Kitabı oku: «Geschichte der Sonderpädagogik», sayfa 7

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Man vergegenwärtige sich, daß dieser junge Mann noch vor sechs Monaten in tiefer Unwissenheit steckte; daß er, geboren ohne Vermögen und genötigt, um die Unterstützungen betteln zu gehen, die er mit seiner Familie teilt, täglich nur ein paar Augenblicke dem Studium widmen kann; man vergleiche mit seinen Fortschritten selbst jene, die in einem gleichen Zeitraum ein junger Mann macht, der sich aller seiner Sinne und der Muße, die Wohlhabenheit gewährt, erfreut, und man wird ermessen, wie berechtigt sowohl die Befriedigung der hochgebildeten Beamten, die sich an der Spitze der Versammlung befanden, als auch die Beifallsbezeugungen waren, die die Zuseher den Erfolgen der erfinderischen und wohltätigen Bemühungen des Herrn Haüy verschwenderisch spendeten. Man wird schließlich folgern, wie interessant eine Anstalt wäre, die die des Gesichtssinnes beraubten Individuen in die Lage versetzen würde, aus den für ihren Gebrauch gedruckten Büchern Kenntnisse, geeignet ihren Geist zu bilden und zu schmücken, und Reize zu schöpfen, fähig, in ihrem Herzen das Bewußtsein ihres Unglücks zu mindern oder selbst aufzuheben.“ (Mell 1952, 34f)

Louis Braille

Auch wenn es mit der Entwicklung dieser neuen Methoden zum ersten Mal gelungen war, blinden Menschen in systematischer Weise Bildungsprozesse zu vermitteln, so ist doch einschränkend anzumerken, dass diese ersten Methoden aus der Sicht der Sehenden entwickelt worden waren und letztlich nur begrenzte Kommunikationsmöglichkeiten eröffneten. Erst als Louis Braille (1809–1852), der 1819 als Zehnjähriger in der Pariser Blindenanstalt Aufnahme gefunden hatte, ein aus der Kombination von sechs Punkten bestehendes Schriftsystem erfand, war der entscheidende Schritt zur Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten blinder Menschen getan.

Punktschrift

Erfunden hatte die Punktschrift Charles Barbier de La Serre, ein ehemaliger Artillerieoffizier, der während der Revolution in die USA emigriert und Anfang des 19. Jahrhunderts nach Frankreich zurückgekehrt war. Barbier bot seine Methode dem Pariser Königlichen Blindeninstitut an, das sich unter der Leitung von Pignier 1821 zur Einführung der Punktschrift entschloss. In der praktischen Erprobung durch die blinden Schüler selbst, unter ihnen Louis Braille, der 1821 erst zwölf Jahre alt war, stießen diese aber auf eine Reihe von Nachteilen der Methode Barbiers. Sie bemängelten, dass sich Barbiers Methode an den Lauten, nicht aber am Alphabet orientierte, keine Möglichkeiten für Rechenoperationen und Notensetzung vorsah und schließlich auf zwölf Punkten basierte, wodurch die Ertastbarkeit erschwert wurde. Es war Louis Braille, der als 20-Jähriger schließlich die entscheidende Lösung fand: ein System aus nur sechs Punkten, das die Zeichen das Alphabets sowie musikalische und mathematische Zeichen umfasste (Weygand 2003, 327ff).


Abb. 2.5: Blindenpunktschrift nach Louis Braille

Erfindung einer Schreibmaschine

Braille arbeitete in den Folgejahren an der Optimierung seines Systems, das er in zweiter Auflage 1837 veröffentlichte und dessen Version von Direktor Pignier an zahlreiche Blindenanstalten des Auslandes verschickt wurde. Ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zur Erweiterung der Kommunikationsmöglichkeiten blinder Menschen war schließlich die Erfindung einer Schreibmaschine 1842, erdacht und hergestellt von dem Mechaniker Pierre-François de Foucault, einem ehemaligen Zögling der Blindenanstalt, in Zusammenarbeit mit Louis Braille.

Der Siegeszug der Braille-Schrift ließ allerdings noch einige Zeit auf sich warten, denn der Nachfolger Pigniers, Pierre-Armand Dufau, beeilte sich (1840), zum alten Schriftsystem zurückzukehren. Die Weltausstellung in Paris 1878, die mit einem Weltkongress der Blinden und Gehörlosen verbunden war, brachte letztendlich den nationalen und internationalen Durchbruch. Wie in allen anderen europäischen Ländern entschieden sich auch die deutschen Blindenpädagogen 1879 für die Einführung der Punktschrift nach Louis Braille. Er selbst war bereits 1852 in der Pariser Blindenanstalt verstorben. Nur ein Jahr später weihte das nun Kaiserliche Blindeninstitut eine Braille-Büste ein, mit „le Jean Guttemberg des aveugles“, der Johannes Gutenberg der Blinden, geehrt wurde. Bedenkt man, wie dürftig das Bildungsangebot für die große Mehrheit der Insassen der Pariser Blindenanstalt war, so ist die hohe Bedeutung und Wertschätzung dieser Methode zu verstehen, die den in der Isolation lebenden Blinden trotz aller Hindernisse plötzlich ungeahnte Wege zur Welt der Kultur, zur Kommunikation untereinander und zur intellektuellen Emanzipation eröffnete (Weygand 2003, 358).

Laura Bridgman

Unterricht Taubblinder: Der methodische Erfindungsreichtum der Anfangsphase führte schließlich auch dazu, dass bereits in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, fünf Jahrzehnte vor der berühmten Helen Keller, die erfolgreiche Unterrichtung eines taubblinden Mädchens in der Blindenanstalt von Boston geschah: Laura Bridgman (1829–1889). Es war der Leiter der Blindenanstalt von Boston, Dr. Samuel Gridley Howe, der sich dieser Herausforderung stellte und mit großer Phantasie und Methodengeschick die Lernfortschritte des Mädchens über viele Jahre begleitete (Jerusalem 1890).

S. G. Howes Methode

Die taubblinde Laura Bridgman wurde 1837 in der Bostoner Blindenanstalt aufgenommen, und im „Encyklopädischen Handbuch des Blindenwesens“ von Alexander Mell findet sich eine minutiöse Beschreibung der von Howe entwickelten Methode:


„Dr. Howe ließ auf kleine Papierstreifen die Namen häufig vorkommender Gegenstände, wie Messer, Gabel, Löffel, Schüssel, Stuhl, Buch u. dgl. in erhabenen, tastbaren Lettern drucken. Er befestigte dann einen solchen Streifen z. B. den mit knife (Messer) bedruckten auf ein Messer und ließ einen andern solchen Streifen lose. Darauf gab er nun Laura das Messer mit dem darauf geklebten Streifen in die Hand, ließ sie das Object und die Lettern betasten. Dann gab er ihr den losen Streifen mit dem Worte knife (Messer) und machte ihr das Zeichen der Gleichheit, indem er ihre beiden Zeigefinger genau nebeneinander legte. Laura schien leicht zu begreifen, dass die Zeichen auch bei den Streifen gleich seien; mehr aber wusste sie noch nicht. Man versuchte es nun ebenso mit anderen Objecten und setzte die Lection am dritten Tage fort. Am dritten Tage erst begriff Laura, dass die Lettern auf den Streifen Zeichen für die Dinge seien, an denen sie befestigt waren. Dies zeigte sich dadurch, dass sie den Streifen mit dem Worte „chair“ (Stuhl), auf einen Stuhl, dann auf einen andern legte, wobei ein verständnisinniges Lächeln ihr bis dahin verdutztes Antlitz erhellte und ihre sichtbare Befriedigung ihrem Lehrmeister zeigte, dass sie ihre erste Lection begriffen hatte.

Damit hatte nun Laura die wichtige Erkenntnis gewonnen, dass die Dinge mit Namen bezeichnet werden. Diese Namen hatte sie aber bisher nur als einheitliche Complexe von Tastempfindungen kennen gelernt. Durch Zerschneiden der Streifen und mit Hilfe eines Typenkastens lehrte man sie nun, die Worte aus den einzelnen Buchstaben zusammensetzen, was sie mit großem Eifer und ziemlich schnell erlernte. Auch die Ordnung des Alphabets merkte sie sich bald und wusste ihre Typen nach beendeter Lection in richtiger Weise in den Kasten einzuordnen, was ihr die rasche Auffindung sehr erleichterte. Das Manipulieren mit den Typen war jedoch immerhin langwierig und nicht immer anwendbar. Dr. Howe sorgte deshalb dafür, dass Laura die Fingersprache der Taubstummen erlernte. Damit erst war für Laura die Einsamkeit, in die sie der Verlust der beiden vornehmsten Sinnesorgane gebannt hatte, durchbrochen, indem ihr jetzt erst die Sprache und der Verkehr durch dieselbe erschlossen war. Sie lernte die Fingersprache mit großem Eifer und brachte es darin im Sprechen sowohl, als auch im Verkehr zu großer Geläufigkeit.“ (Mell 1900, 135f)

Es sollte übrigens nur noch ein gutes Jahrzehnt dauern, bis ein Franzose den Boden der neuen Welt betrat und in den USA als Pionier der Geistigbehindertenpädagogik seine Erfolgsgeschichte begann: Edouard Séguin.

3 Bildung und bürgerliche Gesellschaft: Das 19. Jahrhundert (bis etwa 1860)

„Der Punkt, auf welchen alle Erziehung und aller Unterricht gerichtet werden muss und welcher daher auch mein Ziel bleibt, ist die große Kunst zu leben.“

(Adolf Eschke, Gründer der Berliner Taubstummenanstalt, 1811/1912)

„[…] denn ein blindes Kind kann von dem fünften, spätestens von dem achten Jahre an die öffentliche Schule der Sehenden mit sehr großem Nutzen besuchen, wenn nur der Lehrer auf den Zustand des Kindes […] Rücksicht nehmen will. Ja, die sehenden Kinder können sogar viel bei dieser Gelegenheit mitlernen, wenn der Lehrer sie auf die Bedürfnisse des blinden Kindes und auf die Art aufmerksam macht, wie man mit demselben umgehen müsse, nicht zu vergessen, den moralischen Nutzen, den es für die sehenden Kinder hat […]“

(J. G. Knie, Der Unterricht der Blinden, 1838, 323)

3.1 Die preußische Reformära und die Bildung behinderter Menschen

Philanthropismus Neuhumanismus

Es bestand eine hohe Kontinuität zwischen der Pädagogik der Philanthropen und dem neuhumanistischen Bildungsideal zu Beginn des 19. Jahrhunderts, denn die Ideen, die Entwürfe und auch die ersten Beispiele veränderter Institutionen lagen bereits vor. Ulrich Herrmann betont, es

„kann auch eigentlich keine Rede sein von einer scharfen Entgegensetzung der rousseau-philanthropischen und der neuhumanistischen Denkweise […] weil die Zielsetzung durchaus übereinstimmend ist: die Menschlichkeit des Menschen zu befördern und zur Geltung zu bringen. Zwar hoben die Philanthropen und Pestalozzi mehr auf bürgerliche Brauchbarkeit ab und der Neuhumanismus auf das Rein-Menschliche; aber gemeinsam ist doch, daß die Realia […] eine neue Bildungsfunktion und einen neuen Bildungssinn bekommen: das ‚Materielle‘ zu sein der ‚formellen Bildung‘, die ‚Stoffe‘, an denen die ‚Kräfte‘ des Allgemeinen der menschlichen Bildung sich ausbilden.“ (Herrmann 2005, 120; s. a. Jeismann 1987; Benner/Oelkers 2004)

Niederlage Preußens

Infolge der Revolutionskriege löste sich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation auf, und Preußen lag nach der vernichtenden Schlacht bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 darnieder – Berlin war von französischen Truppen besetzt, der preußische König Friedrich Wilhelm III. mit dem Hof nach Königsberg geflohen. Gerade zu dieser Zeit eröffnete August Zeune in Berlin eine Anstalt für blinde Zöglinge. Diese ungeheuer mutige Tat eines Einzelnen, der kein Risiko scheute, kündigt bereits das an, was nur ein Jahr später, nämlich im Herbst 1807, in Preußen geschah: ein staatlicher Neuanfang nicht durch Revolution, sondern durch Reformen „von oben“, durch eine Strategie der „defensiven Modernisierung“ (Wehler 1989, 532; Lundgreen 1980/81).

Bildungsreform

Die vom Freiherrn vom Stein und von Fürst Karl August von Hardenberg (1750–1822) eingeläuteten Agrar-, Gewerbe-, Verwaltungs- und Heeresreformen fanden ihr Rückgrat in einer einschneidenden Bildungsreform, die das große Ziel verfolgte,

„ein umfassend rekonstruiertes Bildungssystem für die Modernisierung des Staates, für die Förderung der bürgerlichen Leistungsgesellschaft und der ihr korrespondierenden liberalen Volkswirtschaft einzurichten“ (Wehler 1989, 473).


Wilhelm v. Humboldt

Der führende Kopf der preußischen Bildungsreformer war Wilhelm von Humboldt (1767–1835), ein vielseitig gebildeter Mann, Sprachforscher, Philosoph und Bildungstheoretiker (Tenorth 2018), der mit seinem Privatlehrer, dem berühmten Philanthropen J. H. Campe, 1789 das revolutionäre Paris besuchte und bei dieser Gelegenheit auch der Blinden- und Taubstummenanstalt einen Besuch abgestattet hatte. Wie Nieser (1992, 324) berichtet, waren Condorcets Schriften Humboldt nicht nur sehr gut bekannt, sondern er führte sogar während seines Pariser Aufenthaltes mit der Witwe Condorcets Verhandlungen wegen derer Veröffentlichung.

Ideal allgemeiner Menschenbildung

Humboldt, der 1809 die Leitung der neu eingerichteten „Sektion für Kultus und Unterricht“ im preußischen Innenministerium übernahm, vermochte in nur gut einem Jahr die entscheidenden Weichen für die gesamte Bildungsreform in Preußen zu legen. In seiner Schrift von 1792 „Ideen zu einem Versuch die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ hatte Humboldt die entscheidenden Leitlinien seiner Bildungstheorie niedergelegt, die auf dem Ideal einer „allgemeinen Menschenbildung“ und nicht einer verengten Erziehung zur bürgerlichen Brauchbarkeit basierte, die für jeden, auch den ärmsten und schwächsten, gelten sollte:

„Gewiß ist es wohltätig, wenn die Verhältnisse des Menschen und des Bürgers soviel als möglich zusammenfallen; aber es bleibt dies, doch, nur alsdann, wenn das des Bürgers so wenig eigentümliche Eigenschaften fordert, daß sich die natürliche Gestalt des Menschen, ohne etwas aufzuopfern, erhalten kann – gleichsam das Ziel, wohin alle Ideen, die ich in dieser Untersuchung zu entwickeln wage, allein hinstreben. Ganz und gar aber hört es auf heilsam zu sein, wenn der Mensch dem Bürger geopfert wird.“ (Benner/Kemper 2000, 429)

Humboldts Schulpläne

Die Konsequenz einer die Standesgrenzen überwindenden Bildungsidee war Humboldts Forderung nach einem horizontal gegliederten, egalitären Bildungssystem, niedergelegt in seinen Königsberger und Litauischen Schulplänen, das durch die drei Stufen „Elementarunterricht“, „Schulunterricht“ und „Universitätsunterricht“ gebildet sein sollte. In einem Schreiben an den preußischen König von 1809 hob Humboldt sehr deutlich den egalitären Charakter der gesamten Bildungsorganisation hervor, indem er bemerkte, dass die Unterrichtssektion ihren allgemeinen Schulplan

„‚auf die ganze Masse der Nation‘ berechnet und ‚diejenige Entwicklung der menschlichen Kräfte zu befördern‘ sucht, ‚welche allen Ständen gleich nothwendig ist und an welche die zu jedem einzelnen Beruf nöthigen Fertigkeiten und Kenntnisse leicht angeknüpft werden können. Ihr Bemühen ist daher, den stufenartig verschiedenen Schulen eine solche Einrichtung zu geben, daß jeder Unterthan Ew. Königl. Majestät darin zum sittlichen Menschen und guten Bürger gebildet werden könne, wie es ihm seine Verhältnisse erlauben‘“ (Nieser 1992, 256)

Bildungspolitik

Humboldts Bildungsplan propagierte nicht nur eine zweckfreie allgemeine Menschenbildung, sondern wies auch die Machtansprüche des absolutistischen Staates zurück, weil er das Bildungswesen als öffentlich-nationale, nicht aber als rein staatliche Aufgabe betrachtete. Damit enthielten Humboldts bildungstheoretische Ideen starken politischen Sprengstoff, der auf eine Verfassungsreform im Sinne einer konstitutionellen Monarchie drängte:

„Das Gelingen der Reform des Erziehungs- und Bildungssystems war […] davon abhängig, dass es auch im politischen System gelang, zwischen Bürgern und Menschen sowie Staat und Nation zu unterscheiden und eine Verfassung auszuarbeiten, welche die Rechte des absoluten Monarchen auf diejenige einer konstitutionellen Monarchie begrenzt.“ (Benner/Kemper 2003a, 255)

Süverns Gesetzentwurf

Der von Johann Wilhelm Süvern, einem engen Mitarbeiter Humboldts, 1819 vorgelegte Gesetzesentwurf für ein Unterrichtssystem entsprach uneingeschränkt dem von Humboldt vorgezeichneten egalitären und horizontalen Aufbau eines Einheits- bzw. Gesamtschulsystems. Einige wenige Passagen aus seinem Unterrichtsgesetzesentwurf, der „Krönung der preußischen Schulreformen“ (Flitner 1957, 138), seien nicht zuletzt wegen ihrer ungebrochenen Aktualität hier in Erinnerung gerufen:

„Erster Teil: Die öffentlichen allgemeinen Schulen betreffend

I. Allgemeine Grundbestimmungen

§ l. Begriff der öffentlichen allgemeinen Schulen

Als öffentliche und allgemeine werden diejenigen Schulen und Erziehungsanstalten anerkannt, welche die allgemeine Bildung des Menschen an sich, und nicht seine unmittelbare Vorbereitung zu besonderen einzelnen Berufsarten bezwecken […]

§ 2. Ihr Verhältnis zum Staatszwecke

Die öffentlichen allgemeinen Schulen sollen […] die Grundlage der gesamten Nationalerziehung bilden. Die Erziehung der Jugend für ihre bürgerliche Bestimmung auf ihre möglichste allgemeinmenschliche Ausbildung zu gründen, sie dadurch zum Eintritt in die Staatsgemeinschaft zweckmäßig vorzubereiten und ihr treue Liebe für König und Staat einzuflößen, muß ihr durchgängiges eifriges Bestreben sein.

§ 3. Ihre Stufenfolge

Dieser Aufgabe zu entsprechen, sollen sie die allgemeine Jugendbildung vom Anfange des Schulunterrichts bis zu der Grenze, wo die Universität sie aufnimmt, durch drei wesentliche Stufen durchführen.

Auf der ersten dieser Stufen soll sich die Schule mit der ersten methodischen Entwicklung der menschlichen Anlagen und Hervorbringung der inmittelst derselben zu gewinnenden Einsichten, Kenntnisse und Fertigkeiten beschäftigen, dem Bildungsbedürfnisse der unteren Volksklasse in den Städten und auf dem Lande genügen, und allgemeine Elementarschule heißen.

Auf der zweiten soll sie die Bildung des Knabenalters bis zu der Grenze fortführen, wo sich die Fähigkeit und Bestimmung entweder zu weiterer wissenschaftlicher Ausbildung oder zu besonderer Vorbereitung für ein bürgerliches Gewerbe zu entscheiden pflegt. Die Schulen dieser zweiten Stufe sollen allgemeine Stadtschulen heißen.

Auf der dritten Stufe soll sie jenes Geschäft so weit fortsetzen, bis der Grund allgemein-wissenschaftlicher und sittlicher Bildung, sei es für die höheren und besonderen Studien der Universität, oder unmittelbar fürs praktische Leben, gelegt ist. Jede Schule, welche bis zu diesem Ziele führt, soll Gymnasium heißen.“ (Lundgreen 1980/81, 56f)

Restauration in Preußen

Aber 1819 war die Restauration auch in Preußen bereits erstarkt. Vehemente Ablehnung erfuhr Süverns Plan durch den Minister von Beckedorff, der mit unverblümter Direktheit verlauten ließ: „Für Republiken mit demokratischer Verfassung mag dergleichen vielleicht passen, allein mit monarchischen Institutionen verträgt es sich gewiß nicht.“ (Lundgreen 1980/81, 62) Auch wenn die Humboldt’schen Bildungsideale schon bald unter dem Druck von Restauration und Reaktion verblassten, so prägten sie doch die weitere Entwicklung des deutschen Bildungswesens und blieben Maßstab für ein demokratisches Schulwesen bis zum heutigen Tag:

„Trotz dieses Scheiterns war ihre kurze Wirksamkeit dennoch überaus folgenreich und weichenstellend für die schulgeschichtliche Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert“ (Herrlitz et al. 1993, 43; s. a. Benner/Kemper 2003a, 257f; Tenorth 2008, 121ff).

Elementarschul- wesen

Aber wie sah nun die Schulwirklichkeit aus, die doch meist weit entfernt ist von der Welt der Ideen? Hanno Schmitt fasst die wichtigsten Elemente des „elenden Zustandes des niederen Schulwesens“ der Provinz Brandenburg zu Beginn des 19. Jahrhunderts wie folgt zusammen:

„1. Armut und Unwissenheit war für das Lehrerdasein im Elementarschulwesen bestimmend. Die Schulmeister hatten keine angemessene Ausbildung und rekrutierten sich ‚aus der Klasse der Invaliden, Flickschneider, Nachtwächter und Hirten‘. Dieser Zustand entsprach der miserablen Bezahlung.

2. Die vorhandenen Schulhäuser waren in einem äußerst schlechten Zustand. In vielen Dörfern fand Unterricht in der beschränkten Wohnung des Lehrers statt, ‚in der seine Familie, neben dem Unterricht, zugleich ihre häuslichen Geschäfte verrichtete‘. Ca. 1/5 der Dörfer hatte weder Schule noch Schulmeister.

3. Die Mehrzahl der Eltern hatte kein Interesse am Schulbesuch ihrer Kinder. Dies galt auch für die Mehrzahl der Prediger und Ortsobrigkeiten. ‚Sommerschulen gab es fast nirgends.‘“ (Schmitt 2001, 129)

Betrachtet man die weitere Entwicklung des Bildungswesens in den deutschen Staaten und insbesondere in Preußen, so beeindrucken folgende Phänomene: Die Idee der allgemeinen Menschenbildung, am Anfang nur eine abstrakte Idee, ergriff – ungeachtet aller reaktionären Gegenangriffe – zunehmend die Vorstellungskraft und Gedankenwelt zunächst der Fachleute, dann allmählich auch weiterer Kreise des Bürgertums. Bildung für jeden bedeutete schließlich auch Bildung behinderter Kinder und Jugendlicher, auch wenn es noch lange dauern sollte, bis dieser Gedanke im 20. Jahrhundert die Akzeptanz einer breiten Öffentlichkeit erfuhr. Dass diese Idee nicht blutleer blieb, im Status des hohlen Pathos verharrte, sondern sich zunehmend zu gesellschaftlichem Anspruch und gesellschaftlicher Praxis wandelte, ist die große Leistung, die während der folgenden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in Preußen, aber auch in anderen deutschen Ländern erbracht wurde.

preußisches Schulwesen im Vergleich

Alles ist eine Frage des Maßstabes: Misst man die tatsächliche Schulentwicklung Preußens im 19. Jahrhundert an den visionären Entwürfen eines Wilhelm von Humboldt, dann wurde eher wenig erreicht. Lenkt man aber die Betrachtung auf die Ausgangslage und den internationalen Vergleich, dann wurde viel erreicht. Während am Ende des 18. Jahrhunderts in Preußen höchstens 50 % der Kinder eine Schule besuchten, belegen die steigenden Einschulungsraten den gewaltigen Strukturwandel der preußischen Volksschule; so kletterten die Einschulungsquoten von ca. 60 % 1816 auf etwa 90 % im Jahre 1870, und bereits für die 1880er Jahre wird eine 100%ige Schulbesuchsquote angenommen. Damit lag Preußen „neben Teilen von Schottland und Neuengland international an der Spitze“ (Wehler 1989, 478).

Primarschulwesen in Frankreich

Ein kurzer Blick auf die französische Entwicklung verdeutlicht aus einer anderen Perspektive die erzielten Erfolge. Obgleich zur Zeit der Revolution bedeutsame Schulpläne von Talleyrand, Condorcet und Le Peletier vorgelegt worden waren, und es im vor- und nachrevolutionären Frankreich zahlreiche Initiativen, Modelle, didaktische Überlegungen und Institutsgründungen gab (Harten 1990; 1996; Werner 2004), war doch den meisten Neuerungen nur eine kurze Dauer beschieden. Beispielsweise überlebte die 1795 geschaffene „Ecole Normale“, eine Lehrerbildungsanstalt, nur ganze vier Monate, und auch die Elementarbildung verlor bereits unter dem Direktorium ihre Priorität, „so dass das Primarschulwesen um 1800 in einem denkbar schlechten Zustand war“ (Werner 2004, 259).

Besuch der Taubstummenanstalt Paris

Dies war ein Tatbestand, der auch von einem Zeitgenossen, dem Leiter der Königsberger Taubstummenanstalt Ferdinand Neumann, erwähnt wurde, der 1822 eine „sonderpädagogische Reise“ nach Paris unternahm und über seine Eindrücke in der Pariser Taubstummenanstalt eine Veröffentlichung vorlegte. Neumann, der voller Hochachtung über de l’Epées Verdienste schrieb, äußerte sich hingegen kritisch über seinen Nachfolger Sicard und dessen publikumswirksame Auftritte:

„Dieses Prunken Sicard’s mit seiner Methode, die mancherlei Kunststückchen, mit denen er, bei jenen öffentlichen Sitzungen sein Publikum zu unterhalten verstand, überhaupt alle die äussern Hebel, mit welchen er das Interesse der Pariser rege zu erhalten wusste; aber auch die Methode selbst, die um so mehr Aufsehen erregen musste, als das Elementarunterrichtswesen in Frankreich immer sehr schlecht bestellt war und noch ist; endlich die wirklich ausgezeichneten Leistungen der oben genannten Zöglinge namentlich Massieu’s, machen nicht allein den lebhaften und dauernden Antheil des sonst so leicht gesättigten Pariser Völkchens, sondern auch den ausgebreiteten Ruf erklärlich, den die Pariser Taubstummenanstalt sich im Auslande erwarb. Sie gehört seit 30 Jahren und länger zu den Merkwürdigkeiten von Paris, und nicht leicht versäumt es ein Reisender, ihren öffentlichen Uebungen beizuwohnen […] dass bei solchen Gelegenheiten öfters mehr nach dem äussern Scheine, dem ersten Eindrucke als nach dem Zwecke geurtheilt wird, ist eine bekannte Erfahrung.“ (Neumann 1827, 130f)

Schulpflicht in Frankreich

Das erste französische Unterrichtsgesetz von 1793 hatte Schulpflicht und kostenlosen Schulbesuch festgelegt, aber nur ein Jahr später wurde die Schulpflicht wieder zurückgenommen und damit Schulehalten der privaten Initiative überlassen. 1824 schließlich entstand ein eigenständiges Erziehungsministerium durch Abspaltung vom Innenministerium, aber eine allgemeine Schulpflicht wurde erst im Jahre 1882 erlassen – fast zehn Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Im kollektiven Gedächtnis beider Völker ist die Erinnerung an den preußischen Volksschullehrer verankert, dessen Unterrichtsleistungen angeblich zum Erfolg der preußischen Armee beitrug, denn die preußischen Rekruten waren mehrheitlich keine Analphabeten mehr und konnten somit die Landkarten lesen.

Schulbesuch Behinderter in Frankreich

Was schließlich die Bildung behinderter Kinder in Frankreich betraf, so wurde diese nicht, ich erwähnte es bereits, dem neu geschaffenen Erziehungsministerium unterstellt, sondern verblieb beim Innenministerium – ein folgenschwerer Schritt, bis in die Gegenwart. Die in jüngster Zeit in Frankreich geführte Debatte um ein Recht auf Beschulung (le droit à la scolarisation) hat ihre historischen Wurzeln genau in der bis heute gültigen Entscheidung, die Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung nicht dem Erziehungsministerium zu unterstellen.

ländliche Elementarschule Preußens

Dass die praktische Einlösung des Bildungsanspruchs für alle Kinder, auch für behinderte, zunehmend Akzeptanz in Preußen erfuhr, lässt sich auch für das Elementarschulwesen im ländlichen Raum belegen. Als der Oberkonsistorial- und Schulrat Bernhard C. L. Natorp (1772–1846) Ende 1809 eine erste Erkundungsreise durch die Provinz Brandenburg unternahm, war es ihm offenbar selbstverständlich, alle Einrichtungen, auch die „Zuchthäuser“ und „Irrenanstalten“, zu besuchen. In seinem Bericht lesen wir:

„Ich habe in 19 Tagen eine Reise von mehr als 30 Meilen gemacht, mich an wichtigen Orten einen, auch zwei oder drei Tage aufgehalten, überall Kirchen, Schulen, Kirchhöfe, Pfarrhäuser, Schulhäuser, Zuchthäuser, Irrenanstalten, kurz, alles was mich anging, in Augenschein genommen, gegen 70 Schulen besucht, zu mehreren neuen Regulierungen betreffs des Schulwesens Veranlassung gegeben, viele angenehme Bekanntschaften gemacht und mir manche anschauliche Kenntnisse des Landes erworben.“ (Schmitt 2001, 131)

3.2 Die Berliner Institute für Gehörlose und Blinde

Einrichtung und Förderung der Berliner Taubstummen- und Blindenanstalten sind ein offenkundiges Zeichen für die grundsätzliche Bereitschaft der politisch Verantwortlichen in der preußischen Bildungsadministration am Ende des 18. bzw. zu Beginn des 19. Jahrhunderts, auch behinderten Kindern und Jugendlichen eine Teilhabe an der „allgemeinen Menschenbildung“ zu gewähren. Zurück geht die Geschichte des Berliner Taubstummeninstituts auf das Jahr 1788, als dem Schwiegersohn Heinickes, Ernst Adolf Eschke (1766–1811), seitens des Königlichen Oberschulkollegiums die Erlaubnis erteilt wurde, mit dem privaten Unterricht von drei taubstummen Kindern beginnen zu können.


Ernst Adolf Eschke

E. A. Eschke, Sohn eines Steuereinnehmers aus Meißen, besuchte die „Churfürstlich-sächsische“ Schule „Afra“ in Meißen und schrieb sich mit 17 Jahren für das Studium der Rechte an der Universität von Wittenberg ein; er studierte ferner Theologie, Philosophie, Psychologie und Pädago- gik. Die ersten Begegnungen mit Gehörlosen soll Eschke anlässlich eines Besuches des k. k. Taubstummen-Instituts in Wien gehabt haben; ferner stand er im Briefwechsel mit Abbé de l’Epée in Paris. Eschke nahm auch an Unterrichtshospitationen in Leipzig teil, wo er in einer Tochter Heinickes seine spätere Ehefrau fand. Auf Empfehlung Heinickes ging das junge Paar nach Berlin, um dort 1788 mit dem Privatunterricht Gehörloser zu beginnen.

Berliner Taubstummeninstitut

Unter Berufung auf seinen Schwiegervater hatte sich Eschke in Berlin um die Einrichtung einer Taubstummenanstalt nach Leipziger Vorbild beworben, was aber zunächst abgelehnt wurde mit dem Hinweis auf die fehlenden Finanzmittel, die zur Hebung des Bildungsstandes der Landschulen gebraucht würden. Eschke betrieb wie seine Vorbilder Heinicke und de l’Epée eine rege Öffentlichkeitsarbeit, und er wurde nicht müde, in immer neuen Anträgen an die behördlichen Stellen eine Erweiterung seines Instituts, die Anerkennung als gemeinnützige öffentliche Anstalt und damit die Übernahme der Kosten zu erwirken. Im Jahre 1798 war es endlich so weit. Der König bewilligte den Kauf eines Hauses in der Linienstraße zwischen dem Rosenthaler und Hamburger Thor. Er ernannte Eschke zum Direktor auf Lebenszeit mit einem anständigen Salär, und das Institut hieß fortan „Königliches Taubstummen-Institut zu Berlin.“ Die Zöglinge, die Eschke in seinem Institut aufnahm, gehörten drei unterschiedlichen Kategorien an. Es handelte sich um:

➥ königliche Zöglinge,

➥ königliche Freischüler und

➥ Privatzöglinge.

Während die königlichen Zöglinge sowohl Unterricht als auch Aufenthalt kostenlos erhielten, waren die Freischüler lediglich von den Gebühren für den Unterricht befreit; die Privatschüler schließlich nahm Eschke auf eigene Rechnung auf.

Der Erfolg eines geglückten Anfangs darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der erste Unterricht Taubstummer nur den berühmten Tropfen auf den heißen Stein bedeutete. Immer wieder mussten Aufnahmegesuche wegen fehlender Plätze abgelehnt werden und Eschke musste sich gegen permanente Überlastung zur Wehr setzen. Sehr unverblümt schrieb er in seiner Schrift „Taubstummen-Institut zu Berlin“ aus dem Jahre 1806:


„Das Taubstummeninstitut ist weder ein Armen- noch ein Waisenhaus, und es hat nicht die mindeste Verpflichtung, jeden unvermögenden verwaisten Taubstummen aufzunehmen. Es hat ganz und gar keinen Fonds dazu, daher ist es nicht bloß Unbilligkeit, nein es ist Unverschämtheit, wenn man mir zumutet, auf meine Kosten für eines Taubstummen Ernährung und Bekleidung zu sorgen. Man warf einst Heinicke vor, daß er einen armen verwaisten Hirtenknaben nicht ohne hundert Taler jährlich in sein Taubstummeninstitut habe aufnehmen wollen. Man nannte dies Benehmen hart, lieblos uff. und ihn selbst einen Menschenfeind. Ganz mit Unrecht. Heinicke tat, was er nur tun konnte, er opferte bei dieser Bedingung sich selbst auf; und man zeige mir doch den Menschenfreund, dem es gemütlich ist, jede unbemittelte Waise zu ernähren! Auch bei mir nimmt man so oft meine Menschenliebe in Anspruch; ja, wenn diese Speise, Trank, Schuhe und Kleider herbeischaffen könnte, so sollte es herzlich gern geschehen. – Künftig verbitte ich mir dergleichen Anträge und werde sie gar nicht beantworten. – Wie kann man vergessen, daß die Taubstummen sowenig als die Paradiesvögel von Blumendüften leben können, und daß der Mann, der herzlich gern sie ohne Entgelt unterrichtet, unter allen Menschen in der Welt dem Hungersterben am nächsten sein würde, wenn er sie auch ohne Entgelt beköstigen und kleiden wollte?“ (Eschke 1912, 477)

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