Kitabı oku: «Mord bei den Festspielen», sayfa 3
Ich hatte nach seiner Hand gefasst und schaute auf das Pflaster an seinem Mittelfinger. Er hatte einen Stift mit dem Messer gespitzt und sich dabei geschnitten. Das passierte ihm öfter. Für mich war es ein gewohnter Anblick, ihn irgendwo mit seinem Skizzenbuch, den Stiften und dem kleinen Messer sitzen zu sehen. Und wenn er nicht zeichnete, verzog er sich hinter ein Buch oder verbrachte seine Nächte damit, durch sein großes Teleskop Sterne zu beobachten. Auf jeden Fall aber bevorzugte er stille Beschäftigungen und brauchte immer wieder Zeit für sich.
Darum habe er auch immer wieder darauf geachtet, nach Produktionen mit Miercoledi wieder etwas ohne ihn zu machen. Aber die nächste Tour mit Miercoledi kam bestimmt – und Lucas fiel eine aus den frühen Jahren ein: »La Boheme« in Wien. »Mario war dabei alleine«, erzählte Lucas – und klang, als ob das schon alles erklärte. Immerhin aber erfuhr ich auch noch, dass Giulia wegen ihrer komplizierten Schwangerschaft – sie bekam da ihre zweite Tochter Mafalda – zu Hause in Spoleto geblieben war.
»Ohne Giulia und ihre Sippe als Aufpasser hat er dann richtig aufgedreht. Er erklärte mir sogar mal, er finde es gerechtfertigt, dass er sich ›schadlos halte‹, wenn Giulia ›ausfalle‹.« Lucas seufzte. »Ich wollte trotzdem nichts sagen. Ich bin nicht die moralische Instanz für meine Kollegen. Aber dann kam er eines Abends und sagte mir, dass er seine Affäre, eine Choristin, gebeten habe, eine nette Freundin zum abendlichen Treffen mitzubringen – damit ich nicht immer allein im Hotel herumsitzen müsse. Es wäre Zeit, dass wir uns endlich mal einen ›netten Abend zu viert‹ machen.«
»Ach, du liebes Lieschen!« Ich musste bei der Vorstellung, wie Lucas geschaut hatte, fast lachen. Weitgereist und kosmopolitisch wie mein Liebster ist – zu unseren Gemeinsamkeiten gehört das, was meine Mutter als »Pfarrhausg’rüchle«6 zu bezeichnen pflegte. Ich bin die Tochter eines Pfarrers, Lucas der Enkel eines solchen. Und da seine Eltern als Wissenschaftler viel auf Reisen waren, hat er viel Zeit bei seinen Großeltern im Dekanat verbracht. Er hat dabei eindeutig was abgekriegt, ebenso wie ich. Und ich schätzte ihn ja auch dafür, dass er Prinzipien hatte und man sich auf ihn verlassen konnte.
»Ich habe ihm dann erklärt, dass ich mich nicht wertend in sein Leben einmischen werde, dass er mich aber bitte auch mein Leben leben lassen solle – und zu dem gehöre nun einmal, dass ich meiner Frau auch dann treu bin, wenn sie nicht in der Nähe ist.« Lucas trank einen Schluck Wein. »Er kommentierte das achselzuckend mit ›Was Giulia nicht weiß, macht Giulia nicht heiß‹.«
Die Auswirkungen dieses Satzes bekam Lucas dann in Folge öfter zu spüren. »Giulia kam zur Premiere nach Wien. Mario ließ die Suite mit Blumen schmücken und den roten Teppich ausrollen, dann sagte er – ganz nonchalant – zu mir: ›Falls Giulia dich fragt: Du warst gestern mit mir essen.‹ Für ihn schien es vollkommen normal zu sein, eine Lüge von mir zu erbitten. Ich aber saß zwischen den Stühlen. Hätte ich Giulia, die fast ihr Kind verloren hatte, die Wahrheit sagen sollen? Auf die Gefahr hin, dass durch den Schock wieder etwas passiert?«
Er habe schließlich entschieden, dass er sich nicht in die Eheangelegenheiten seines Kollegen einzumischen habe, und habe darauf gehofft, dass die Rede nicht auf den ominösen Abend kommen würde. Doch im Lauf der Jahre habe ihn Mario immer wieder in solche Situationen gebracht und seine Anforderungen seien immer impertinenter geworden.
»Kurz vor meiner Heirat mit Cornelia hat er mir mal ein ganz dickes Ei gelegt«, erzählte Lucas.
Er sei mit Miercoledi in Paris gewesen, wo der Giulias Abwesenheit ausgenutzt und sich wieder einmal eine Affäre geleistet habe. Die Dame hatte aber tagsüber keine Zeit, also ging Miercoledi eines Nachmittags alleine bummeln. Als er ins Hotel zurückkam, war Giulia – Überraschung, Liebling! – angekommen. Sie stürzte sich auf seine Einkäufe – und da war die Tüte eines Wäschegeschäfts mit einigen durchaus scharfen Teilen. Das Dumme war nur: falsche Größe! Giulia, nach der zweiten Geburt doch ein wenig aus der Form gegangen, hätte ihren Vorbau nicht in diese BHs zwängen können.
»Miercoledi muss man aber eines lassen: Unter Druck reagiert er schnell. Bevor Giulia die große Keule auspacken konnte, hatte er die gesammelten Dessous zusammengerafft, in die Tüte gestopft und wieselte aus der Tür und über den Flur in mein schräg gegenüberliegendes Zimmer: ›Amice, du hast dein Geschenk für deine Freundin vergessen‹!«
Ich hatte gelacht, als Lucas – mein prüder Lucas – mit knallroten Ohren davon erzählte. Er war sehr empört gewesen, denn: »Und dann hatte Miercoledi auch noch die Stirn, mich vor Giulia durch den Kakao zu ziehen!«
»Und du konntest nur hoffen, dass deine Cornelia das nicht mitkriegt?«
»Ich habe es ihr noch am selben Abend erzählt. Giulia kann ja bekanntlich die Klappe nicht halten und ich wollte nicht, dass sie Cornelia mit der Geschichte kommt.«
Er habe den Kollegen nach diesem Stunt ordentlich zusammengestaucht, worauf der sich tatsächlich eine Weile zurückgehalten hat – jedenfalls was Lucas’ Beteiligung bei seinen Affären anging.
Doch nach ein paar Monaten sei’s im alten Trott weitergegangen. Giulia hatte ihren Mann in einer Hotelbar beim Flirten mit einer Blondine erwischt, der hatte behauptet, die Blondine gehöre in Lucas’ Bett und er habe ihr nur Gesellschaft geleistet, während Lucas bei einem Termin gewesen sei.
Wir hatten inzwischen unser Essen bezahlt und gingen am See entlang. Lucas blieb stehen und wuschelte nachdenklich durch sein Haar. »Ich habe mitgespielt und ich habe mich dabei jedes Mal über mich selbst geärgert. Aber ich war zu feige und zu phlegmatisch, nein zu sagen. Ich wollte keinen Krach, ich wollte nicht in seine Eheprobleme reingezogen werden, aber gleichzeitig widerten mich seine Affären an. Ich saß ständig zwischen den Stühlen und ich bin nicht stolz darauf, dass ich mich da jahrelang gedrückt habe. Ich hätte Flagge zeigen müssen, aber ich war ein richtig mieser Opportunist.«
Ich legte den Arm um seine Taille und streichelte mit der freien Hand über seine Wange. »Du bist kein Opportunist. Du wolltest Giulia nicht noch zusätzlich wehtun, du wolltest seine Ehe – und an der hingen immerhin zwei kleine Mädchen – nicht noch zusätzlich belasten.«
Ein Kuss für mich, dann ging er in die Knie, fand einen flachen Stein und ließ ihn übers Wasser hüpfen. »Du weißt schon lange, dass ich als strahlender Held in schimmernder Rüstung eine Fehlbesetzung wäre. Also nehmen wir meine schräge Beziehung zu Miercoledi als weiteren Rostfleck auf meinem Harnisch, ja?«
Ich probierte ebenfalls, einen Stein hüpfen zu lassen, aber meiner ging wie immer sofort unter. Also beglückte ich stattdessen meinen Liebsten mit einer Umarmung und mit dem Kopf an seiner Brust sagte ich: »Du hast dich doch schließlich verweigert und das Richtige getan, oder?«
Lucas nickte. »Es hat lange gedauert, aber irgendwann hatte sogar ich den Mut!« Er klang bitter. »Mit seiner oh so großen Liebe Katia Ulanova hat er schließlich übertrieben. Als ich mich weigerte, seine Manipulation bei Operata mitzumachen, hat er mir die Freundschaft gekündigt. Wir haben uns angebrüllt, er hat mich eine undankbare Ratte genannt und laut darüber nachgedacht, dass ich doch heute noch in Stuttgart den zweiten Wächter singen würde, wenn er nicht gewesen wäre.«
»Das ist eine Frechheit!«, regte ich mich auf. »Du bist als einer der besten Mozart-Sänger deiner Generation bekannt, du giltst in Sachen Liedgesang als Fischer-Dieskaus Nachfolger – und das sind Bereiche, in denen Miercoledi kein Bein auf den Boden bringt! Da hast du dich ganz alleine durchgesetzt! Und verflixt noch eins, wenn ich höre, was er heute zusammengrunzt – du bist ein traumhafter Posa. Er ist ein peinlicher!«
»Ich bin zu alt für Posa.«
»Bist du nicht!«, widersprach ich. »Wo steht denn geschrieben, dass Posa ein Jüngling ist? Aber es steht auch nirgends geschrieben, dass er so alt wie Don Carlos’ Großvater ist!«
Er lächelte, legte den Arm um mich und ging langsam weiter. »Mario sieht das anders – wie so vieles.«
»Aber du bist bei Operata raus und in den letzten Jahren bist du ja auch darum herumgekommen, mit ihm auftreten zu müssen«, versuchte ich zu trösten. »Es ist halt nur blöd, dass du hier wieder auf ihn gestoßen bist.«
Er lachte auf. »Das ist so in unserer Branche. Man trifft sich nicht nur zweimal, sondern mindestens fünfmal. Aber wir sind wohl beide Profis genug, das mit Anstand hinter uns zu bringen. Außerdem: Hast du schon mal eine Produktion erlebt, in der alles eitel Sonnenschein war? Ich nicht!«
»Na, dann bleibt uns wohl nur zu hoffen, dass sich unser Ensemble trotz Miercoledi bis zur Premiere nicht gegenseitig an die Kehle geht.«
2 Das Duett gehört in die Oper »Norma« von Vincenzo Bellini.
3 Ein gewisser Abbé Prévost hat um 1731 den Roman »Histoire du Chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut« geschrieben. Der wurde ein Erfolg und hat gleich vier Komponisten dazu inspiriert, eine Oper zu schreiben. Nummer eins war Daniel-Francois Auber mit »Manon Lescault« 1856, der Zweite war 1884 Jules Massenet, dann kam 1893 Giacomo Puccini und 1951 unter dem Titel »Boulevard Solitude« Hans Werner Henze. Lucas und Miercoledi haben die Puccini-Version gesungen, wobei Miercoledi den Chevalier Des Grieux und Lucas den unmoralischen Bruder von Manon gegeben hat.
4 Das Royal Opera House in London ist schräg gegenüber der U-Bahn-Haltestelle Covent Garden, weswegen es sehr oft einfach »Covent Garden« genannt wird.
5 »Gianni Schicchi« ist eine einaktige Oper von Puccini nach einer Vorlage aus Dantes »Göttliche Komödie«. Darin geht es um einen reichen Mann, an dessen Sterbebett sich die Verwandtschaft um das Erbe balgt.
6 Der Geruch nach Pfarrhaus, was bei den Schwaben meist evangelisches Pfarrhaus heißt, gerne auch pietistisch.
Kapitel 3:
Oh mein prophetisches Gemüt
Lindau am Bodensee,
14. und 15. Juli 2018
Bei aller Liebe zu meinem Lucas: Miteinander leben und arbeiten funktioniert bei uns nur, wenn wir einander Luft und Zeit zum Alleinsein lassen. Üblicherweise ist es Lucas, der sich zu langen, einsamen Spaziergängen verzieht, aber an diesem Samstag habe ich zu viel bekommen.
Wir waren mit Mischas Assistenten Christopher, Riikka, die in unserer Produktion die Eboli sang, und ihrem jeweiligen Wochenendbesuch – Riikkas Ehemann Arne und Christophers Freundin Claire – bei einem netten, kleinen Italiener gewesen. Und weil es so ein schöner warmer Sommerabend war, haben wir uns auf dem Rückweg wieder in das Straßencafé gesetzt, in dem ich nach der Probe Mischa und Lucas getroffen hatte.
Damit saßen wir aber auf dem Präsentierteller. Zuerst war’s nicht unangenehm. Mischa kam vorbei, seine neue Eroberung an der Hand. Sie war – wie bei Mischa nicht anders zu erwarten – eine Hübsche, obendrauf hatte sie sogar etwas im Kopf und war so etwas wie eine Kollegin von mir. Isabell arbeitete als Kulturredakteurin beim »Bodensee Boten«. Mischa setzte sich mit ihr zu uns, wir waren schnell in einer fröhlichen Unterhaltung, zu der dann auch noch Rocco, Bass und unser König Philipp, stießen.
Ein paar Minuten danach tauchte die Familie Miercoledi auf: Vater, Mutter, beide Töchter. Und die setzten sich natürlich auch dazu und damit wurde es laut und anstrengend. Ich hatte schon nach einer halben Stunde genug und sehnte mich nach Ruhe. Stattdessen bliesen mir von links Giulia und von rechts Rocco ins Ohr, dabei hatte ich Riikka im Blick, die Miercoledi mit finsterer Miene beobachtete.
Nach einer halben Stunde hatte Lucas Erbarmen mit mir. Er stand abrupt auf. »Kinder, seid mir nicht bös’, aber ich bin hundemüde. Ich muss ins Bett.« Er streckte mir die Hand hin. »Kommst du mit, Vic?«
Als wir im Hotel ankamen, hatte ich Kopfweh – und leider war’s in unserem Zimmer nicht so still, wie ich mir gewünscht hätte. Lucas telefonierte, wie meist am Wochenende, mit seiner Tochter. Ich schnappte mir meine Fleecejacke und verzog mich nach unten. Zu unserem Hotel gehörte nämlich ein sehr gepflegter Park mit altem Baumbestand und lauschigen Bänkchen.
Ich wanderte an einem prachtvoll blühenden Rosenbeet vorbei ein Stück nach unten und an den See. Eine Entenflottille – Mama und sieben Küken – paddelte an mir vorbei und ich ertappte mich bei der Überlegung, wie man als Entenmutter wohl seine Kinderchen ins Bett brachte. Hatte die Familie irgendwo ein Nest, in dem die Siebenlinge aneinander gekuschelt schlafen konnten?
Leise Musik drang zu mir herüber – draußen war ein bunt erleuchteter Partydampfer unterwegs, ungefähr 25 Meter entfernt lag eine große Jacht, bei der ein Segel schlampig am Hauptmast gammelte. Ich setzte mich auf das Bänkchen unter eine Trauerweide, schnupperte dem süßen Duft der Rosen nach, die der leichte Wind zu mir trug, und genoss die Ruhe, die der See ausstrahlte. Mein Kopfweh verflüchtigte sich langsam wieder, dafür wurde ich müde, hatte aber dennoch keine Lust, nach oben zu gehen.
Immerhin konnte ich mich aber dazu überreden, aufzustehen und noch ein Stück zu gehen – dieses Mal Richtung Parkmauer, denn mittlerweile war der Wind kühl geworden und ich fröstelte. An der Parkmauer war es besser. Die Sonne hatte sie aufgewärmt, außerdem schützte sie ein wenig vor dem seewärts gerichteten Wind. Und da war eine Nische in der hohen, alten Hecke und darin stand ein Bänkchen. Ich setzte mich, legte die Arme auf die Lehne und streckte die Beine.
Ich weiß gar nicht, wie lange ich dasaß, bis ich Schritte auf dem gekiesten Weg hörte. Ich hob den Kopf, schaute mich um und sah im Mondlicht eine schmale Gestalt, die aus der hinteren Ecke des Parks kam und nun Richtung Hotel einbog.
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Der andere Parkbesucher – er war ganz in Schwarz und trug eine weite Jacke, sodass ich nicht erkennen konnte, ob es sich dabei um ein Männchen oder Weibchen handelte – hatte einen Strauß in der Hand, blieb aber dennoch vor dem Rosenbeet stehen und guckte nach links und rechts. Mich in meiner Nische sah er dabei nicht und so glaubte »er-sie-es« sich wohl allein. Jedenfalls brach er eine Rose ab – und ich fand den Gedanken, dass das ein Junge war, der für seine Freundin Blümchen klaute, durchaus romantisch.
*
Sonntagmorgen – und mir wäre nach ausschlafen, ein wenig schmusen und einem langen, gemütlichen Frühstück auf unserem Balkon mit Seeblick gewesen. Doch dazu kam es nicht, denn ich durfte nicht von selbst aufwachen, sondern wurde durch einen ohrenbetäubenden, schrillen Schrei geweckt. Ich fuhr hoch, schaute erst auf die Uhr – es war kurz vor neun – und dann zu Lucas, der hochgefahren war und aufrecht im Bett saß.
»Was war das denn?«, fragte ich.
Lucas zuckte mit den Achseln und deutete mit dem Daumen über die Schulter auf die Wand, die uns von der Nachbarsuite trennte.
Der Schrei war verstummt, doch die Ruhe währte nur einen Augenblick. Dann ging es wieder los – und es schien noch lauter zu sein als vorher. Lucas und ich sprangen aus dem Bett, ich rannte ins Bad, um mir meinen Bademantel überzuwerfen, er schlüpfte in seine Jeans und Wildlederslipper. Auf dem Weg zur Tür zog er sein Hemd an, kam aber nicht dazu, es ganz zuzuknöpfen, weil er schon an der ersten Tür zur Miercoledi-Suite war. Von innen ertönte Heulen – offenkundig mehrstimmig und in der Lautstärke einer Alarmsirene. Lucas’ Klopfen und Rufen ging in dem Lärm von innen fast unter, aber dann rührte sich doch etwas: Mafalda Miercoledi öffnete die Tür. Sie trug nur ihr Nachthemd, wobei das Wort eine eindeutig zu profane Beschreibung für das edle Stück aus champagnerfarbener Seide mit Spitze war. Dazu hatte sie ihr langes, dunkles Haar zu einem dicken Zopf geflochten. Ihr schmales Gesicht mit den vollen Lippen schien weiß wie die Wand hinter ihr, wodurch ihre sonst sorgfältig überschminkten Sommersprossen noch mehr herausstachen.
Mit einem Aufschrei warf sie sich Lucas in die Arme. »Zio Lucaso!« Es folgte ein italienischer Wortschwall – viel zu schnell, als dass ich mit meinem VHS-Italienisch etwas hätte verstehen können.
Nun stürzten sich auch ihre Mutter und Schwester auf Lucas, wobei sie wild durcheinanderredeten. Ich verstand immer noch kein Wort, aber mir fiel ein, dass Marietta und Mafalda Miercoledi Lucas schon gekannt hatten, als sie beide noch Windeln trugen. Bei seinen privaten Fotos hatte ich einmal eine ganze Sammlung gefunden, die ihn beim Spielen mit den Miercoledi-Töchtern zeigte, außerdem hatte er mir erzählt, dass er oft für sie gezeichnet und Geschichten vorgelesen hatte. Ihre Eltern hätten doch meist keine Zeit für sie gehabt.
Lucas schaffte es nun, die reichlich hysterischen Grazien in den Salon der Suite zu manövrieren und die Tür zu schließen. Ich war einfach hinterhergedackelt, lehnte an einem Seitentisch und fühlte mich deplatziert, denn ich hatte immer noch keine Ahnung, worum es bei dem ganzen Aufstand ging. Also ließ ich die Augen schweifen und schielte durch die offene Zimmertür gegenüber. Im Raum dahinter sah es aus wie auf einem Bombenabwurf-Übungsplatz: Vor einem ungemachten Bett schien sich ein Koffer erbrochen zu haben und hatte seinen Inhalt – Blusen, Shirts und Röcke, Hosen und High Heels, vieles davon im Leo-Design, was mich vermuten ließ, dass Giulia die Räuberhöhle bewohnte – auf dem Boden verstreut.
Der Schreibtisch seitlich diente offenkundig als Schminktisch und die Kollektion an Tiegeln und Töpfen darauf erinnerte mich an den Arbeitsplatz einer Maskenbildnerin, nachdem sie einen Schauspieler zum blauhäutigen Alien umgebaut hat.
Lucas schien jetzt mit den Damen zu streiten. Er deutete auf das Telefon und sprach von »Dottore«. Giulia heulte jedes Mal schrill auf, wenn er das Wort erwähnte; Mafalda fummelte an ihrem Handy und ihre Schwester – zu meinem Erstaunen bereits voll bekleidet in einem verwegenen roten Seidenshirt, schwarzer Lederhose und himmelhohen, knallroten High Heels – deutete zur verschlossenen Tür schräg hinter mir.
Lucas gab ihr nach, wobei er sich an mich erinnerte. Als er zur Tür ging, schaute er mich bedauernd an, deutete ein Schulterzucken an und öffnete. Ich wertete seinen Blick als Aufforderung, ihn zu begleiten, und wieselte hinterher.
Ich bereute meine Neugierde sofort, denn die Tür führte ins Schlafzimmer von Mario Miercoledi – und der Anblick, der uns da erwartete, ließ mich bedauern, dass hysterisches Kreischen in meinem Instinktprogramm nicht vorgesehen ist. Es soll ja angeblich bei der Verarbeitung von Traumata helfen – und das wäre bei mir sehr nötig gewesen.
Vor dem Bett im Zimmer lag nämlich Miercoledi – und eines war klar: Er würde uns nicht mehr nerven. Und was den »Dottore« anging, den Lucas für ihn bestellen wollte – ich war ziemlich sicher, dass der einzige Arzt, den Miercoledi noch brauchen würde, ein Pathologe war.
Miercoledi lag zusammengekrümmt in einer Lache von Erbrochenem, seine Pyjamahose war verschmutzt – anscheinend hatte er neben den Magenproblemen auch noch Diarrhö gehabt –, ungefähr zwei Meter von seinem zerwühlten Bett entfernt. Offenkundig hatte er versucht, ins Bad zu kommen, und war auf dem Weg zusammengebrochen. Dabei hatte er die Hände in den Teppich gekrallt, den Kopf zur Seite gedreht und zeigte uns sein kalkweißes Gesicht mit weit aufgerissenen Augen. Doch am schlimmsten fand ich, dass sein Mund gegen den schwarzgefärbten Bart in einem fast obszönen Rot abstach.
Und da war der Geruch und mein Magen hob sich. Ich flüchtete durch den Salon auf den Balkon, stützte mich mit beiden Händen auf das Geländer, schnappte nach Luft und sah auf den See hinaus, der im Morgenlicht so unschuldig aussah. In meinem Kopf purzelten die Gedanken durcheinander.
Miercoledi war tot. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Und dem Zustand des Erbrochenen nach lag er schon eine ganze Weile als Leiche in seinem Zimmer. So wie sein Bett aussah, hatte ihn nicht einfach der Schlag getroffen. Vielmehr sah es aus, als ob er eine Weile gelitten hätte. Und er war nicht der Typ gewesen, der aus zarter Rücksicht auf den Schönheitsschlaf seiner Damen stumm gelitten hätte! Er hatte sicher um Hilfe gerufen, aber niemand hatte ihn gehört.
Warum? Seine Frau hatte das Zimmer gegenüber bewohnt, seine Töchter – nun, die waren entschuldigt, denn ihre Zimmer waren von dem ihres Vaters sowohl durch den Schlafraum der Mutter wie auch den großen Salon abgeteilt.
Aber woran war Miercoledi wohl gestorben? Was verursachte Erbrechen, Durchfall und brachte einen dann in kurzer Zeit um?
Lucas hatte die Damen wieder in den Salon gelotst und die Tür zu Miercoledis Zimmer geschlossen. Nun ging er zum Telefon. Seine Stimme klang sehr beherrscht und fast kühl, aber ich sah, dass er mit der freien Hand am Telefonkabel herumspielte. »Ja, Sie haben mich richtig verstanden. Signore Miercoledi ist tot – wir brauchen einen Arzt und …« Er überlegte einen Moment, dann schüttelte er unwillig den Kopf. »Der Arzt tut es erst einmal. Danach sehen wir weiter.« Er hörte zu, dabei runzelte er die Stirn. »Guter Mann, ich habe bestimmt Besseres zu tun, als die Presse zu informieren. Ich bin nämlich nicht nur der Regisseur auf der Seebühne, sondern auch ein langjähriger …«, er zögerte einen Augenblick, dann setzte er mit einem »Freund des Hauses« fort. Und ja, er kümmere sich jetzt um die Miercoledi-Damen, wäre dann aber um derentwillen dankbar, wenn der Arzt nicht zu lange auf sich warten lassen würde. »Und jetzt wäre es kein Schaden, wenn Sie uns eine große Kanne Kaffee heraufschicken lassen würden.«
Er legte auf, gönnte mir ein ganz kleines Lächeln und schaute zu Giulia und Mafalda Miercoledi, die auf dem Sofa saßen und sich aneinander schmiegten wie zwei verängstigte Kinder. Marietta Miercoledi hatte sich ihnen gegenüber in einem Sessel niedergelassen, den Blick zum Fenster gewandt. Dabei hatte ich aber den Eindruck, dass sie nicht einmal bemerkt hätte, wenn draußen auf dem See ein Raumschiff gelandet wäre.
Ich setzte mich auf den Klavierhocker, der vor dem Flügel stand und schlang die Arme um meinen Körper. Mir war kalt in meinem Bademantel und ich überlegte, ob ich nicht hinüber in unsere Suite gehen und mich richtig anziehen sollte. Doch dabei wäre ich mir vorgekommen, als wenn ich Lucas im Stich lassen würde. Ich hatte ihm doch versprochen, in guten und schlechten Tagen an seiner Seite zu sein – und heute war eindeutig einer von den schlechten Tagen.
Ich beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Er stand immer noch an dem kleinen Sekretär, auf dem das Telefon untergebracht war. Die tiefe, vertikale Falte über seiner rechten Augenbraue sagte mir, dass er intensiv nachdachte.
Mein Blick wanderte wieder über das Sofa zu dem Sessel, auf dem Marietta saß. Sie schien der Tod ihres Vaters am schlimmsten getroffen zu haben. Sie ließ sich die langen, kupferroten Locken wie einen Vorhang über das Gesicht fallen, dennoch konnte ich ihr Profil mit der etwas krummen Nase, die sie vom Vater geerbt hatte, erkennen. Bei ihm hatte die Nase männlich-markant ausgesehen, Marietta allerdings ließ sie streng aussehen. Dazu war sie fast so bleich wie ihr toter Vater, allerdings waren ihre vollen Lippen nicht rot, sondern fast farblos, obwohl sie daran herumnagte.
Niemand sprach, nur ab und zu schluchzte Giulia, worauf Mafalda ihr über den Rücken streichelte. Ich fragte mich, was den Frauen wohl durch den Kopf ging, als es endlich an der Tür klopfte. Lucas reagierte am schnellsten, eilte zur Tür, öffnete und ließ einen Kellner eintreten, der einen Servierwagen mit einer großen Thermoskanne, einigen Tassen, zwei Milchkännchen, eine Zuckerdose und einem Becher, in dem aufrecht einige Löffel standen, hereinschob. Außerdem brachte er einen Teller mit Keksen mit und baute alles auf dem runden Esstisch, der im vorderen Teil des Salons stand, auf.
Lucas signierte die Rechnung, fand ein paar Münzen in seiner Hosentasche, reichte sie dem Jungen und fragte: »Wer mag Kaffee?«
»Ich bitte!« Mafalda stand auf, ging zum Tisch und sagte: »Mutter sollte auch einen trinken.«
Lucas schenkte zwei Tassen für sie voll und schaute mich fragend an. Ich nickte, worauf er reichlich Milch und Zucker in eine Tasse gab, mit Kaffee auffüllte und mir die Mischung mit einem Keks auf der Untertasse reichte.
Mafalda hatte einen Schluck getrunken und es war, als ob damit die Schleusen ihrer Beredsamkeit geöffnet worden wären. »Ich verstehe das nicht. Ich meine, gestern Abend war er schon ein wenig angeschlagen, aber dennoch – wer rechnet denn mit so was?« Sie war aufgeregt und mir fiel auf, dass ihr italienischer Akzent stärker war, als ich ihn je von ihr gehört hatte. »Ihr habt ihn doch gestern Abend auch gesehen, Victoria und Lucas! Da hat er doch nicht ausgesehen, als ob er in der Nacht …« Sie schien das Wort »sterben« nicht aussprechen zu können, sondern schluckte und sprach weiter, wobei sie immer schneller und schriller wurde. »Er hat auf der Promenade am Jachthafen unten sogar noch Autogramme gegeben und diese Blondine mit den dicken Dingern angebaggert!«
»Ich glaube nicht, dass das jetzt ein passendes Thema ist!«, mahnte Lucas.
»Warum? Fangen wir jetzt schon an, so zu tun, als ob Vater ein Engel gewesen wäre? Er hat alles angegraben, was bei drei nicht auf dem Baum war!« Sie war aufgestanden und ging nervös im Raum auf und ab. »Schau mich nicht so an, Onkel Lucas! Du weißt so gut wie ich, dass er hinter jedem Rock her war und …«
Giulia schluchzte lauter, Lucas trat einen Schritt auf Mafalda zu und griff nach ihrem Arm. »Schluss jetzt, Mafalda!«, sagte er laut.
»Aber er ist tot!« Sie klang fast fröhlich. »Er ist tot!«, wiederholte sie. »Heißt das nicht, dass wir jetzt aufhören können, heile Familie zu spielen? Etta, du kannst …«
»Halt den Mund, Mafalda!« Marietta brüllte und auf ihrer Wange erschienen hektische rote Flecken.
Ihre Schwester schluckte und begann zu weinen, leise, kleine Schluchzer wie ein Kind.
Ich hatte im Geist die ganze Zeit das Szenario in der letzten Nacht durchgespielt. Miercoledi und die Seinen waren noch im Straßencafé gesessen, als wir gegangen waren, aber ich erinnerte mich, ihre Stimmen auf dem Flur gehört zu haben, als ich im Bad die Zähne geputzt hatte. Da waren sie heimgekommen und da war es Miercoledi offenkundig noch gut gegangen.
Wann nach dem Heimkommen war er schlafen gegangen? Und was war dann passiert? War ihm übel geworden? Aber warum hatte er nicht gleich um Hilfe gerufen? Es war doch nicht so schlimm gewesen, dass er das nicht mehr geschafft hätte, denn schließlich war er aufgestanden … oder war er aufgestanden, um Hilfe zu holen und auf dem Weg zur Tür zusammengebrochen? Aber warum hatte er nicht gerufen? Oder hatte er gerufen und niemand hatte ihn gehört?
Ich versuchte, mir den Grundriss der Suite vorzustellen. Wie die unsere hatte sie einen Vorraum, von dem aus es in eine kleine Küche ging, dann kam man durch eine Doppeltür in den großen Salon. In dem war links und rechts je eine Tür. Die linke führte in Miercoledis Schlafzimmer, die rechte in das seiner Frau. Die dazu gehörigen Badezimmer waren jeweils durch die Schlafzimmer erreichbar. Die Töchter wohnten nebenan beziehungsweise gegenüber. Insofern war erklärbar, dass sie nichts gehört hatten. Zwischen Miercoledis Schlafraum und Mariettas Zimmer gegenüber lagen immerhin ein Bad, die Küche, der Vorraum und der Flur. Und Mafalda wohnte im Zimmer hinter ihrer Mutter, also mindestens genauso weit weg. Aber Giulia – sie hatte nur den Salon zwischen ihrem und dem Zimmer ihres Mannes! Und das Hotel war ein Altbau und, wie wir in den letzten Tagen zu spüren bekommen hatten, doch eher hellhörig. Wir hatten jedenfalls mitbekommen, wenn Familie Miercoledi sich im Salon angebrüllt hatte.
Andererseits war Miercoledi angeschlagen gewesen und hatte darum wahrscheinlich nicht so laut geschrien wie am Vortag beim Familienstreit.
Es klopfte zum zweiten Mal – der Hotelmanager, trotz Sonntagmorgen und Sommer schon im dreiteiligen dunkelblauen Anzug mit gestreiftem Hemd und Krawatte, segelte in Begleitung eines verschlafen wirkenden, unrasierten Mannes in einer abgewetzten Cordhose und einem verwaschenen Polohemd, der einen großen schwarz-orangen Rucksack in der Hand trug, in die Suite. Der Manager drückte Lucas die Hand und deutete eine Verbeugung an, dann küsste er Giulia die Hand, murmelte etwas von Bedauern und Beileid, auch in Richtung der Töchter, und stellte seinen Begleiter als Doktor Hartmann vor.
Der grunzte in die Runde, dann schob er sich zum Tisch. »’tschuldigung«, brummte er. »Ich habe Wochenenddienst und war die halbe Nacht unterwegs. Kann ich erst mal einen Kaffee haben?« Weil sich sonst niemand rührte, stand ich auf und schenkte ihm einen Kaffee ein, was er mit einem munteren »Ich bin ein Süßer, ich nehme Milch und dreimal Zucker!« kommentierte.
Während der Arzt in aller Gemütsruhe seinen Kaffee trank, unterhielt sich Lucas leise mit dem Hotelmanager. Ich spitzte die Ohren und schnappte auf, dass der Hotelmanager davon sprach, den Bestatter anzurufen – ihm ging es natürlich darum, die Leiche so schnell und diskret wie möglich aus dem Haus schaffen zu lassen. Lucas bremste ihn – er solle doch bitte erst einmal abwarten, was der Arzt sage.
Der hatte mittlerweile seinen Kaffee getrunken und stand mit einem Seufzen auf. »Tja – wo liegt der Mann?«
Lucas deutete auf die Tür. »Brauchen Sie jemanden dazu?«
»Falls ich jemanden brauche, kann ich ja rufen!« Der Arzt schleppte seinen Rucksack zur Tür und verschwand dahinter.
Wir warteten schweigend, wobei der Hotelmanager nervös auf und ab ging, während Lucas zu mir getreten war und mir die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Eine ganze Weile lauschten wir auf die leisen Schritte des Arztes, hörten etwas klappern, dann das Geräusch eines Reißverschlusses. Mafalda begann zu weinen, Lucas machte einen Schritt nach vorne und streichelte über ihr Haar. »Ja, Mafi, das ist schlimm …«, sagte er leise.