Kitabı oku: «Was Menschlich Ist», sayfa 4
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9
Metatron
1138 Jahre vorher
Himmel
Das Ziehen in Metatrons Verstand verriet ihm nur, dass Gott ihn sprechen wollte. Über was genau, blieb wie immer ein Rätsel. Er machte sich mittlerweile nicht mehr allzu viel aus dieser Tatsache, sondern vertraute darauf, das Wichtigste früh genug gesagt zu bekommen. Fragen beantwortete Gott ohnehin nur in den seltensten Fällen.
Sandalphon grummelte da schon offener vor sich hin. Sein Zwillingsbruder hasste Ungewissheit und die damit einhergehende Tatsache, sich nicht vernünftig vorbereiten zu können. »Was meinst du, was er will?«, fragte er entsprechend nicht zum ersten Mal, während er sich den langen, weißen Mantel überstreifte. Seiner war mit weinrotem Samt bestickt, Metatrons mit hellblauem. Wäre die Kleidung nicht, könnte sie der ganze Himmel nicht voneinander unterscheiden, weil sie zu sehr wie exakte Kopien voneinander aussahen. Zwei Seiten von einer Person – unter den Seraphim gab es die Vermutung, dass Gott sie ursprünglich als einen einzigen Engel konzipiert hatte.
Metatron war wie gewohnt viel zu früh aufgestanden, saß schon fertig auf seinem Bett und fragte sich nun, warum er nicht einfach länger geschlafen hatte. »Ich weiß es nicht«, antwortete er und gab sich Mühe, nicht allzu nervös zu klingen.
Sandalphon gab ein unzufriedenes Geräusch von sich, während er sich die goldblonden Haare im Nacken zusammenband, sodass sie die Wunden auf seinem Rücken nicht berührten, die unter den Aussparungen seiner Kleider zum Vorschein kamen. Sechs, für jeden Flügel einen. Die meisten Engel besaßen zwei, wenige hochrangige vier und allein die Seraphim sechs als Zeichen ihrer Macht.
»Wir werden es herausfinden«, sagte Sandalphon schließlich, strich sich noch einmal den Mantel glatt und begutachtete sich im Spiegel. Wie immer sah er hochzufrieden mit sich aus und gleichzeitig so, als störte ihn etwas Grundlegendes an sich selbst. Letzteres kannte Metatron nur zu gut.
Er stand vom Bett auf und streckte sich, als müssten sich seine Gliedmaßen erst wieder an den richtigen Platz sortieren. »Wollen wir?«
Sandalphon nickte einfach nur, ging an Metatron vorbei und aus ihrer gemeinsamen Wohnung hinaus in den Garten Eden.
Eingezäunt an der Spitze des Himmels lag die größte seiner raren Grünflächen. Laut den anderen Seraphim widersetzte sich der Garten allerdings seit jeher allen Kartierungsversuchen – er war ein lebendiges Wesen, das selbst entschied, was wo wuchs, und wer sich wie schnell verirrte, sobald er vom Weg abkam. Irgendwo befanden sich die Quellen der beiden Hauptflüsse, die den Himmel mit Wasser versorgten, aber Metatron hatte sie noch nie mit eigenen Augen gesehen.
Wenn sie nicht im restlichen Himmel unterwegs waren, lebten und arbeiteten die fünf Seraphim hier. Der Garten diente ihnen als geschützter Raum, in dem sie tun und lassen konnten, was sie wollten, ohne sich Gedanken um ihr Auftreten oder Sorgen um mögliche Angriffe machen zu müssen. Mit ihnen residierte Gott hier, in einem schlichten, steinernen runden Turm, um den fünf Wohnungen herum errichtet worden waren. Es lag in der Natur der Sache, dass man sich hier konstant beobachtet vorkam, was das Konzept der Ungestörtheit zumindest für Metatron direkt wieder zunichte machte.
Keine erkennbare Lichtquelle schien am Himmel, aber dennoch wurde es niemals dunkel. Hier, und nur hier, wehte ab und an eine leichte Brise und raschelte leise auf ihrem Weg durch die unzähligen Baumkronen im Hintergrund. Manchmal bereute es Metatron, sich an dem Anblick sattgesehen zu haben.
Der weiße Kies knirschte unter ihren Füßen, während sie zu Gottes Turm herüber gingen. Sandalphon drückte die schwere Marmortür auf – Metatron fühlte sich insgeheim zu schwach dafür – und trat danach als Erster ein. Innen gab es keine Wände, nur weißes Licht aus allen Richtungen und eine steinerne Treppe, die schnurgerade nach oben führte. Am Ende wartete angeblich Gott auf einen, und mehrere Engel hatten in der Vergangenheit versucht, ihn zu erreichen. Nach einer Weile ohne Lebenszeichen waren sie alle für tot erklärt worden.
Metatron und Sandalphon gingen nur ein paar Stufen hinauf und knieten danach simultan nebeneinander nieder. Kaum, dass sie ihre Haltung eingenommen hatten, drängte sich ihnen eine allumfassende, spürbar allmächtige Präsenz auf, lenkte sie unauffällig, und schaute tief in ihre Gedanken.
Metatron schloss die Augen und konzentrierte sich. Wenn Gott mit ihnen sprach, kostete das Kraft. Unter anderem deswegen blieb der Garten für die Allgemeinheit geschlossen, denn ein gewöhnlicher Engel hielte schon die Präsenz im Turm kaum aus. Die Seraphim kamen vergleichsweise gut mit der Belastung zurecht, aber nach einem stundenlangen Gespräch mit Gott waren auch sie zu nichts mehr zu gebrauchen.
Einige Sekunden herrschte Stille in Metatrons Kopf. Dann begann er mit seiner eigenen Stimme fremde Worte zu denken.
»Ihr seid beide hier. Gut.«
»Was gibt es?«, fragte Metatron. Er sprach laut, damit Sandalphon ihn hören konnte und weil sich das weniger seltsam anfühlte, als die Antwort nur zu denken. Gott schien es ohnehin gleich zu sein.
»Ihr werdet in zwei Jahren volljährig«, erklärte er. »Ab dann werdet ihr offiziell Seraphim sein, mit allen Rechten und allen Pflichten.«
Wirklich wohl war Metatron bei dem Gedanken nicht. Zwar behandelte man ihn jetzt schon kaum anders als die anderen Seraphim, aber im Moment wurden ihm Fehler noch nachgesehen. Diese Haltung dürfte sich ändern, sobald er in den Augen der Leute nicht mehr als Kind galt.
»Ich möchte euch bitten, über etwas nachzudenken. Mit eurer Volljährigkeit werdet ihr nicht nur vollwertige Seraphim, sondern auch meine persönlichen Stellvertreter und Stimme im gesamten Himmel sein. Dadurch werdet ihr mächtiger als alle anderen Engel und uneingeschränkt über ihnen stehen. Ihr werdet für mich mit dem Himmel sprechen. Ihr werdet für mich befehlen. Ihr werdet für mich herrschen. Und ihr dient allein mir.«
Es war das erste Mal, dass sie das direkt von Gott zu hören bekamen. Metatron schaute zu Sandalphon herüber, der wiederum stur auf die Stufe unter sich schaute und sich sichtlich anspannte. Bei ihm selbst warf es in erster Linie Fragen auf, die er vor lauter Verdrängen beinahe vergessen hatte.
»Ich vertraue euch genug, um mich von euch vertreten zu lassen«, fuhr Gott fort – das war wohl die Stelle, an der er ihnen den Haken an der Sache nannte. Wenn Metatron eins in seinen beinahe eintausend Jahren gelernt hatte, dann dass es immer einen gab. »Aber ich muss sichergehen, dass ihr mein Wort sprecht und mein Wort allein. Ihr werdet den gesamten Himmel lenken können und das soll nach meinem Willen geschehen. Wenn ihr den Schwur in zwei Jahren leistet und euch an mich bindet, dann werde ich auch dafür sorgen, dass ihr nicht mehr lügen könnt.«
Sandalphon runzelte die Stirn. »Wir könnten nur noch nach Eurem Willen sprechen.«
»Ja.«
So wie sein Bruder aussah, würde Metatron dessen Meinung exakt dann zu hören bekommen, wenn sie diesen Raum verließen und die Steintür hinter ihnen ins Schloss fiel.
»Ihr müsst das nicht tun«, erklärte Gott. »Ich nehme den Eingriff nur mit eurem Einverständnis vor, denn ein unfreiwilliger Diener nützt mir nichts. Ich bitte euch, in den kommenden Jahren eine Entscheidung zu treffen, ob ihr den Schwur leistet.«
»Wir müssen das nicht?« Sandalphon klang, als könnte er nicht glauben, was er da gerade hörte. Zugegeben, Metatron konnte ihn verstehen. Der freie Wille eines jeden Engels wurde zwar mit Stolz betont, ging aber zwischen der wesentlich lauteren Forderung nach striktem Gehorsam unter. Den Seraphim ging es da nicht anders als dem Rest des Himmels.
»Ihr könnt den Schwur leisten oder nicht. Ihr könnt zustimmen oder ablehnen. Was ihr tut, liegt letzten Endes bei euch.«
»Nun…« Sandalphon schüttelte irritiert den Kopf. »Wenn das so ist, dann denke ich nach. Gibt es noch etwas?«
»Nein.«
›Ja‹, dachte Metatron und gab sich Mühe, es nicht wie eine Aussage klingen zu lassen. Gott war die letzte Person, mit der er dieses Problem diskutieren wollte. ›Warum weiß ich nicht, wie ich Euch ansprechen soll? Warum weiß ich nicht, als was ich Euch bezeichnen und wie ich über Euch reden soll?‹
Wie erwartet und erhofft bekam er keine Antwort. Stattdessen zog sich Gott ohne ein weiteres Wort aus ihren Köpfen zurück, sodass sie wieder Herren über ihre eigenen Gedanken waren.
Herren. Das Wort versetzte Metatron einen Stich und er wusste nicht warum. Er versuchte es zu ignorieren und machte das Wort dadurch nur noch präsenter in seinem Kopf, bis es sich von allein wiederholte und als endloses Echo durch seinen Verstand hallte. Er spürte sich kaum die Treppenstufen heruntergehen und Sandalphon nach draußen folgen. Sein Bruder drückte die Tür auf, ließ Metatron als Erstes hinaus und holte dann direkt zu ihm auf.
»Wie kann er glauben, dass wir das annehmen?«, fragte Sandalphon, laut genug, dass ihn hier theoretisch alle hören könnten. Praktisch waren Michael und Satan unterwegs und da sie Seraphiel nicht im Turm angetroffen hatten, dürfte der sich ausruhen oder schlafen. »Wie kann er glauben, dass wir uns freiwillig an ihn binden? Wir dürften nicht einmal eine eigene Meinung haben, wenn wir-«
»Das wissen wir nicht«, widersprach Metatron und schob dem Redefluss kurzfristig einen Riegel vor. »Sag mal…«
»Ja?«
»Tut mir leid, dass ich dich unterbreche«, sagte er. Am liebsten hätte er das Thema ganz vermieden, aber diese verfluchten Fragen… »Als was siehst du Gott?«
Sandalphon stutzte. »Wie bitte?«
Metatron zögerte. Er konnte die Sache kaum beschreiben und musste sich mühsam zu einem Versuch überreden. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er eine vernünftige Formulierung fand. »Alle sprechen Gott so an, wie sie selbst angesprochen werden wollen, richtig?«
Sandalphon nickte und machte nicht den Eindruck, als würde er verstehen.
»Geht dir das auch so?«
»Natürlich. Gott spricht mit meinen Gedanken, ihn anders als mich anzusprechen, fühlt sich falsch an. Wie kommst du überhaupt darauf?«
›Ich weiß nicht, als was ich mich bezeichnen soll‹, dachte Metatron und dieser Umstand kam ihm so unfassbar lächerlich vor. Hoffentlich war er einfach nur verschlafen. »Nicht so wichtig«, murmelte er und überließ seinem Bruder wieder das Feld.
»So einen Schwur kann ich nicht leisten«, sagte Sandalphon. »Und wenn Gott uns die Wahl lässt, muss er damit rechnen, dass ich es lasse.«
›Du sagst das so leicht‹, dachte Metatron. ›Du hast ihn doch gehört, wir sind geschaffen worden, um ihn zu vertreten. Was für einen Sinn haben wir denn, wenn nicht den? Du hast ja recht, aber…‹
Er fühlte sich der Sache hilflos ausgeliefert, jedem noch so freien Willen zum Trotz. Es wäre ihm lieber, jemand anders würde die Entscheidung für ihn treffen und die Angelegenheit damit erledigen.
Ohne ein weiteres Wort ging Sandalphon zu ihrer Wohnung und ließ Metatron mit sich und seinen Gedanken allein. So viele Fragen. Es kam ihm vor, als müsste er für jede eine Antwort haben, doch er wusste keine einzige.
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10
Dorian
3. November
Hölle
Als Dorian den Ruf spürte, erfüllte ihn nichts als Erleichterung. Natürlich könnte es seinen sicheren Tod bedeuten, aber selbst für das Bisschen Aufmerksamkeit gäbe er gerade alles.
Zitternd strich er seinen Mantel glatt, auch wenn das kaum etwas brachte. Die ziellose Wanderschaft der letzten Tage hatten dem Kleidungsstück zugesetzt, und obwohl es noch funktional war, kam es Dorian vor, als hätte es jeglichen Schutz verloren. In jeder Sekunde fühlte er sich bloßgelegt, beobachtet und gleichzeitig von Luzifer und der Welt verlassen.
Dorian schloss die Augen und wünschte sich weg aus dieser Sackgasse. Luzifers Verlangen nach ihm wies ihm den Weg.
Einen Moment später tauchte er in einem der größten und am häufigsten frequentierten Räumen in diesem Höhlensystem auf. An allen Wänden hingen Fackeln und Kerzen, die mehr Licht spendeten als es für die Hölle üblich war. Unter einem verhältnismäßig großen Fenster stand eine stets verschlossene Kommode aus glattem Stein, in der gegenüberliegenden Ecke ein gepolsterter Sessel wie ein Thron. Der Boden war größtenteils mit einem dunklen Teppich bedeckt, der die Angewohnheit besaß, auch das kleinste Geräusch zu verschlucken. Im Laufe der Zeit hatten sich einige Flecken unterschiedlichen Ursprungs darauf angesammelt, die sich nur noch durch Herausbrennen entfernen ließen – Dorian wusste das, denn er war für manche dieser Flecken verantwortlich. Sein Bauch krampfte sich auf eine eigenwillige Weise zusammen, wenn er daran dachte.
Luzifer saß mit sichtlicher Ungeduld im Gesicht auf seinem Sessel, die Beine überkreuzt, den Kopf auf eine Hand gestützt. Als er den Blick auf Dorian warf, hob er eine Augenbraue und lachte trocken auf. »Sieh an, wer als Erstes hergekommen ist.«
Entweder hatte er gute oder abgrundtief schlechte Laune, und Ersteres konnte sich Dorian gerade nicht vorstellen. Er senkte den Kopf und kämpfte gegen die wachsende Panik an. »Wie kann ich-«
»Sei still.«
Dorian nickte hastig und blieb reglos stehen. Einen Augenblick später erschienen zwei weitere Leute im Raum. Lucian hatte die Mantelkapuze tief ins Gesicht gezogen, sodass es komplett im Schatten lag, Adrian sah aus, als hätte er sich auf dem Weg hierher durch einen Hurrikan gekämpft. Razvan tauchte nur einen Augenblick später zu Dorians Rechten auf und würdigte ihn keines Blickes. Als Einziger von ihnen trug er keinen Mantel, sondern eng anliegende Hosen und ein Hemd mit hohem Kragen. Die langen, pechschwarzen Haare hatte er in unzählige, dünne Braids geflochten. Für gewöhnlich schickte Luzifer ihn auf besondere Aufträge, über die er kein Wort verlor, und wenn er Menschen töten sollte, dann meistens zusammen mit Janne. Der erschien schließlich als Letzter im Raum und gab sich größte Mühe, hinter Razvan zu verschwinden und so zu tun, als wäre er nicht da.
Luzifer stand auf und sie fielen daraufhin alle synchron auf die Knie. »Steht auf«, sagte ihr Meister direkt, als wäre ihm dieses Ritual längst zuwider geworden. »Ich habe einen Auftrag für euch alle.«
Es war zwar schon vorher still im Raum gewesen, doch jetzt wurde das Schweigen hörbar und ihre kollektive Anspannung lud die Atmosphäre zusätzlich auf. Normalerweise wurden sie höchstens zu zweit auf die Erde geschickt.
»Ihr werdet in der Hölle und auf der Erde nach einem Gefallenen namens Chris suchen.«
Dorian wurde kalt und es fiel ihm schwer, Haltung zu bewahren. Da war es wieder, das Bild in seiner Erinnerung. Schwarze Federn. Engelsaugen.
›Mensch‹, dachte Dorian beharrlich. Seine innere Stimme spuckte das Wort aus, doch selbst das verlieh der Verachtung nicht genügend Ausdruck.
»Er hat bei seiner wichtigsten Aufgabe versagt, mir seinen Gehorsam verweigert und mich hintergangen. Wenn ihr ihn findet, wird er euch Lügen erzählen. Hört ihm nicht zu und glaubt ihm kein Wort, sondern bringt ihn mir. Bringt mir seine Überreste, wenn er sich wehrt.«
Kollektives Nicken. Dorian zwang sich, es auch zu tun, auch wenn ihn seine außer Kontrolle geratenen Gedanken zusehends erstarren ließen. ›Ich habe ihn in die Hölle gebracht. Er ist das Problem und ich habe es ausgelöst. Das ist alles meine Schuld.‹
»Verliert keine Zeit. Ich will diese Situation so schnell wie möglich gelöst haben.«
Wieder Nicken, aber keiner rührte sich, bevor es ihm befohlen wurde – vor Luzifer verloren sie ihren freien Willen. Das war es, was sie ihm schuldeten.
»Macht euch auf den Weg.« Er runzelte kurz die Stirn. »Lucian, du bleibst hier.«
Der Angesprochene ging arrogant grinsend an ihnen vorbei, im Wissen, dass sich in Luzifers Anwesenheit niemand trauen würde, seinem Neid Ausdruck zu verleihen. Dorian schaute auf den Teppich, weil er den Anblick nicht ertrug. ›Dachtest du wirklich, Luzifer würde dich gerade wollen?‹
Er beeilte sich, auf die Erde zu gehen, aus einer Ahnung heraus, dass Chris garantiert nicht mehr in der Hölle war. Es kam ihm vor, als flüchtete er von einem Ort, der sein einziges Zuhause sein sollte.
›Ich muss Chris finden‹, dachte Dorian gegen einen aufkommenden Zweifel an, fand sich auf einem überwucherten Waldweg wieder und fühlte sich seltsam willkommen. War das schon immer so gewesen? ›Er ist mein Fehler und ich mache ihn wieder gut.‹
Er stieg schnell in die Luft, schloss die Augen und ließ sein Gefühl suchen. Auf gewisse Entfernungen konnten sie sich gegenseitig spüren, doch gerade schien er allein hier zu sein.
›Wenn ich etwas wert sein will, dann muss ich Chris als Erster finden.‹
Dorian flog in die Richtung, in der es am verlassensten aussah. Irgendwo musste er ja anfangen.
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11
Chris
10. November
Erde
Janne hatte Chris mehrfach nahegelegt, sich wenn möglich keinem Menschen zu zeigen und der Kerl, der ihn in die Hölle entführt hatte, war bei seinem Anblick sichtlich erschrocken. Nach der Logik sollte er unter Menschen sicherer sein, aber er traute sich nicht.
Die meiste Zeit über schwebte Chris ungefähr hundert Meter über dem Boden, in der Hoffnung, so nur für einen merkwürdigen Vogel gehalten und ignoriert zu werden. Sobald er müde wurde, landete er auf einem verlassenen Fleck Erde und versuchte sich auszuruhen. Schlaf fand er allerdings nie, denn eine an Paranoia grenzende Angst hielt ihn zuverlässig wach.
Nicht, dass er wusste, wo er sich überhaupt befand, denn keines der Straßenschilder sagte ihm etwas. Die Schrift hielt er für Kyrillisch und wider Erwarten konnte er sie problemlos lesen, aber die Ortsnamen halfen trotzdem nicht weiter. Für den Moment hielt er sich im Umfeld einer Großstadt auf, von der er noch nie gehört hatte – weit genug entfernt, um unter sich Felder zu sehen und nah genug, um die funkelnden Lichter zu erkennen.
Jetzt, wo sich die nach Nacht dem Ende neigte, wachte die Stadt langsam auf und der Lärm schwoll an, bis Chris ihn auch in dieser Höhe und Entfernung hörte. ›Mein Wecker klingelt gleich‹, dachte er und fragte sich, ob das Gerät immer noch treu seinen Dienst tat oder ob seine Mitbewohner es mittlerweile aus dem Fenster geworfen hatten. ›So früh ist überhaupt nicht meine Zeit, aber wenn ich mich noch mal umdrehe, stehe ich nicht vor Mittags auf. Ich gehe ins Bad und nehme mein Testogel. Ich koche Kaffee und werde dann vielleicht wach genug, um niemanden mehr zu gefährden.‹
Sein Alltag konnte realistisch gesehen vielleicht zwei Wochen her sein, aber es fühlte sich eine Ewigkeit weit weg an, wie eine zusehends verblassende Erinnerung. Sich die Details immer wieder durch den Kopf gehen zu lassen tat weh, denn sie führten Chris vor Augen, was er alles verloren hatte. Aber die Alternative hieß Vergessen und das kam ihm zu sehr wie Selbstaufgabe vor. Er hatte zu lange zu hart gearbeitet, um endlich mit sich im Reinen zu sein, nur um das jetzt hinter sich zu lassen.
Wieder berührte er seinen Anhänger, nur flüchtig, aber es reichte für ein bisschen Hoffnung. Irgendwie würde es weitergehen.
Langsam ging die Sonne auf, tauchte die Welt in ein zartes, goldenes Licht und färbte Himmel und Wolken zartrosa. Chris ließ sich für eine Weile lang von dem Anblick verzaubern, bis ihm eine Brise so heftig um die Ohren pfiff, dass er kurz das Gleichgewicht in der Luft verlor. Danach fühlten sich seine Flügel lahm an und mussten mühsam zur Arbeit überredet werden. Sein Magen knurrte und machte ihn auf das mindestens faustgroße Loch in seinem Bauch aufmerksam, das dringend gefüllt werden wollte.
Chris warf einen Blick in Richtung Stadt und dachte an hunderte Lieferdienste, Supermärkte und Restaurants. Mit dem Hunger wuchs auch seine Bereitschaft, irgendwo einzubrechen und Essen zu klauen, aber gerade überwiegte sein Gewissen noch. Insgeheim wünschte er sich, es würde damit aufhören.
Zeit, sich wieder auszuruhen. Chris landete auf einer verlassenen Weide am Rand eines Waldes und glaubte erst, die Stelle zu kennen, doch die Landschaften sahen sich hier einfach nur zum Verwechseln ähnlich. Er schaute sich mehrfach um, entdeckte weder Mensch noch Tier noch irgendetwas Bemerkenswertes außer einer baufälligen Scheune, zog seinen Mantel aus und legte ihn auf den Boden, um nicht direkt im nassen Gras sitzen zu müssen. Der Stoff weichte zwar auch nach ein paar Minuten durch, aber es war besser als gar nichts.
Chris hatte gerade genug Zeit zum Durchatmen gehabt, als ihm schlecht wurde. Die Übelkeit kroch in seinen Magen wie eine sich verdichtende Ahnung, dass etwas nicht stimmte, doch weder auf der Wiese, noch in der Scheune oder im Gebüsch konnte er etwas erkennen. Er sollte hier alleine sein, das alles in ihm beharrte darauf, sofort von hier zu flüchten.
›Als ich das das letzte Mal gespürt habe, ist meine Welt zusammengebrochen. Heißt das, sie haben mich endlich gefunden?‹
Es wurde immer stiller, bis Chris sich nicht mehr traute zu atmen, aus Angst sich dadurch zu verraten. Gleichzeitig schaute er sich immer hektischer um, irgendetwas musste er übersehen haben. Erst nach mehreren Minuten erkannte er seinen Fehler.
Im aufziehenden Nebel über ihm schwebte der falsche Engel und beobachtete ihn aus blutig roten Augen. Chris kam so schnell er konnte auf die Beine, griff sich seinen Mantel und stolperte im rutschigen Gras schon nach wenigen Schritten über seine eigenen Füße. Während er fiel, erkannte er den Engel als Schatten über sich, der ihn Sekunden später zu Boden presste. Chris atmete aus und ergab sich seinem Schicksal.
Nichts passierte. Eine bedrückende Stille legte sich über das Gras, der Druck auf seinem Rücken ließ abrupt nach. Hektisch kroch Chris auf dem Bauch nach vorn, setzte sich auf und wandte sich zum. Zuerst sah er ein mehr oder weniger bekanntes Paar Stiefel vor sich, dann einen langen schwarzen Mantel. Schließlich ein blasses Gesicht wie aus Marmor gemeißelt, Augen wie grob geschliffene Rubine, staubig blondes Haar, hastig in Form gebracht. Zwei längere Strähnen reichten ihm etwa bis ans Kinn.
Chris war in den letzten Tagen so sehr mit Überleben beschäftigt gewesen, dass er nicht einmal daran gedacht hatte, er könnte seinen Entführer wiedersehen. Jetzt hatte er so viel gleichzeitig zu sagen, dass ihm am Ende die Worte fehlten. »Du? Wirklich?«
Dorian blieb still – Janne hatte wohl recht gehabt, und er redete wirklich nicht gern. Wie versteinert stand er im Gras und schaute abwechselnd in den Himmel und direkt an Chris vorbei.
»Will Luzifer mich lebendig oder tot?«
»Was bist du?«
Spätestens das verwirrte Chris zu sehr, als dass er noch wütend werden könnte. Kopfschüttelnd stand er auf, strich sich das nasse Gras von Mantel und Hose. Sein Gegenüber reagierte nicht darauf. »Ich bin ein Mensch. Ich bin derselbe, den du mitgenommen hast.« Zumindest wollte er das glauben.
Dorian nickte langsam und murmelte etwas, das sich wie »Ich habe nichts gesehen« anhörte.
›Er ist mir in den Rücken gefallen‹, dachte Chris. ›Hätte er mich töten wollen, stände ich längst nicht mehr hier. Aber was will er dann von mir?‹
»Wenn du menschlich bist«, sagte Dorian langsam, »warum hast du dann Flügel?«
»Ich dachte, du könntest mir das sagen«, erwiderte Chris missmutig. Dann setzte sich das Bild langsam zusammen. »Warte. Du weißt auch nichts außer dem, was er dir erzählt hat, oder?«
»Ich weiß, was ich wissen muss.«
»Wie viel ist das wirklich?«
Das Schweigen danach verriet mehr als genug. Nicht, dass sich Chris irgendwelche Antworten erhofft hatte, aber das hier frustrierte ihn trotzdem über alle Maßen. »Was hat Luzifer dir gesagt, wer du bist?«
»Ich bin gefallen«, antwortete Dorian, doch er sprach langsam, brachte die Worte hörbar mühsam heraus. »Luzifer hat mich gerettet, nachdem meine Seele in den Höllenflüssen feststeckte. Ich schulde ihm mein Leben. Ich schulde ihm alles, was ich habe.«
›Er hat es jedem gesagt.‹ Immerhin hatte Chris jetzt die Bestätigung. »Okay, hör zu, ich weiß nicht, wie ich dir das besser beibringen soll, aber nichts davon stimmt.«
»Du erzählst ja wirklich die Scheiße, vor der man uns gewarnt hat.«
Chris drehte sich langsam um – hinter ihm stand ein weiterer Engel mit ausgebreiteten, schwarzen Flügeln. Er war dürr, etwas größer als Dorian und hatte bemerkenswerte Augenringe. Seine mausbraunen Haare standen offensichtlich verknotet in alle Richtungen ab und sahen insgesamt aus wie ein nicht ganz gewollter Unfall. Er trug das selbstgefälligste Grinsen im Gesicht, das Chris je gesehen hatte.
Er schluckte. »Dorian, wie viele Leute suchen gerade nach mir?«
Der fremde Engel zuckte mit den Schultern. »Alle. Und wenn Dorian Luzifer deinen Kopf nicht bringen will, dann übernehm ich das liebend gerne.«
»Er gehört mir, Adrian.«
»Du hattest ja wohl genug Gelegenheit, um ihn mitzunehmen und-«
»Ich sagte, er gehört mir!«
Im nächsten Moment schoss ein Schatten direkt an Chris vorbei auf den Engel zu und die beiden verschwanden aus seinem Sichtfeld. Danach rührte sich auf der Wiese kein Grashalm mehr und es wurde still, als hätte jemand die gesamte Welt lautlos gestellt.
»Ob ihr mich verarschen wollt«, murmelte Chris und fasste sich an die Stirn.