Kitabı oku: «Mord bei den Festspielen», sayfa 2
Stephen Müller hat aber dennoch recht – und wenn er Intendant, Dirigent und Regisseur in einer ruhigen Stunde im Vertrauen fragen könnte, bekäme er das bestätigt. Dann würde der Intendant ihm verraten, dass er ja viel lieber diesen jungen, spektakulären Bariton engagiert hätte, der ihm neulich bei einem Lehrgang aufgefallen ist. Aber den kenne kein Mensch und mit dem könne er keine Tickets für 300 Euro verticken und kriege keinen Kooperationsvertrag mit Yonic, dem Marktführer für klassische Musikaufnahmen. Michail Piotrowitsch würde ebenfalls erklären, dass er lieber den jungen Bariton gehabt hätte, aber dass seine 120 Musiker im Orchester jeden Monat ihr Gehalt wollen und man das nicht mit unbekannten Größen verdient.
Regisseur und Sänger Lucas schließlich würde seufzen und auf seinen Vertrag verweisen, der nichts über ein Mitspracherecht bei der Besetzung sagt, aber eine Menge bezüglich seiner Loyalitätspflicht gegenüber dem Bregenzer Opernfestival.
Und so kam’s, dass wir bei den Proben unter Miercoledi, seinen Stimmproblemen und seinen Allüren litten, und Lucas und ich mussten obendrauf noch aushalten, dass der gesamte Miercoledi-Clan – Mario, Ehefrau Giulia und die erwachsenen Töchter Marietta und Mafalda – neben uns wohnte. Ob ihrer Lautstärke ließen sie uns öfter überlegen, ob das Familienoberhaupt nicht nur an Selbstüberschätzung, sondern auch an Schwerhörigkeit litt. Ohrenstöpsel gehörten zu unserer Standardausrüstung, wenn wir ins Bett gingen. Die Miercoledis waren nämlich zu allem Glück auch noch nachtaktiv.
Auch in dieser Nacht trieben sie wieder ziemlich um – und ich bewunderte ihr Durchhaltevermögen. Um halb zwei wäre mir nicht danach, mit der ganzen Familie zu diskutieren. Mir war noch nicht einmal danach, dem leisen Atmen meines schlafenden Mannes zuzuhören. Stattdessen schlüpfte ich in Jeans und T-Shirt und beschloss, im Park des Hotels direkt am Seeufer noch etwas frische Luft zu schnappen.
1 Giuseppe Verdi hat die Oper nach dem Schauspiel von Friedrich Schiller geschrieben. Dabei gibt es eine italienische und eine französische Version. Lucas macht am Bodensee die französische.
Kapitel 2: Lucas’ Vergangenheitsbewältigung
Am Bodensee,
Anfang Juli 2018
Ich saß auf einer kleinen Bank am Seeufer, durch die Hecke hinter mir nicht nur vor Blicken, sondern auch vor dem Wind geschützt, sah hinaus auf den See, der im Mondlicht silbrig leuchtete, und dachte über den Abend nach. Wir hatten die Probe relativ früh beendet – Überstunden kosten in der Oper Geld, daher versucht man, sie zu vermeiden – und während ich noch mit dem Beleuchter diskutiert hatte, waren Lucas und Mischa, Dirigent der Produktion und einer meiner ältesten Freunde, schon einmal zu unserem Lieblingsitaliener auf dem Marktplatz gegangen.
Die beiden hatten mal wieder ein echtes »Männergespräch« geführt, sprich: Sie hatten in ihre Biergläser gestiert, ab und zu einen Schluck getrunken und dabei gegrunzt. Die Kommunikation genügte ihnen, jedenfalls hatten mir die zwei schon unabhängig voneinander versichert, der jeweils andere sei ein »toller Gesprächspartner«, der »nie nerve«.
Ich setzte mich dazu, bestellte einen Latte macchiato mit Karamellsirup, streckte die Beine und ließ, den Kopf an die Schulter meines Mannes gelehnt, die Seele ein wenig baumeln.
Doch lange konnte ich die Ruhe nicht genießen. Es vergingen keine zehn Minuten, dann tönten nämlich die Sopranposaunen von Spoleto über den Platz. Die Männer schreckten zusammen, ich bekam Gänsehaut und suchte nach einem Mauseloch zum Verschwinden, doch es nützte uns nicht. Giulia Miercoledi, ihre Töchter Marietta und Mafalda hatten Bregenz’ Einzelhandel zu einem ordentlichen Konjunkturschub verholfen, beklagten sich nun aber auf Italienisch darüber, dass sie in dieser Provinz nirgends die neue Gucci-Pucci-Mucci-Kollektion gesehen hatten! Dabei war – so jedenfalls befand Mutter Miercoledi – der Besitz einer dieser »zuckersüßen Clutches« doch existentiell!
An der Stelle schaute ich beschämt auf die schon reichlich angegammelte blaue Tasche aus recycelter LKW-Plane, in der ich Notebook, Partitur, Produktionsordner und – laut Lucas – ein dreiviertel Pfund Büromaterial mit mir herumschleppte. Ich war mir mal wieder sehr bewusst, dass ich in meiner bequemen Cargohose unter einem Big-Shirt mit einem von Lucas geklauten Flanellhemd nie als »Society-Schönheit Victoria Benning« beschrieben werden würde. Dafür aber hatte ich kein Problem damit, in der Malerwerkstatt auf einem Farbeimer zu sitzen, und in meinen vielen Hosentaschen fand alles Platz – vom Markierband über das Metermaß, das Notizbuch, den Schraubenzieher bis hin zum Probenplan. Und gegenüber Madame Miercoledi hatte ich noch einen Vorteil: Ich weiß für gewöhnlich, wo mein Bariton sein müdes Haupt zur Ruhe bettet, und kann mich darauf verlassen, dass er nur auf der Bühne den Don Giovanni gibt.
Die Miercoledi-Damen waren bei uns angekommen, meine wohlerzogenen Herren waren aufgestanden und hatten ihre Handibussis bei Madame abgeliefert, während ich ein wenig Blabla mit den Töchtern veranstaltet hatte. Die beiden taten mir leid. Sie waren mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden, sie hatten alles gehabt – außer der Liebe und Zuwendung ihrer Eltern. Ihr Vater war hauptsächlich mit seiner Geilheit und der Gier nach Ruhm und Reichtum beschäftigt gewesen, während ihre Mutter ihm atemlos hinterhergehechelt war, immer in der Sorge, dass er sie für eine seiner Geliebten verlassen würde.
Die beiden Töchter waren für das Paar PR-Requisiten gewesen – Bilder von ›MM‹ als liebevollem Vater hatten sich immer bestens verkauft und immer noch ließ er keine Gelegenheit aus, sich mit der durchaus attraktiven Nachkommenschaft fotografieren zu lassen. Doch Marietta und Mafalda war anzumerken, dass ihnen nach Eigenständigkeit gewesen wäre.
Beide hatten diesbezüglich Versuche unternommen. Marietta hatte ein paar Semester Musikwissenschaft studiert und eine Stelle als Volontärin bei einer großen italienischen Zeitung gefunden. Doch ihr Vater hatte befunden, dass man sie nur um ihres Namens und ihrer Beziehungen willen eingestellt habe. Sie hatte kündigen müssen und wurde seitdem von Herrn Papa geneigten Regisseuren als Assistentin angedient – allerdings immer nur für die Produktion, bei der er dabei war und auf Töchterchen aufpassen konnte. Bei Lucas hatte das allerdings nicht geklappt. Der hatte eine diesbezügliche Anfrage von Miercoledi mit einem »Danke, aber nein danke« beantwortet.
Mafaldas Geschichte war noch trauriger als die ihrer Schwester: Sie war von ihrer Mutter ausersehen worden, den Traum zu leben, an dem Giulia gescheitert war. Diese war Tänzerin – dritte Reihe, zweiter Schwan von links – gewesen, als sie ihren Tenor-Helden getroffen hatte. Ein paar Wochen später war sie schwanger gewesen und nun erzählte sie, dass diese Schwangerschaft ihre »Karriere« beendet habe. Ich hatte diese Story auch einmal zu hören bekommen, und als wohlerzogener Mensch hatte ich es mir verkniffen, laut darüber nachzudenken, dass sie mit ihren damals 28 Jahren keine Chance mehr gehabt hätte, sich aus dem Corps de Ballet nach vorne an die Rampe zu tanzen.
Dafür sollte es später die Tochter schaffen und so hatte sie ihre Kindheit und Jugend im Ballettstudio verbracht. Tatsächlich war sie talentiert und nach ihrer Abschlussprüfung in der berühmten John Cranko Schule in Stuttgart hatte sie ein Engagement beim Stuttgarter Ballett bekommen. Ein Jahr später – sie war da gerade 18 Jahre alt gewesen – hatte sie sich im Urlaub mit den Eltern bei einem von ihrem Vater verursachten Bootsunfall das Knie verletzt. Ihre Karriere als Ballerina war zu Ende gewesen, seitdem reiste sie mit dem Vater, wirkte aber ziellos und gelangweilt.
Wie »idyllisch« das Familienleben bei Superstars verlief, bekamen wir öfter vorgeführt. So waren wir vor ein paar Tagen aus einer Pizzeria geflüchtet, weil die Familie Miercoledi nebenan über Geld diskutiert hatte. Obgleich mein Italienisch nicht gut ist, reichte es, um mitzubekommen, dass der Maestro die Ausgaben seiner Damen im Vergleich zu den von ihnen erbrachten Leistungen zu hoch fand. Dagegen wehrten sich Mutter und Töchter ebenso wortreich wie lautstark.
Lucas, sehr appetitlich in beiger Baumwollhose und honigfarbenem Poloshirt – es unterstützte die Farbe seiner Augen –, trank den letzten Schluck Wein, drückte dem herbeieilenden Kellner einen Schein in die Hand und nahm meinen Arm. »Nix wie weg hier! Ich möchte nicht Ohrenzeuge werden, wenn die Miercoledis anfangen, sich gegenseitig zu meucheln!«
»Glaubst du, seine Familie steht auch auf der Liste derer, die ihn gerne im See ersäufen würden?«
»Hoffentlich tut das niemand! Der See ist Trinkwasserreservoir für halb Süddeutschland inklusive Stuttgart!«, stellte Lucas fest und legte den Arm um mich. »Aber könntest du es den Miercoledi-Damen verdenken? Du würdest ihn wahrscheinlich schon nach einer Woche erschlagen! Giulia hält ihn schon 28 Jahre lang aus.«
»Kannst du mir verraten, warum? Ich weiß, in Italien sind Scheidungen immer noch sehr langwierig und teuer …«
»Teuer ist das Stichwort, mein Herz!«, gab Lucas zurück. »Vor einigen Jahren war Mario mal ernsthaft verliebt und hat über Scheidung nachgedacht. Aber dann hat ihm sein Anwalt vorgerechnet, was der Spaß kosten würde. Darauf hat er beschlossen, dass er doch nicht ohne Giulia leben kann.«
Ich gestehe, dass ich ab und zu ein bisschen Szenentratsch durchaus schätze. Lucas behauptet sogar, mein Busenfreund Mischa und ich seien wie neapolitanische Marktweiber, wenn wir wieder mal das »Wer-mit-wem« der Branche verhackstücken. Aber dadurch bin ich immer gut informiert und mir fiel etwas zu Lucas’ Geschichte ein. »War das nicht diese brünette Mezzosopranistin, die bei Operata rumgeturnt ist? Elizabeth Cranmer oder so?«
Lucas steuerte die Beifahrerseite seines Jaguars an – zu seinen vielen guten Eigenschaften gehört, dass er sich nicht einbildet, aufgrund des Besitzes eines Y-Chromosoms ein besserer Autofahrer als jede Frau zu sein. Deswegen lässt er meist mich fahren. Gleichzeitig aber korrigierte er mich: »Falsch, Frau Professor!« Er grinste. »Elizabeth Cranmer ist der zickige Alt, der mich in München als Penelope fast in den Wahnsinn getrieben hat. Ihr hat MM den zweiten Sohn zu verdanken.« Er schnallte sich an.
Ich war auf der Fahrerseite eingestiegen und ließ jetzt den Motor an. »Ja, war das nicht der potenzielle Scheidungsgrund?«
»Nein.« Lucas schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück und schlug die langen Beine übereinander. »So bescheuert, mit einer so neurotischen Zicke leben zu wollen, ist er nicht.«
»Aber was hat seine Frau denn zu dem außerehelichen Knaben gesagt?« Ich steuerte das Auto auf die Straße und musste gleich an einer Ampel halten.
»Ausführliches!«, antwortete Lucas trocken. »Es hat ihn einen dicken Klunker und einen Mottenfiffi – wenn ich mich richtig erinnere, war es ein Silbernerz – gekostet, bis sie sich mit ihm versöhnt und mir erklärt hat, dass sie ihn eben liebe. Außerdem wolle ein Mann eben Söhne und sie habe ihm nur Töchter geboren. Ergo hat sie ihm gleich zweimal verziehen.«
Ich verdrehte die Augen. »Nur zur Information: So sehr, dass du mich als Fußabtreter nutzen dürftest, liebe ich dich nicht!«
»So wollte ich auch nicht geliebt werden!«, stellte Lucas fest. »Und ich beabsichtige auch nicht, außereheliche Kinder zu zeugen.« Er grinste. »Das wäre mir zu teuer! Klunker und Pelz für dich, Anwaltskosten wegen Anerkennung …«
»Hat Miercoledi etwa abgestritten, dass er der Vater ist?«
Lucas schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil, mein Herz. Er führt seine illegitimen Sprösslinge gerne vor. Mit dem von Madame Cranmer ist es kein Problem. Der lebt zwar bei Mama in München, aber er macht ja öfter mal Urlaub bei Papi und seiner Familie. Beim anderen ist es allerdings schwierig. Dessen Mutter hat nämlich einen Ehemann, der darauf besteht, dass der Knabe seinen Lenden entsprungen ist. Dagegen wollte Mario klagen. Man hat ihm dann aber klargemacht, dass er da nicht den Schatten einer Chance hat. Nun beklagt er gerne, dass man ihm seinen Sohn vorenthalte …«
»Verhältnisse sind das!«, staunte ich. »Dagegen sind wir richtig langweilig.«
»Tja …« Lucas grinste schräg. »Das kommt davon, wenn man eine Pfarrerstochter und Kantorin heiratet.«
Ich streckte ihm die Zunge heraus. »Du wärst der Richtige für solche Abenteuer! Wer war’s denn, der mir einst schon nach ein paar Wochen erklärt hat, dass er keine ›g’schlamperten Verhältnisse‹ mag?« Wir waren auf der Seepromenade und Lucas legte seinen Arm um meine Schulter. Er ist 19 Zentimeter größer als ich, darum passe ich unter seine Achsel und kann selbst meinen Daumen ganz gemütlich in die hintere Gürtelschlaufe seiner Jeans hängen. »Aber hast du nicht erwähnt, dass Mario einmal kurz vor der Scheidung stand?«
»Zweimal«, korrigierte Lucas. »Das erste Mal war die Mutter des unehelich geborenen Knaben. Die sah Mario als die ganz große, schicksalhafte Liebe. Der Haken war nur: Sie empfand es nicht so. Sie war eine Prinzessin mit einem Stammbaum bis zurück ins alte Rom und sie hatte nie die Absicht, sich scheiden zu lassen, um sodann eine bürgerliche Signora Miercoledi zu werden. Sie hat ihn in die Wüste beziehungsweise zurück zu seiner Giulia geschickt.«
»Und dann kam diese Elizabeth Cranmer?«, erkundigte ich mich neugierig.
»Nein«, widersprach Lucas. »Wegen der wollte er sich nicht scheiden lassen. Das war nur eine Affäre und das sah er damals auch so.«
»Obwohl sie ein Kind von ihm hatte?«
»Ja. Aber dann gab es noch das Sopran-Quietschie: Katia Ulanova. Wegen der wollte er Giulia verlassen.«
»Moment!« Ich wuschelte mit der freien Hand durch mein kurzgeschnittenes, dunkles Haar. Der Name war mir vertraut, aber es brauchte einen Augenblick, bis ich ihn zuordnen konnte. »Die war doch bei Operata!« Und dann fiel mir noch etwas ein. »… und mindestens 20 Jahre jünger als Miercoledi!«
»32, Herzchen.« Lucas verdrehte die Augen. »Aber das ist bei manchen Männern kein Hinderungsgrund, sondern eine Empfehlung. Wie kann man seine Männlichkeit besser unter Beweis stellen als mit einer sehr jungen Frau?«
Er war stehen geblieben und schaute auf den See hinaus, in dessen ruhigem Wasser sich der Mond als silberne Scheibe spiegelte. Ich drehte mich in seinem Arm, lehnte den Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. »Hilf mir mal drauf – du warst doch Jurymitglied bei Operata, nicht?« Obwohl ich als Kirchenmusikerin nicht mit Oper befasst war, hatte ich zumindest die Resultate des großen internationalen Sängernachwuchs-Wettbewerbs Operata immer mitbekommen. Und natürlich wusste ich auch, dass Operata das Werk von Miercoledi war. Er ließ schließlich keine Gelegenheit aus, »seinen« Wettbewerb bei Facebook, Twitter, Instagram und wo immer es sonst ging abzufeiern.
Lucas brummte ein ablehnendes »Hmm«.
Ich war neugierig und bohrte nach. »Du warst aber nur in den ersten Jahren dabei, nicht? Warum bist du so schnell wieder ausgestiegen?«
»Wegen Katia Ulanova«, gab er Auskunft.
»Warst du nicht auch begeistert von ihr?«
»Nein«, sagte er kurz und knapp. »Sie hat eine tolle Figur, aber die Stimme ist Durchschnitt und rechtfertigte in keinem Fall den ersten Preis, den Mario ihr zuschustern wollte. Ich sagte ihm, dass er Operata damit zur Farce und die Jury zu Clowns mache. Und nachdem ich gestreikt hatte, haben dann auch die anderen protestiert.«
»Ich fand sie auch nicht so großartig«, erinnerte ich mich. »Das Abschlusskonzert kam im Fernsehen, da sang sie mit dieser etwas rundlichen Ungarin das Duett ›Mira o Norma‹2 und ist meiner Ansicht nach abgestunken.«
»Eindeutig«, bestätigte Lucas. »Ich habe Mario auch gesagt, dass er ihr keinen Gefallen tut, wenn er sie mit Ildiko Hanyadi im direkten Vergleich singen lässt. Aber da war er total vernagelt. Er war in sie verschossen und erzählte mir etwas von Seelengefährtin, endlich einmal ›eine Frau, die mich versteht‹ und ›noch mal ganz von vorne anfangen‹. Ich habe ihm damals gesagt, dass das teuer werden könnte und dass er doch mal darüber nachdenken solle, ob er mit einer so jungen Frau langfristig glücklich werden könne.«
Ich erinnerte Lucas nicht daran, dass er 16 Jahre älter als ich ist, sondern verwies stattdessen auf meine Eltern, die bei 19 Jahren Altersunterschied über 40 Jahre gut miteinander gelebt hatten.
Lucas zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, dass deine Eltern sich geliebt haben. Bei dieser jungen Dame hatte ich allerdings den Eindruck, dass sie mehr an ihrer Karriere als an Mario interessiert war. Darum nahm sie ihm sehr übel, als er sie abservierte. Er hat sich dann nicht mehr um Engagements für sie bemüht und so wurde es nichts mit ihrer internationalen Karriere. Sie war so ein typischer Fall von jemandem, der es immer wieder an große Häuser schafft – aber eben nur einmal. Inzwischen ist ihr allerdings ein reicher Bauunternehmer aus der bayerischen Provinz zugelaufen, den sie dann geheiratet und dem sie einen Erben beschert hat. So ganz glücklich scheint sie dabei aber nicht zu sein. Sie reist immer noch in der Szene rum, beklagt ihre verlorene Karriere und verflucht Mario, der ihr Leben verpfuscht habe.«
»Und sie war daran nicht auch beteiligt?« Ich schüttelte den Kopf. »Manche Leute machen es sich einfach. Man muss halt immer einen finden, dem man die Schuld zuschieben kann!«
»Tja …« Lucas atmete tief durch. »Mario hat sich in der Geschichte aber tatsächlich nicht mit Ruhm bekleckert. Er hatte ein Penthouse in Wien gekauft und sein G’spusi da etabliert. Dann ging er zum Anwalt, und als der ihm vorgerechnet hat, was er bei der Scheidung von Giulia alles drangeben müsste, bekam er das Fracksausen. Er ist – wahrscheinlich direkt vom Anwalt aus – zum nächsten Juwelier gerannt, hat einen ganz dicken Klunker gekauft und ist bei Giulia zu Kreuze gekrochen. Fräulein Ulanova unterdessen bekam Post vom Anwalt – damit hat Mario die Beziehung beendet. Und weil’s in einem Aufwasch ging, wurde sie dann auch gleich aufgefordert, die Wohnung zum Quartalsende zu verlassen oder ab sofort die ortsübliche Miete – und die war saftig – zu bezahlen.«
»Junge, Junge!« Ich konnte nur noch staunen. »Darauf, den Anwalt dafür einzuspannen, muss man erst einmal kommen!« Lucas hatte offenkundig genug vom Mond im See gesehen und ging langsam weiter, wobei er mich an die Hand nahm. Ich war immer noch mit dem Schicksal der Miercoledis befasst: »Dass seine Frau ihm die unehelichen Kinder und die Geschichte mit Ulanova verziehen hat, ist eigentlich unfassbar. Und wer weiß, was er sonst noch alles angestellt hat!«
»Ich weiß es teilweise. Leider!«, schnaubte Lucas. »Giulia dagegen wollte es nicht so genau wissen.«
Ich konnte nicht anders. Ich blieb stehen, schaute ihn an und fragte provokant: »Und du? Du warst jahrelang sein Partner und er schwärmte doch immer davon, wie schön es sei, mit einem Freund zu arbeiten, und dass ihr aufeinander eingeschossen wäret wie ein altes Ehepaar. Ich erinnere mich an ein Fernsehinterview – ich glaub, es kam aus Salzburg, wo ihr zusammen ›Manon‹3 gemacht habt …«
»Daran erinnere ich mich auch!«, knurrte er, zog die Augenbrauen zusammen, sodass sich über dem inneren Ansatz der linken eine tiefe Furche bildete und fragte: »Willst du jetzt wissen, ob unsere ›Männerfreundschaft‹ sich auch darauf erstreckte, gemeinschaftlich auf Abenteuertour zu gehen?« Er klang angesäuert.
Mein Blick glitt an ihm entlang, von den weichen, grau melierten Locken über die markante Nase, die sinnlichen Lippen und das energische Kinn über den breiten Schultern.
Wir sind im fünften Jahr verheiratet – und manchmal wundere ich mich, wie einfach es ist. Wir gehören sicher nicht zu den Paaren, die sich »nie« streiten. Ab und zu mal fetzen wir uns ordentlich und bei unser beider Temperament auch durchaus lautstark. Aber solche Gewitter gehen bald vorbei und hinterlassen keine Schäden.
Wir gehören zu den Paaren, für die »frisch verliebt« schwierig war, denn da standen uns noch mein Stolz und seine Sturheit im Weg. Darum hat unser erster Anlauf miteinander nur ein paar Monate gedauert. Dann haben wir uns zerstritten, sind auseinandergelaufen, haben anderweitig geheiratet – und ich habe mir dann jahrelang eingeredet, dass es pure Sentimentalität war, wenn mir bei seinem Auftauchen die Knie weich wurden und der Puls sich erhöhte.
Vor sechs Jahren haben wir uns wiedergefunden – beide nicht nur älter, sondern definitiv auch reifer geworden. Er hat seine Chauvi-Allüren abgelegt; ich bilde mir nicht mehr ein, dauernd meine Unabhängigkeit vorführen zu müssen. Und ich finde es heute nicht mehr »weicheierig« zuzugeben, dass ich ihn liebe und dass er der wichtigste Mensch in meinem Leben ist.
Ich bilde mir heute sogar ein, dass wir uns näher sind als andere Paare – schon allein durch unsere besondere Situation. Lucas ist manchmal neun Monate im Jahr auf Reisen. Vier Wochen in New York an der Metroplitan Opera für eine Wiederaufnahme, drei Monate in Sydney für eine neue Produktion, drei Wochen in Japan für eine CD, eine Tournee mit einem Orchester, eine eigene Inszenierung in Dublin. Und ich habe meinen Job bei der Zeitung gekündigt und mir einen halben Lehrauftrag als Musikwissenschaftlerin an der Stuttgarter Musikhochschule angelacht. Den kann ich blockweise abarbeiten – zum Beispiel, wenn mein Herr und Meister gerade mal in Stuttgart singt oder inszeniert.
Ansonsten reise ich mit ihm. Wenn er inszeniert, mache ich Assistenz; wenn er singt, schreibe ich Bücher. Das hat den Vorteil, dass ich beschäftigt bin, wenn er tagelang probt und erst abends total groggy in unser Übergangsheim kommt. Aber es gibt auch Wochenenden und die Zeiten, in denen die Inszenierung läuft und er nur alle zwei, drei Tage auftritt. In diesen Phasen bewährt sich dann, dass wir nicht nur Liebende, sondern auch Freunde sind und gemeinsame Interessen haben. Wir bummeln stundenlang durch Städte, besichtigen Schlösser, Kirchen und Museen; sitzen aber auch schon mal einen halben Tag auf einer Klippe, Lucas zeichnet, ich lese, wir beobachten die Natur. So oft es möglich ist, gehen wir zu den Pferden. Ich reite, Lucas schaut zu, beschmust Pferde oder fährt. Reiten ist nicht sein Ding – auf dem Pferd fühlt er sich immer noch unsicher. Aber der Kutschbock ist sein Revier und er hat inzwischen einige Fahrkurse absolviert.
Er war stehen geblieben und schaute einem Schwanenpaar zu, das mit seinen vier Kindern am Ufer entlangpaddelte. Ich schaute ihn prüfend an. Lucas mit seinem sinnlichen Mund über dem energischen Kinn ist immer ein attraktiver Mann gewesen und ich hatte seine Wirkung auf Frauen nicht nur bei mir, sondern auch bei vielen anderen erlebt. Dennoch hatte ich ihm immer vertraut – so sehr, dass es mich manchmal selbst irritierte und ich dachte: Bist du nicht total verblendet, einem Mann so vorbehaltlos zu trauen? Hast du aus deinen Erfahrungen nichts gelernt?
Ich hatte nach unserem schiefgelaufenen ersten Anlauf und vor meiner ersten Ehe eine Geschichte mit einem Celloprofessor absolviert – und darin zwei Jahre lang nicht bemerkt, dass er mich ständig nach allen Regeln der Kunst betrogen hatte. Als ich ihm draufkam, beschwor er, dass er nur mich liebe, aber ab und zu brauche er eben ein bisschen Abwechslung. Ich überließ ihn derselben – ich bin arrogant genug zu glauben, dass ich einen Mann ganz für mich verdiene und dass ich einem solchen auch genug sein sollte.
Doch es hatte wehgetan und ich hatte einige Zeit daran geknabbert. Dennoch vertraute ich Lucas – und das sagte ich ihm auch. Aber nach dem Gespräch über Miercoledi saß mir etwas quer und mein feinfühliger Mann bemerkte es, als wir Hand in Hand auf die Terrasse des Restaurants gingen. Wir setzten uns, bestellten unser Essen – Wildschweingulasch für mich, Bodenseefellchen für Lucas – und schauten eine Weile schweigend auf den in der Abendsonne glitzernden See hinaus. Unsere Getränke kamen, Lucas schenkte Riesling ein – und dann seufzte er: »Ich habe mich immer unbehaglich gefühlt, wenn Mario unsere ›Freundschaft‹ so herausstellte. Ich fühlte mich ihm nicht nahe, ich mochte ihn noch nicht einmal sehr. Wir waren einfach nur Kollegen, aber …«, er schluckte, machte eine kleine Pause und sprach dann weiter: »Ich muss anders anfangen. Du hast mich vorher angeschaut, als ob du Schmutzflecken da, wo ich Mario zu nahegekommen bin, suchen würdest.«
Ich trank einen Schluck und ließ den fruchtigen Wein über meine Zunge rinnen. Ich fühlte mich ertappt und musste das erst einmal schlucken. Ja, ich hatte meine Empörung über Miercoledis Treiben ein Stück auf Lucas übertragen – und das war nicht fair gewesen. Ich senkte den Kopf, schaute einen Augenblick in meinen Schoss, doch dann gab ich mir einen Schubs und sagte: »Entschuldigung …«
Lucas fasste nach meiner Hand, zog sie an seinen Mund biss sanft in den Daumenballen. »Das Schlimme ist, dass du teilweise recht hast. Ich war sein Spießgeselle oder wie immer man das nennen will.«
»Du?« Ich hatte plötzlich eine Vision von Miercoledi und Lucas in einem halbseidenen Nachtklub beziehungsweise in dem, was ich als schwäbische Provinzpfarrerstochter mir darunter vorstellte. Dabei hatte Miercoledi eine vollbusige, spärlich bekleidete Blondine auf dem Schoss, während Lucas seine markante Nase im Dekolleté einer Rothaarigen versenkt hatte.
Mit einem energischen Kopfschütteln verscheuchte ich die Spießerfantasie und schaute Lucas an, der nicht glücklich aussah. Er knibbelte am Etikett der Weinflasche, die neben ihm im Eiskühler stand. Als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, hob er den Kopf und bemühte sich um ein Lächeln. »Ich überlege gerade, wie ich eigentlich in dieses moralische Dilemma hineingerutscht bin …«
»Erzählst du mir die Geschichte von Anfang an?«, bat ich.
In diesem Moment kam der Kellner mit unserem Essen und Lucas bat um eine »Gnadenfrist«, weil er sein Fischlein nicht kalt werden lassen wollte.
Beim Kaffee danach holte er dann tief Luft. »Du weißt, dass ich in Stuttgart und London studiert habe? Mein erstes Engagement hatte ich in Stuttgart, aber dann hat mich Covent Garden abgeworben.« Im Royal Opera House4 habe er dann so ziemlich das ganze Repertoire für lyrische Baritone rauf- und runtergesungen und so sei er eines Tages auch als Silvio in »Il Pagliaccio« (in Deutsch: Bajazzo) eingesetzt worden. »Der Bajazzo« aber ist insofern eine Ausnahme von anderen Opern, da hier nicht der Tenor die Dame kriegt, sondern als betrogener Ehemann fungiert, während der Bariton der Ehebrecher ist.
In London wurde der Bajazzo von Mario Miercoledi gesungen, der damals schon ein etablierter Star war. Lucas kommentierte grinsend: »Damals war er ja auch noch 15 Jahre älter als ich. Inzwischen wird er jedes Jahr jünger und in ein paar Jahren werde ich dann der Senior sein.«
In den Proben in London habe Miercoledi damals den jungen Kollegen nicht weiter beachtet. Doch in der Vorstellung kam er nicht umhin – Lucas bekam nämlich Szenenapplaus, Miercoledi aber nicht. Und vor dem Vorhang musste Miercoledi dann feststellen, dass dieser Jüngling, den man ihm da als Bariton serviert hatte, nicht nur ekelhafte zehn Zentimeter größer als er war, sondern obendrauf auch noch einen vorwiegend weiblichen Fanklub in London hatte und von dem ebenso lautstark wie enthusiastisch bejubelt wurde. Miercoledi sei alles andere als glücklich darüber gewesen.
Ich konnte es mir gut vorstellen. Miercoledi war für seine Eitelkeit bekannt und pflegte sich im Beifall zu suhlen. Ich grinste bei der Vorstellung, wie er es wohl gefunden hatte, neben einem deutlich jüngeren und definitiv hübscheren Kollegen zu stehen.
Dennoch: Miercoledi wäre nicht so weit gekommen, wenn er nicht gewusst hätte, dass man mit starken Partnern am besten zur Geltung kommt und so erbat er sich bei seinem nächsten Engagement in London Lucas als Partner. Gegeben wurde Puccinis »Manon Lescault« und Miercoledi dachte wohl, dass Lucas ihm als Manons fieser Bruder nicht die Show stehlen würde, aber das empfanden die Damen im Publikum anscheinend anders. Ein Kritiker hatte damals geschrieben, dass der »Bad-Boy-Effekt« voll zum Tragen gekommen sei und der tenorale Lover dagegen fast blass gewirkt habe.
Kurz darauf verabschiedete sich Lucas vom Royal Opera House in die einträglichere Karriere als freier Sänger. Dadurch war er auch für andere Häuser verfügbar und er war als Lescaut so aufgefallen, dass er nun ständig als Miercoledis Partner engagiert wurde. »Ich freute mich natürlich – mir war klar, dass die Zusammenarbeit mit ihm eine Riesenchance für mich war. Ich kam mit ihm an die Scala, nach Wien in die Staatsoper, nach München zur Bayerischen Staatsoper, nach Stuttgart, nach Stockholm. Allerdings: An der Met und bei den Salzburger Festspielen habe ich ohne ihn mit Mozart debütiert. Aber wer weiß, ob die mich bemerkt hätten, wenn ich nicht mit ihm unterwegs gewesen wäre?«
Bei der Zusammenarbeit mit Miercoledi habe er natürlich ganz schnell auch Giulia Miercoledi kennengelernt. Sie sei immer sehr nett zu ihm gewesen. Bei der ersten großen Produktion mit Miercoledi – wobei so etwas mit allen Proben schon einmal zehn oder elf Wochen dauern kann – sei er sich schließlich vorgekommen, als ob die Familie Miercoledi ihn als jüngeren Bruder adoptiert hätte.
Dabei habe er aber schon gemischte Gefühle gehabt. »Sicher, sie waren ganz reizend, aber – wie soll ich das erklären?« Lucas suchte nach Worten, orderte noch einen Kaffee und erzählte weiter: »Beide können nicht allein sein – noch nicht einmal miteinander. Deswegen waren sie schon damals immer mit einer Entourage – Assistent, Manager, Sekretärin, Nanny für die Kinder, irgendwelche Leute aus der weitläufigen Verwandtschaft – auf Tour. Du kommst dir bei ihnen immer vor wie an Gianni Schicchis5 Sterbebett! Das Verrückte war aber, dass ihnen die Entourage hätte reichen sollen, aber nein – ich wurde auch noch ständig mitgeschleppt. Wenn wir nicht geprobt haben, wollte Mario mit mir Tennis spielen oder Giulia wollte einen Begleiter für den Stadtbummel. Sagte ich dann, dass ich nicht Tennis spiele und Shopping Trips nicht sonderlich mag, wurde ich überredet. Und ich wollte nicht ständig der Spielverderber sein, mir tat Giulia leid, wenn sie darüber klagte, dass sie sich alleine fühlt, weil die Leute um sie rum ja alles seine Leute seien. Gleichzeitig ging es mir so auf den Wecker, dass man dann auch jeden Abend miteinander essen gehen sollte. Du kennst mich …« Er lächelte ein wenig verlegen.