Kitabı oku: «Anna das Mädchen aus Dalarne», sayfa 2

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Als die Uhr an demselben Montagmorgen acht Uhr schlug, klingelte es bei Bürgermeisters, und die alte verständige Jungfer, die den Haushalt leitete, eilte in den Flur, um zu öffnen.

Der da draußen stand, war Karl Artur Ekenstedt; aber die Jungfer dachte bei sich, wenn sie nicht seit so vielen Jahren in Karlstadt gelebt hätte und ihr Karl Artur nicht schon als Junge und auch als erwachsener junger Mann bekannt gewesen wäre, hätte sie ihn jetzt nicht wiedererkannt. Sein Gesicht war blaurot, und die schönen Augen waren so vorgequollen, daß es aussah, als wollten sie aus ihren Höhlen treten.

Da die Jungfer schon so lange bei Bürgermeisters im Dienst war und eine gewisse Erfahrung in den einschlägigen Dingen gesammelt hatte, dachte sie, der junge Ekenstedt sehe aus wie ein Mörder, und sie hätte ihn am liebsten gar nicht ins Haus hereingelassen. Da er aber doch der Sohn des Oberst Ekenstedt und der guten Frau Oberst war, blieb ihr nichts anders übrig, als ihn hereinzulassen und ihn zu bitten, Platz zu nehmen und auf den Herrn Bürgermeister zu warten. Dieser mache seinen gewohnten Morgenspaziergang, er frühstücke aber um acht, und bis dahin werde er jedenfalls zurück sein.

Wenn sie indessen schon über den Anblick des jungen Mannes erschrocken war, so wurde sie keineswegs ruhiger, als sie sah, wie er an ihr vorbeiging, ohne zu grüßen oder ein Wort zu sagen, gerade wie wenn er ihre Anwesenheit gar nicht bemerkt hätte.

Sicherlich war da etwas nicht so, wie es sein sollte. Alle Kinder der Frau Oberst waren ja sonst immer höflich und freundlich. Diesem Sohn hier mußte ein großes Unglück zugestoßen sein. Er ging vom Flur geradewegs in das Zimmer des Bürgermeisters hinein, und die Jungfer sah, daß er sich in dem Schaukelstuhl niederließ. Aber er blieb nicht lange darin sitzen. Gleich darauf trat er an den Schreibtisch und begann in den Papieren des Bürgermeisters zu fingern.

Sie mußte ja in die Küche hinaus und auf die Uhr sehen, damit die Eier zum Frühstück des Bürgermeisters nicht zu hart würden, und dann mußte sie auch für den Kaffee sorgen. Aber sie mußte dabei doch immer an den jungen Ekenstedt denken. Alle Augenblicke lief sie ins Zimmer hinein, um einen Blick auf ihn zu werfen.

Jetzt wanderte er da auf und ab. Bald war er am Fenster und bald an der Tür, und die ganze Zeit redete er laut mit sich selbst.

Ist es verwunderlich, daß sie Angst bekam? Die Frau Bürgermeister war mit den Kindern bei Verwandten auf dem Lande, und die anderen Dienstboten waren beurlaubt. Die Jungfer war allein in der Wohnung, und die ganze Verantwortung lag auf ihr.

Was sollte sie nur mit dem, der da drinnen im Zimmer des Bürgermeisters herumlief und aussah, als habe er den Verstand verloren, anstellen? Wie, wenn er etwas von den wichtigen Dokumenten, die auf dem Schreibtisch lagen, vernichtete? Und doch konnte sie auch nicht ihre Arbeit im Stiche lassen, um ihn zu beaufsichtigen.

Da kam der alten verständigen Jungfer ein Gedanke, und sie fragte Karl Artur, ob er nicht ins Eßzimmer kommen und in der Wartezeit eine Tasse Kaffee zu sich nehmen wolle? Karl Artur sagte nicht nein, sondern ging sofort mit ihr. Und darüber war sie außerordentlich froh, denn solange er am Kaffeetisch saß, konnte er doch keinen Unfug anstellen.

Er setzte sich gerade auf den Platz des Bürgermeisters, und die Kaffeetasse, die die Jungfer eingeschenkt hatte, trank er in einem Zuge aus, ohne sich darum zu kümmern, daß der Kaffee kochend heiß war. Dann griff er selbst nach der Kanne, die sie auf den Tisch gestellt hatte, schenkte sich noch eine Tasse ein und trank auch diese aus. Er nahm weder Zucker noch Sahne, goß nur den brühheißen Trank in sich hinein.

Als er die zweite Tasse ausgetrunken hatte, mußte er wohl bemerkt haben, daß die Jungfer auf der anderen Seite des Tisches stand und ihn betrachtete, denn er wandte sich jetzt zu ihr und sagte:

»Sie haben sehr guten Kaffee für mich gekocht. Das ist sehr gut von Ihnen. Es ist gewiß das letztemal, daß ich überhaupt Kaffee bekomme.«

Dies sagte er überaus leise, sie konnte die Worte gerade noch verstehen. Es hatte den Anschein, als wolle er ihr ein großes Geheimnis anvertrauen.

»Ach, Sie bekommen wohl auch guten Kaffee bei der Pröpstin in Korskyrka«, erwiderte die Jungfer.

»Jawohl, den bekäme ich schon«, antwortete er, indem er dabei in ein leichtes albernes Lachen ausbrach. »Aber sehen Sie, ich komme nun nie mehr dorthin.«

Daran war nichts Sonderbares. Die jungen Geistlichen wurden ja bald dahin, bald dorthin geschickt. Die Jungfer fühlte sich etwas beruhigter. »Ich glaube, in den Pfarrhäusern, wohin Sie, Herr Magister, auch immer kommen mögen, macht man überall guten Kaffee«, sagte sie.

»Meinen Sie denn, es gäbe auch im Gefängnis guten Kaffee?« fragte er mit noch leiserer Stimme. »Dort wird es sicherlich mit Kaffee und Kuchen aus sein.«

»Aber Sie sollen doch nicht ins Gefängnis? Warum denn um alles in der Welt?«

Er wendete sich fast ganz von ihr weg. »Ich will auf diese Frage keine Antwort geben«, sagte er.

Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder dem Eßtisch zu. Er strich Butter auf ein Stück Brot, legte Käse darauf und aß wie ein Ausgehungerter, biß gierig große Stücke ab und schluckte, fast ohne zu kauen. Die Jungfer fing an zu glauben, er sei nur ganz ausgehungert, sonst fehle ihm nichts. Sie ging in die Küche und holte die für den Bürgermeister bestimmten Eier. Karl Artur verschlang die beiden Eier wie nichts und griff dann aufs neue nach Brot und Butter. Und mitten unter dem eifrigen Essen fing er wieder zu sprechen an:

»Es sind heute sehr viele Tote in der Stadt unterwegs.«

Das sagte er sehr gelassen und gleichgültig, wie wenn er gesagt hätte: »Es ist schönes Wetter heute.« Aber die Jungfer konnte sich doch eines kleinen Schreckens nicht erwehren, und das mußte er gemerkt haben.

»Meinen Sie, was ich sage, sei sonderbar? Ja, es ist wohl etwas Sonderbares daran, daß ich die Toten sehe, das glaub' ich selbst auch. Soviel ich weiß, ist das früher niemals bei mir vorgekommen, nein, niemals, erst nach dem, was ich heute früh um sieben Uhr erlebt habe.«

»Ach so«, sagte die Jungfer.

»Ja, sehen Sie, da bekam ich einen schweren Herzkrampf. Ich wollte von Hause in die Stadt gehen, aber ich konnte nicht, ich mußte mich am Lattenzaun unseres Gartens festhalten. Da sah ich den Dompropst Sjöborg mit seiner Gattin daherkommen. Sie kamen ganz genauso wie gewöhnlich, wenn sie am Sonntag bei uns zu Mittag aßen. Sie wußten natürlich schon, was ich getan hatte, und sagten zu mir, ich solle hierher zum Herrn Bürgermeister gehen, meine Missetat bekennen und verlangen, daß ich gestraft werde. Ich erwiderte zwar, das sei unmöglich, aber sie bestanden eigensinnig darauf.«

Karl Artur unterbrach sich, goß sich eine neue Tasse Kaffee ein und trank sie sofort aus. Er betrachtete die Jungfer mit prüfenden Blicken, wie um zu sehen, auf welche Weise sie das aufnahm, was er ihr eben berichtet hatte.

Aber die Jungfer sagte nur ganz ruhig: »Es gibt viele Menschen, die Tote gesehen haben, deshalb brauchen Sie, Herr Magister, doch nicht …«

Man sah es Karl Artur an, wie er sich über diese Antwort freute.

»Das glaube ich sicher auch. Ich bin vollständig wie sonst, bis auf dieses einzige.«

»Ja gewiß«, sagte die Jungfer. Sie hielt es fürs beste, ihm zuzustimmen und gleichgültig auszusehen; aber sie wünschte allmählich dringend, der Bürgermeister möchte nach Hause kommen.

»Ich widersetze mich ihrem Willen nicht«, sagte Karl Artur. »Aber ich bin ja noch bei vollem Verstand, und so weiß ich, daß mich der Herr Bürgermeister nur auslachen wird. Ich habe eine schwere Schuld auf meinem Gewissen, das leugne ich nicht, aber es ist ja nichts, wofür ich festgenommen und verurteilt werden kann.«

In demselben Augenblick schloß er die Augen und bog sich zurück. Das Stück Brot, das er in der Hand hielt, fiel auf den Boden, sein Gesicht verzerrte sich, wie wenn er furchtbare Schmerzen hätte; aber der Anfall ging merkwürdig rasch vorüber.

»Es ist ein Herzkrampf«, sagte er. »Ist es nicht sonderbar; er überfällt mich, sobald ich sage, daß ich es nicht tun könne.«

Er stand vom Tisch auf und ging wieder im Zimmer auf und ab.

»Ich soll es tun«, sagte er, und jetzt hatte er vollständig vergessen, daß die Jungfer neben ihm stand und ihm zuhörte. »Ich will es tun, ich werde dem Bürgermeister sagen, daß ich etwas getan habe, wofür er mich strafen kann. Ich werde ihm sagen, ich hätte den Tod eines Menschen verursacht. Es wird mir schon etwas einfallen. Ich muß sagen, ich hätte es mit Absicht getan.«

Er trat wieder zu der Jungfer. »Denken Sie, nun ist es vorbei«, sagte er und sah ganz froh aus. »Es geht vorüber, sobald ich sage, ich wolle meine Strafe büßen. Ich bin so glücklich.«

Die alte verständige Jungfer hatte jetzt keine Angst mehr vor ihm. Tiefes Mitleid hatte sie ergriffen. Sie faßte seine Hand und streichelte sie. »Aber Sie verstehen doch wohl, Herr Magister? Sie dürfen nicht die Schuld auf sich nehmen für etwas, was Sie nicht getan haben.«

»Doch«, sagte er. »Ich weiß, das ist das richtige. Und ich will gerne sterben. Ich will meiner Mutter zeigen, daß ich sie geliebt habe, und ich werde sehr glücklich sein, wenn ich sie dort im Jenseits treffen darf, nachdem alles gesühnt ist.«

»Aber das wird nie geschehen«, sagte die Jungfer. »Ich werde mit dem Herrn Bürgermeister sprechen.«

»Nein, das werden Sie nicht tun«, versetzte Karl Artur.

»Warum sollte mich ein Richter nicht verurteilen können? Ich habe ja gemordet, obgleich ich weder Messer noch Schießwaffe benützt habe. Jaquette weiß, wie es zugegangen ist. Glauben Sie nicht, daß Härte und Lieblosigkeit gefährlicher sind als Stahl und Blei? Mein Vater weiß es auch, er kann es bezeugen. Ich kann wohl verurteilt werden, ich bin nicht unschuldig.«

Die Jungfer wurde der Antwort überhoben. Zu ihrer großen Freude hörte sie Schritte die Treppe heraufkommen.

Sie lief in den Flur hinaus und hoffte, dem Bürgermeister da noch ein warnendes Wort zuflüstern zu können; aber Karl Artur folgte ihr dicht auf den Fersen. Er hatte wohl die Absicht, sofort mit seinem Bekenntnis herauszurücken, fand aber nicht gleich die richtigen Worte.

»Ach so, du bist wieder hier«, sagte der Bürgermeister. »Es war ja auch zu traurig mit der Frau Oberst.«

Zugleich reichte er Karl Artur die Hand; doch dieser hielt seine rechte Hand hinter dem Rücken. Er richtete die Augen auf die Wand, und mit etwas zitternder, aber doch deutlicher Stimme sagte er: »Ich komme, Sie zu bitten, mich festnehmen zu lassen. Ich habe meine Mutter getötet.«

»Ach, zum Kuckuck!« rief der Bürgermeister. »Die Frau Oberst ist ja wohl gar nicht tot! Ich traf soeben den Doktor …«

Karl Artur wankte zurück. Die Jungfer glaubte, er werde fallen, und breitete die Arme aus, ihn aufzufangen. Aber er gewann doch das Gleichgewicht wieder. Dann riß er seinen Hut an sich, und ohne ein weiteres Wort stürzte er auf die Straße hinaus. Der erste Mensch, den Karl Artur erblickte, war der alte Hausarzt der Familie. Eilig lief er auf ihn zu und rief: »Wie geht es meiner Mutter?«

Der Doktor sah ihn mißbilligend an. »Gut, daß ich dich treffe, du Nichtsnutz! Daß du dich nicht unterstehst, jetzt wieder nach Hause zu kommen! Was ist denn in dich gefahren? Setzt dich hin und hältst einer Kranken eine Strafpredigt!«

Karl Artur brauchte nicht noch mehr zu hören. Mit Eilschritten lief er von dem Doktor weg, schnurstracks dem elterlichen Hause zu. Als er näher gekommen war, sah er seine verheiratete Schwester, Eva Arcker, an der Gartentür stehen.

»Eva!« rief er. »Ist es wahr? Mutter lebt?« – »Ja«, sagte sie leise. »Der Doktor meint, sie werde am Leben bleiben.«

Rasch wollte er die Tür aufreißen. Er dachte an nichts weiter, als hineinzustürmen, sich seiner Mutter zu Füßen zu werfen und sie um Erbarmen anzuflehen. Aber Eva hielt ihn zurück.

»Du darfst nicht hinein, Karl Artur. Ich stehe hier schon lange, um dich abzufassen. Es ist ein sehr schwerer Schlaganfall gewesen. Die liebe Mutter kann nicht mir dir sprechen.«

»Ich warte, solange es auch dauern mag.«

»Nicht nur der lieben Mutter wegen darfst du nicht hinein«, sagte Eva mit leicht gerunzelter Stirne, »auch des lieben Vaters wegen. Der Doktor sagte, Mutter werde nie mehr ganz gesund werden. Und nun kann Vater deinen Anblick nicht ertragen. Wir wissen nicht, was geschehen könnte, wenn du mit ihm zusammentreffen würdest. Reis zurück nach Korskyrka, das ist das Beste, was du tun kannst.«

Diese Worte seiner Schwester ärgerten Karl Artur. Er war überzeugt, daß sie sowohl des Vaters Zorn als auch die Gefahr für die Mutter, falls die Eltern ihn sähen, übertrieb.

»Du und dein Mann, ihr habt mich immer bei Vater und Mutter ausstechen wollen«, sagte er. »Ihr versteht es, einen günstigen Augenblick zu benützen. Wohl bekomm's!«

Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging davon.

3

Es ist ja so bei uns Menschen, daß es uns nicht lieb ist, wenn etwas zerbricht. Ja, selbst wenn es nur ein irdener Topf oder ein Porzellanteller ist, lesen wir die Scherben zusammen, legen sie aneinander und versuchen sie zusammenzukitten, um das Stück wieder ganz zu machen.

Etwas in dieser Art war es, womit Karl Artur Ekenstedt während seiner Rückreise nach Korskyrka beschäftigt war.

Jedenfalls aber tat er das nicht den ganzen Tag hindurch, denn man darf nicht vergessen, daß in der vorhergehenden Nacht kein Schlummer in seine Augen gekommen war und daß er auch infolge der vielen aufregenden Ereignisse die ganze vergangene Woche hindurch nicht genügend geschlafen hatte. Jetzt aber kam der Körper mit seiner unbeugsamen Forderung, und so schlief Karl Artur trotz der rüttelnden Postkutschen, in denen er fuhr, und trotz all dem Kaffee, den er beim Bürgermeister in sich hineingegossen hatte, während des größten Teiles des Heimwegs.

Aber während der kurzen Zeit, wo er wach war, versuchte er, Teile und Stücke von sich selbst aufzulesen, damit der Karl Artur Ekenstedt, der erst vor wenigen Stunden denselben Weg gefahren war und der drinnen in Karlstadt in viele Scherben zerschellt war, wieder ganz werden und aufs neue gebraucht werden könnte!

Der eine oder andere denkt vielleicht, es sei ja nur ein erbärmlicher irdener Topf zerbrochen, und es lohne sich kaum der Mühe, Arbeit und Kitt auf ihn zu verwenden. Aber man muß Karl Artur doch entschuldigen, wenn er selbst nicht dieser Ansicht sein konnte, sondern glaubte, es sei eine Vase aus echtem Porzellan mit kostbarer Handmalerei und reicher Vergoldung, die zu Schaden gekommen war.

Auf irgendeine Weise kam es ihm bei seiner Flickarbeit zustatten, an Schwester Eva und ihren Mann zu denken, sich über sie zu erregen und sich aller Gelegenheiten zu erinnern, bei denen sie Proben ihres Neides gezeigt und sich über die Ungerechtigkeit der Mutter beklagt hatten.

Je mehr er an den alten Groll dachte, den Eva ihm gegenüber hegte, desto überzeugter wurde er, daß sie nicht die Wahrheit gesprochen hatte. Es stand gewiß nicht so gefährlich mit der Mutter, wie Eva hatte durchblicken lassen, und daß der Vater so aufgebracht gegen ihn sein sollte, das war gewiß nur eine Finte, die Eva und Arcker sich ausgedacht hatten. Sie hofften, sie könnten diese seine letzte Dummheit – die ja auch unbegreiflich groß war – benützen, um ihn für alle Zeit von dem Elternhause fernzuhalten.

Gerade als er bei dem Schluß angekommen war, daß alles aufs beste verlaufen wäre, wenn ihn Eva nicht fortgewiesen hätte, überfiel ihn das Schlafbedürfnis, und er schlief ununterbrochen, bis die Postkutsche vor einem Wirtshause anhielt.

Ein andermal, als er wach war, dachte er an Jaquette. Gegen sie wollte er nicht ungerecht sein; sie war nicht neidisch wie Eva. Sie war liebenswürdig, und sie hatte ihn gern. Aber war sie nicht recht einfältig? Wenn sie ihn bei der wichtigen Unterredung mit der Mutter nicht gestört hätte, würde er zwar wohl ungefähr dasselbe gesagt haben, aber sicherlich auf andere Weise. Es fällt einem nicht leicht, die Worte gut zu setzen, wenn die ganze Zeit jemand hinter einem steht, der einem am Arme zieht und einem zuflüstert, man solle sich in acht nehmen.

Es war ihm von großem Nutzen, als er an Jaquette dachte und sich sagte, wie dumm und unbegabt sie sei. Aber bald schlief er auch dabei wieder ein.

Mit einem gewissen Widerstreben dachte er bisweilen auch daran, daß Thea Sundler ebenfalls ihren Teil zu seinem Unglück beigetragen hatte. Sie war ja doch seine beste Freundin. Es gab ja niemand, auf den er sich in dem Maße verlassen konnte wie auf Thea; aber sie hatte vielleicht doch nicht genügend von der Welt gesehen, um ein sicherer Ratgeber zu sein. Darin hatte sie sich jedenfalls getäuscht, wenn sie meinte, die Mutter warte darauf, ihn um Verzeihung bitten zu können. Und wenn es auch nur von der großen Wertschätzung kam, die ihm Thea zuteil werden ließ und die allein ihr das Urteil getrübt hatte, so war sie doch immerhin die Veranlassung zu einem großen Unglück gewesen. Die Mutter hätte jetzt tot und er wahnsinnig sein können. Er war ja schon gut auf dem Wege dazu.

Im übrigen mochte er nicht an den Besuch beim Bürgermeister und an die Unterredung mit der Jungfer denken. Es war ihm, als müsse er darüber aufs neue in Scherben brechen, und dann mußte ja die ganze Arbeit des Zusammensetzens wieder von vorne angefangen werden.

Und abermals, während der wachen Augenblicke, kam er auf einen neuen Gedanken. Vielleicht gerade weil er dabei ein solches Entsetzen und so großen Kummer an den Tag gelegt hatte, könnte ihm das zu einer Hilfe werden. Seine Mutter würde schon davon reden hören und dann verstehen, wie lieb er sie hatte. Sie würde gerührt werden, sie würde nach ihm schicken, und sie würden sich miteinander versöhnen.

Ja, er wollte an diesen Abschluß glauben. Jeden Tag wollte er Gott bitten, es auf diese Weise endigen zu lassen.

Wenn man sich so unehrerbietig ausdrücken darf, dann war Karl Artur wieder ganz gut zusammengekittet, als er abends gegen elf Uhr in Korskyrka eintraf. Er wunderte sich selbst darüber, daß er diese furchtbare Gemütserschütterung doch einigermaßen gut überstanden hatte. Schläfrig war er aber immer noch, und als er vor dem Tor der Propstei ausstieg und den Kutscher bezahlte, freute er sich schon darauf, sich nun in einem Bett ausstrecken und sich sattschlafen zu können.

Als er sich nach dem Seitenflügel wandte, kam indes das Mädchen mit dem Bescheid, im Eßzimmer warte ein warmes Abendessen auf ihn. Er wäre freilich am liebsten gleich zu Bett gegangen, aber das war doch sehr freundlich von der Pröpstin; sie hatte wohl gedacht, nachdem er den ganzen Tag gereist sei, könnte ihm eine richtige Mahlzeit notwendig sein, und so ging er mit dem Mädchen hinein.

Das hätte er indes doch wohl nicht getan, wenn er nicht gewußt hätte, daß sich niemand im Hause befand, der ihn über seine Reise ausfragen könnte. Die Alten waren natürlich längst zu Bett gegangen, und Charlotte war ja nicht mehr da.

Als er über den Flur ging, wäre er beinah über eine dicht neben der Tür stehende Kiste, oder was es sonst sein mochte, gefallen. »Ach, nehmen Sie sich in acht, Herr Magister!« sagte das Dienstmädchen. »Dies sind Frau Schagerströms gepackte Sachen. Wir haben den ganzen Tag über allerlei in Stroh verpackt und in Tücher eingenäht.«

Trotzdem fiel es Karl Artur nicht ein, daß Charlotte von Groß-Sjötorp hergefahren sein könnte, und noch weniger, daß sie vielleicht in der Propstei übernachte. Ganz ruhig ging er ins Eßzimmer und setzte sich zu Tisch.

Eine lange Weile blieb er ungestört und hatte also gut Zeit, sich sattzuessen. Als er aber die Hände zum Tischgebet faltete, hörte er Schritte auf der Treppe. Es waren schwere, schleppende Schritte; Karl Artur dachte, es sei die Pröpstin, die von seiner Reise hören wollte, und so konnte er nicht davonlaufen, was er freilich am liebsten getan hätte.

Im nächsten Augenblick ging die Tür auf, und es kam jemand herein. Ach, es wäre schon schlimm genug gewesen, wenn die Pröpstin unter der Tür gestanden hätte; aber nein, es war Charlotte! Das war das schlimmste, was ihm widerfahren konnte. Er war nicht umsonst fünf Jahre mit ihr verlobt gewesen – er kannte sie! Ach, welchen Auftritt würde es nun geben, wenn sie erfuhr, daß die Mutter einen Schlaganfall gehabt hatte! Sie würde ihn abkanzeln. Obgleich er furchtbar müde war, würde er sie stundenlang anhören müssen. In aller Eile beschloß er deshalb, spöttisch höflich gegen sie zu sein, was er ja in der ganzen letzten Zeit schon getan hatte. Das war immer die beste Art, sie in angemessener Entfernung von sich zu halten.

Ehe er aber etwas sagen konnte, war Charlotte schon tiefer ins Zimmer hereingekommen, und die beiden Talglichter auf dem Tische beleuchteten nun hell ihr Gesicht. Und da sah Karl Artur, daß sie ganz verweinte Augen hatte und todesblaß war. Es mußte ihr etwas Furchtbares widerfahren sein.

Das nächstliegende war für ihn, zu denken, sie fühle sich wegen ihrer Heirat tiefunglücklich. Aber andererseits sah es ihr gar nicht ähnlich, das so offen zu zeigen. Und der gewesene Bräutigam war wohl der letzte, dem sie einen Einblick in diese Sache gewährt hätte. Ach ja, ganz richtig! Vor ein paar Tagen hatte Karl Artur gehört, daß Charlottes Schwester, Frau Dr. Romelius, lebensgefährlich erkrankt sei. Nun glaubte er zu verstehen, was eingetroffen war.

Charlotte nahm einen Stuhl und setzte sich an den Eßtisch. Mit einer sonderbar harten und ausdruckslosen Stimme begann sie zu sprechen, so wie man es tut, wenn man sich vorgenommen hat, unter keinen Umständen in Tränen auszubrechen. Sie sah Karl Artur nicht an, man hätte meinen können, sie redet laut mit sich selbst.

»Vor einer Stunde ist Hauptmann Hammarberg hier gewesen«, begann sie. »Er war in Karlstadt und ist heute morgen etwas später als du von dort abgereist. Aber er fuhr mit zwei Pferden und traf viel früher hier ein. Er sagte, er sei auf der Straße an dir vorbeigefahren.«

Karl Artur rückte seinen Stuhl vom Tisch zurück. Wie ein scharfer Stich durchfuhr es ihn vom Kopf bis hinunter ins Herz.

»Als er an der Propstei vorbeifuhr, sah er die Fenster im Studierzimmer noch erleuchtet«, sprach Charlotte ebenso umständlich und eintönig weiter. »Da meinte er, der Propst sei noch nicht zu Bett gegangen. Er stieg aus, denn er konnte sich das Vergnügen nicht versagen, dem Propst zu berichten, wie sich sein Vikar heute in Karlstadt aufgeführt hat. Er erzählt solche Sachen sehr gerne.«

Stich auf Stich fuhr Karl Artur vom Kopf hinab und durchs Herz. Alles, was er den Tag hindurch zusammengelesen und zusammengekittet hatte, war wieder am Auseinanderfallen. Jetzt würde er hören, wie seine Mitmenschen seine Handlungen beurteilten.

»Wir hatten die Haustür nicht geschlossen, weil wir dich jeden Augenblick zurückerwarteten, deshalb konnte er ungestört ins Studierzimmer eintreten. Aber der Oheim war eben zu Bett gegangen, und darum traf er diesen nicht an, sondern mich. Ich saß am Schreibtisch und schrieb Briefe, denn ich hätte nicht an Schlaf denken können, ehe ich gehört hatte, wie es dir in Karlstadt ergangen war. Jetzt erfuhr ich es von Hauptmann Hammarberg, und ich glaube, es war ihm eine größere Freude, es mir berichten zu können, als dem Oheim.«

»Und du, Charlotte, hast ihm natürlich mit nicht geringerem Genuß zugehört«, fiel ihr Karl Artur ins Wort.

Charlotte machte eine leicht abwehrende Bewegung. Dieser kleine Ausfall war keiner Antwort wert. Das war nur etwas, wonach Leute greifen, die in großer Not sind, sich aber trotzdem überlegen zeigen wollen. Sie fuhr in ihrem Bericht fort:

»Hauptmann Hammarberg blieb nicht lange da. Er ging seines Weges, sobald er erzählt hatte, daß du deiner Mutter eine Strafpredigt gehalten habest und sie darauf einen schweren Schlaganfall bekommen habe. Ja, und von deinem Besuch beim Bürgermeister sprach er auch. Ach, Karl Artur, Karl Artur!«

Als Charlotte das alles gesagt hatte, war es aus mit ihrer Beherrschung. Sie drückte das Taschentuch auf die Augen und schluchzte.

Aber nun ist es ja so mit uns Menschen, daß es uns nicht lieb ist, wenn jemand über uns weint. Und ebensowenig erfreut uns der Gedanke, ein anderer habe gerade vorhin einen komischen Bericht darüber gehört, wie dumm und lächerlich wir uns benommen haben. Deshalb konnte Karl Artur die Äußerung nicht unterdrücken, da Charlotte jetzt mit einem anderen verheiratet sei, brauche sie sich seinet- und seiner Familie wegen keinem großen Kummer hinzugeben.

Auch diesen Ausfall würdigte Charlotte keiner Antwort. Es war ja nur natürlich, daß er nach einem Verteidigungsmittel griff. Das war nichts, worüber sie sich zu ärgern brauchte.

Statt dessen kämpfte sie ihre Tränen nieder, um dem Ausdruck verleihen zu können, was sie ihm schon die ganze Zeit hatte sagen wollen.

»Als ich das alles erfuhr, war ich zuerst entschlossen, heut abend nicht mehr mit dir darüber zu sprechen. Du wolltest am liebsten allein sein, das begriff ich. Aber da ist etwas, das ich dir ohne Aufschub sagen muß. Ich werde mich kurz fassen.«

Er zuckte die Schultern und sah ergeben und unglücklich aus. Sie saßen ja hier im selben Zimmer; er war gezwungen, sie anzuhören.

»Ach, alles miteinander ist ja meine Schuld, das mußt du wissen«, sagte Charlotte. »Ich habe ja Thea überredet – deine ganze Karlstädter Reise – ich, ich war's – du wolltest nicht, aber ich wollte – und wenn nun deine Mutter stirbt, so bin ich es und nicht du …«

Sie kam nicht weiter. Sie fühlte sich nur furchtbar unglücklich und schuldbewußt.

»Ich hätte geduldig sein sollen«, fuhr sie fort, sobald sie einigermaßen wieder Herr ihrer Gemütsbewegung und ihrer Sprache geworden war. »Ich hätte dich nicht so rasch hinschicken sollen. Du trugst noch Groll gegen deine Mutter im Herzen, du hattest ihr noch nicht verziehen. Deshalb ging es so, wie es gegangen ist. Aber ich hätte verstehen sollen, daß es so nicht gelingen konnte. Alles, alles, alles ist meine Schuld!«

Zugleich stand sie auf und ging eine Weile im Zimmer auf und ab, wobei ihre Hände ihr Taschentuch zerknüllten. Schließlich blieb sie vor Karl Artur stehen. »Das solltest du wissen, das wollte ich dir sagen. Alles miteinander ist meine Schuld.«

Er erwiderte kein Wort; er streckte nur die Hände aus und ergriff eine der ihren, die er festhielt.

»Charlotte!« sagte er nur sehr leise und mild. »Ach, wie viele Unterredungen haben wir in diesem Zimmer, an diesem Eßtisch miteinander gepflogen. Hier haben wir uns gestritten und uns gescholten, aber hier haben wir auch viele frohe Stunden verlebt. Und jetzt ist es das letztemal!«

Sie stand neben ihm und begriff nicht, was das bedeutete. Er streichelte ihre Hand und sprach freundlicher mit ihr als seit Jahren. »Du bist immer edelmütig gewesen und hast mir helfen wollen. Es gibt keinen so edlen Menschen wie dich, Charlotte.«

Vor lauter Verwunderung war sie verstummt; sie konnte ihm nicht einmal widersprechen.

»Ich habe nur immer deinen Edelmut zurückgewiesen, habe dich nicht verstehen wollen, Charlotte. Und doch kommst du heut abend zu mir und willst alles auf dich nehmen.«

»Ja, aber es ist doch auch so«, entgegnete sie.

»Nein, Charlotte, es ist nicht so. Sag nichts mehr! Meine eigene Selbstgerechtigkeit ist's, meine Härte. Du hast nur das Beste gewollt.«

Er legte den Kopf auf den Tisch und weinte. Aber er ließ ihre Hand nicht los, und sie fühlte, wie seine Tränen darauf tropften.

»Charlotte!« sagte er. »Ich komme mir wie ein Mörder vor. Für mich gibt es keine Hoffnung.«

Mit ihrer freien Hand strich ihm Charlotte übers Haar, aber sie sagte immer noch nichts.

»In Karlstadt wurde mir so weh ums Herz, Charlotte. Ich glaube, ich war wahnsinnig. Später, während der Heimfahrt, versuchte ich es von mir wegzuschieben. Aber ich verstehe, daß das nicht geht. Ich muß es auf mich nehmen.«

»Karl Artur!« sagte Charlotte. »Wie war es denn? Wie kam es? Ich habe es nur von Hauptmann Hammarberg gehört.«

Karl Artur hatte Charlotte noch niemals so sanft und mütterlich reden hören. Er konnte ihr nicht widerstehen und begann sofort mit seiner Erzählung. Und er dachte, er tue Buße, indem er nichts verschleierte, nichts entschuldigte.

»Charlotte!« sagte er schließlich. »Warum war ich so verblendet? Was war es nur, das mich verleitete?«

Darauf gab sie keine Antwort. Ihr Herz war voll Erbarmen. Sie hüllte ihn darein und milderte den Schmerz seiner Wunde. Keines von beiden dachte daran, wie seltsam es war, daß sie auf diese Weise vertraulicher miteinander redeten, als sie es jemals vorher getan hatten. Sie bewegten sich auch gar nicht. Er blieb die ganze Zeit am Tische sitzen, und sie stand über ihn gebeugt. Sie sprachen über alles, und er fragte sie, ob sie glaube, er könne auch fernerhin noch Pfarrer bleiben.

»Vor Hauptmann Hammarberg und dem, was er über dich sagen wird, brauchst du keine Angst zu haben!«

»Ich denke dabei nicht an Hauptmann Hammarberg, Charlotte, sondern ich fühle mich so ganz erbärmlich und verworfen. Niemand kann wissen, wie ich mir vorkomme.«

Charlotte wollte darauf nicht antworten, aber sie sagte: »Sprich morgen mit dem Oheim Forsius! Niemand ist so weise und fromm wie er. Und er sagt vielleicht, du passest jetzt besser zum Pfarrer als vorher.«

Das war ein guter Rat; er schenkte ihm Ruhe. Und so war es mit allem, was Charlotte sagte; es tat ihm wohl. Er fühlte keine Neigung zu Widersetzlichkeit, kein Mißtrauen.

Zum Schluß drückte er einen leichten Kuß auf ihre Hand.

»Charlotte, ich will nicht von dem reden, was einst war, aber laß mich dir das eine sagen: ich verstehe mich selbst nicht. Warum hab' ich mich von dir getrennt, Charlotte? Nein, ich will mich nicht entschuldigen, aber es ist, als würde ich getrieben, das zu tun, was ich nicht will. Warum hab' ich meine Mutter dem Tod in die Arme getrieben? Warum hab' ich dich verloren, Charlotte?«

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