Beobachten beschränken, dann werden wir dem nicht mehr gerecht. Wir müssen eine Situation schaffen, in der wir den Schaden einschätzen können und ich sehe das gerade nicht gegeben.«
Mit den Worten bewegte sich Gabriel nah an der Grenze dessen, was man dem Stellvertreter Gottes ins Gesicht sagen durfte, ohne dafür belangt zu werden. Entsprechend fühlten sie sich an wie ein gut gezielter Schlag in den Magen, aber am Ende blieben sie wahr. Keine Entscheidung zu treffen, war die schlechteste von allen.
»Jetzt sind die beiden Menschen ohnehin nicht in unserer Reichweite«, überredete sich Metatron zu sagen. Es fühlte sich an, als würde er sowohl Luzifer als auch die Erzengel enttäuschen. »Michael, du bereitest die Attentäter vor, falls sie doch wieder auf der Erde auftauchen. Wir sollten im Rahmen unserer Möglichkeiten außerdem versuchen, an Informationen zu kommen, um zu verstehen, warum die Sache gestern Nacht überhaupt passiert ist.« Metatron schaute in die Runde und fragte sich, ob das wohl der Beschluss war, den alle hören wollten.
Michael nickte. Gut. Er traute sich noch am ehesten, Metatron zu widersprechen. »Ich sehe, was sich machen lässt«, sagte er. »Jophiel und ich arbeiten etwas aus. Ihr bekommt die Ergebnisse morgen.«
»Danke.« Metatron wollte sie jetzt schon nicht sehen und sich nicht damit beschäftigen, ebenso wenig wie mit den anderen Dingen, die heute noch auf seinem Plan standen. Er wollte ins Bett und die Sache verschlafen, wollte nicht funktionieren, konnte es nicht. Das Gefühl, dass sein Körper nicht nach ihm aussah und der Gedanke, dass ihn der ganze Himmel für männlich hielt, schrien ihm im Kopf herum, seitdem er heute Morgen in den Spiegel geschaut hatte. Er konnte sich selbst kaum zuhören.
Gabriel atmete einmal tief ein und aus, schloss kurz die Augen. »Gut«, sagte der Vorstand der Erzengel schließlich. »Mit dem Beschluss werden wir uns alle anfreunden können.« Da ihm niemand widersprach, fuhr er nach einem stillen Moment fort. »Diese Menschen werden in den nächsten Tagen sterben, und sei es durch unsere Hand. Danach sehen wir weiter.«
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17
Metatron
1138 Jahre vorher
Himmel
Metatron hatte keine Ahnung, wie lange er nun schon vor Seraphiels Wohnung stand und es einfach nicht schaffte, zu klopfen. Jedes Mal, wenn er seine Hand auch nur in die Richtung der Tür bewegte, fühlte es sich an, als würde ihn jemand packen und mit Gewalt zurückhalten. Eine Stimme in seinem Hinterkopf fragte unaufhörlich, was ihm einfiele, Seraphiels Ruhe zu stören und dass es hier sowieso um Dinge ging, die er mit sich selbst ausmachen sollte.
Es war sein erster freier Nachmittag seit langem, und Metatron hatte die Gelegenheit nutzen wollen, um sich mit Gott, sich selbst und vor allem diesem bevorstehenden Schwur zu beschäftigen. Aber kaum dass er mit seinen Gedanken alleine gewesen war, hatten sie ihn mit Fragen bombardiert, bis sein Kopf gefühlt zu platzen drohte und er mit Tränen in den Augen eingeschlafen war. Zwei Stunden später stand er jetzt hier, sein Kreislauf ebenso unsicher auf den Beinen wie er selbst, und fühlte sich schrecklicher als vorher.
Metatron nahm all seine Kraft zusammen, wehrte sich gegen was auch immer ihn zurückhielt und schlug versehentlich mit viel zu großer Kraft auf die Tür ein. Hoffentlich glaubte er nur, daraufhin mehrere feine Risse im Holz zu sehen.
Ihm öffnete ein kleiner und reichlich verschlafener Engel, den niemand für die mächtigste Person im Garten halten konnte. Seine schokoladenbraunen Locken standen ihm in allen Richtungen vom Kopf ab, seine ebenso braunen Augen blinzelten verschlafen und insgesamt machte er keinen besonders aufnahmefähigen Eindruck. Dann aber strich er sich über die Haare, streckte sich und sah auf einmal wie der Würdenträger aus, der er war. Als er Metatron erblickte, begann er sanft zu lächeln.
»Tut mir leid«, sagte Metatron dennoch als Erstes. »Ich wollte dich nicht wecken. Ich kann später wiederkommen, wenn-«
»Ich wollte ohnehin aufzustehen«, winkte Seraphiel ab. »Möchtest du Tee?«
Metatron spürte sich nicken, bevor er es sich anders überlegte. »Kann ich mit dir reden?«
»Sicher. Komm herein.«
Metatron tat wie geheißen, folgte Seraphiel in die Wohnung und fragte sich wie jedes Mal, wie der Engel es hier dauerhaft aushielt. Mit Ausnahme der Fenster standen Bücherregale an jeder Wand, selbst in der Küche und im Badezimmer. Sicherlich machten sie die Räume auch gemütlicher, ließen sie aber vor allem beengt wirken.
Die restliche Einrichtung hatte einen dunklen Stil, den Metatron sonst nicht vom Himmel kannte. Vermutlich hatte Seraphiel an seiner Wohnung seit mindestens zweitausend Jahren nichts mehr geändert – da der Garten niemals leerstehen durfte, verließ Seraphiel ihn nur äußerst selten und kannte sich zwar mit der aktuellen Politik aus, nicht aber mit Kultur. Geschichten schienen das Einzige zu sein, bei dem er auf dem Laufenden bleiben wollte, denn er bat die restlichen Seraphim regelmäßig, ihm neue Bücher mitzubringen.
Wann Seraphiel Zeit zum lesen fand, blieb allerdings ein Rätsel, denn als Gottes Berater verbrachte er mehr Zeit mit ihm als sie alle zusammen, saß stundenlang in Diskussionen versunken auf der endlosen Treppe, bis er meistens mitten in der Nacht wieder im Garten auftauchte und Ergebnisse präsentierte.
Seraphiel brachte zwei Becher voller Tee aus der Küche mit und stellte sie auf einem kleinen Tisch vor dem Sofa ab. »Setz dich.«
Metatron ließ sich neben ihm nieder und starrte danach unschlüssig in seinen Tee. Allein die Entscheidung, mit jemandem reden zu wollen, hatte so viel Überwindung gekostet, dass er sich keine Gedanken über den Rest gemacht hatte.
Seraphiel griff seelenruhig nach einer Dose auf dem Tisch und fügte mehrere gehäufte Löffel Zucker zu seinem Tee hinzu, bis selbst der Geruch so süßlich war, dass Metatron freiwillig Abstand von dem Getränk nahm. »Worum geht es?«, fragte er.
›Erwartest du wirklich, dass dir jemand helfen kann?‹, erwiderten Metatrons Zweifel. ›Das ist allein dein Problem. Deine Gefühle.‹
Er seufzte leise in sich hinein. Dann traute er sich, Seraphiel ins Gesicht zu sehen und zuzulassen, dass seine aufgewühlte Gefühlswelt daraufhin gelesen wurde, als wäre sie nur ein weiteres Buch.
»Ich weiß nicht«, sagte er, irgendwo musste er ja anfangen. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht, ob ich schwören soll oder nicht. Ich weiß nicht, wer ich sein will und… wer ich bin.«
Und es wurde schlimmer, je öfter Metatron mit Gott sprach. Immer weniger wusste er, was für ein Geschlecht seine eigenen Gedanken eigentlich hatten, wie er Gott nennen sollte und was das alles bedeutete. Gleichzeitig redete ihm eine ganz besondere Form von schlechtem Gewissen ein, dass er das doch gefälligst zu wissen hatte.
Seraphiel nickte bedächtig, griff nach seinem Tee und zuckte zurück, als er den heißen Becher berührte. Unterdessen studierte er Metatron mit wachem Blick. Mit jedem Blinzeln öffneten sich mehr Augen auf seinem ganzen Körper, blieben nur einen Moment lang sichtbar und ließen Betrachter häufig mit Zweifeln an ihrem eigenen Verstand zurück. Das war Seraphiels Art zu lesen: Hauptsächlich in Gefühlen seines Gegenübers, selten in Gedanken. Zumindest behauptete er, Letzteres nicht zu tun.
Da keine schmerzhaft genaue Analyse von Metatrons Seelenleben folgte, schien Seraphiel auf den ersten Blick auch nicht schlau aus dem Chaos zu werden. »Was hält dich davon ab, dich für den Schwur zu entscheiden?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht.« Die ehrlichste Antwort, aber auch die am wenigsten hilfreiche. Bei dem aktuellen Stand hätte er gleich im Bett bleiben können, um da deutlich effizienter keine Ahnung zu haben. Metatron zwang sich, weiter zu reden. »Ich weiß nicht, ob ich dem gewachsen bin«, gab er zu. »Ich weiß nicht, ob ich die Verantwortung tragen und Gottes Ansprüchen gerecht werden kann.«
»Verstehe.« Als wohl einzige Person auf der Welt log einen Seraphiel mit diesen Worten nicht an. »Aber ich bin mir sicher, dass Gott weiß, was er tut. Er würde dir diesen Titel und diese Aufgaben nicht anbieten, wenn er nicht wüsste, dass du mit ihnen zurechtkommst. Er setzt sein Vertrauen in dich.«
›Er setzt sein Vertrauen in mich‹, dachte Metatron. Der Satz fühlte sich auf so vielen Ebenen falsch an, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte. ›Er… Das ist nicht richtig, nicht so. Gott ist nicht männlich für mich.‹
Seraphiels Augen blinzelten. Er bekam die anhaltende Verwirrung wohl mit. »Aber abgesehen davon hast du dich dein Leben lang auf den Schwur vorbereitet. Und ich kenne dich Metatron, ich weiß, was du kannst. Vertrau dir ruhig selbst.«
»Also denkst du, dass ich schwören soll?«
Seraphiel gab lange keine Antwort. Er saß regungslos auf dem Sofa, schaute zu Boden und schien ernsthaft überlegen zu müssen, bis ihm etwas einfiel. Schließlich seufzte er und gab Metatron damit noch mehr das Gefühl, ihm auf die Nerven zu gehen.
»Du dienst Gott bereits jetzt schon«, erklärte der ältere Seraph. »Wenn du volljährig wirst, dann wirst du das auch offiziell tun, und in dem Sinne ist der Schwur nichts weiter als eine Formsache. Das Einzige, was sich ändert, ist dein Titel und deine Wirkung auf den Himmel. Alle Engel hätten dann eine Verbindung zu Gott und die Sicherheit, dass die Seraphim nach seinem Willen handeln. Es hätte seine Vorteile.«
›Ich sollte schwören‹, dachte Metatron und fühlte sich schlecht, weil er sich deswegen schlecht fühlte. Er sollte es als eine Ehre betrachten, und Seraphiel fand das offensichtlich auch, das machte er gerade mehr als deutlich. Aber wenn er auch nur einen Moment lang aufhörte, sich das einreden zu wollen, dann blieb nur noch der zusehends verzweifelte Wunsch, jemand anders möge die Wahl für ihn treffen.
»Was denkt Sandalphon?«
Seines Wissens nach hatte sein Bruder sich schon entschieden, als Gott noch nicht ganz fertig gewesen war, ihnen den Sachverhalt zu erklären. »Wir sprechen nicht darüber.«
Seraphiel hob eine Augenbraue. »Nicht?«
»Wir haben alles Wichtige diskutiert.« Metatron schwieg kurz. Gerade würde das nur ein weiteres Fass aufmachen, mit dessen Inhalt er sich nicht auseinandersetzen wollte. »Am Ende ist es unsere persönliche Entscheidung.«
»Das ist richtig, aber es geht euch ja beide an.«
Es war nicht so, als hätten sie es nicht versucht. Aber schon nach kurzer Zeit regte sich Sandalphon auf und behauptete, Gottes Konditionen würden sie mehr zu Dienern als zu Herrschern machen. Metatron hatte geschwiegen und seinen Bruder reden lassen, konnte die Argumente auf der einen Seite zwar nachvollziehen, doch auf der anderen Seite schien es doch seine Pflicht zu sein, diesen Schwur zu leisten. Deswegen war er geschaffen geworden.
Seraphiel schaute ihn unterdessen prüfend aus zu vielen Augen an. »Dich beschäftigt mehr als nur der Schwur an sich, richtig?«
›Ja, natürlich, aber wie soll ich das erklären? Wie soll ich dir verständlich machen, dass ich nicht weiß, wer ich bin, weil ich nicht weiß, wer Gott für mich ist? Die Frage stellt sich doch für niemanden.‹ Noch weigerte sich Metatron, sich selbst als kaputt zu bezeichnen, aber langsam gingen ihm die Gegenargumente dafür aus. In diesem Moment fühlte sich alles an ihm grundlegend falsch an.
Er schüttelte den Kopf und schluckte den ganzen Wust zusammen mit seinem Tee herunter. Vielleicht ein anderes Mal, wenn er mehr wusste. »Es ist nur so eine wichtige Sache und ich will sie richtig machen.«
Ob Seraphiel ihm glaubte, blieb fraglich, aber immerhin schien er die Antwort zu akzeptieren. »Du kannst wiederkommen und mit mir reden, wenn du willst«, sagte er. »Dafür nehme ich mir die Zeit. Ich will, dass du dich guten Gewissens entscheiden kannst.«
Es kostete Metatron alle Beherrschung, um nicht zu laut lachen. Ihm war längst bewusst, dass das nie im Leben so einfach werden würde. Immerhin konnte er sich jetzt noch einreden, dass der Schwur über ein Jahr weit weg war und ihm noch reichlich Zeit blieb. Noch bestand die Chance, dass sich alle Probleme von alleine lösten.
›Ich will nur wissen, wer ich sein soll‹, dachte er. ›Wie kann das zu viel verlangt sein?‹
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.