Kitabı oku: «Die Begine und der Siechenmeister», sayfa 4

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Kapitel 9

Lazarus schlug die Tür seiner Zelle zu und lehnte sich heftig atmend mit dem Rücken dagegen. Die Begegnung mit Anna hatte all seine Vorsätze, all seine Schwüre schneller ins Wanken gebracht, als er befürchtet hatte. Ihr Anblick riss alle Barrieren nieder, die er errichtet hatte, um sich vor einem weiteren Bruch seines Gelübdes zu schützen. Sie war so wunderschön! Ihre Augen schienen bis auf den Grund seiner Seele zu blicken und der Schmerz darin tat ihm mehr weh als alle Leibstrafen, die ihm drohten, sollte er nochmal gegen die Regeln des Ordens verstoßen. Warum konnte sie nicht verstehen, dass sie die Prüfung war, die Gott ihm auferlegt hatte? Sie war die Versuchung, der er widerstehen musste, wenn er nicht bis in alle Ewigkeit im Fegefeuer brennen wollte. Mit einem Stöhnen rutschte er zu Boden und vergrub das Gesicht zwischen den Knien.

»Barmherziger Gott, bewahre mich vor meinen unreinen Gedanken, führe mich und gib mir die Kraft, stark zu bleiben«, betete er. »Lass einen Sünder nicht allein in seiner Not.« Einen Moment lang war er versucht, sich einem der anderen Brüder in der Beichte anzuvertrauen, doch etwas hielt ihn davon ab. Es war nichts geschehen zwischen ihm und Anna. Er musste sich damit abfinden, dass er sie vom heutigen Tag an immer wieder sehen, sich Seite an Seite mit ihr um die Kranken kümmern würde. Sie war eine Begine! »Warum, Herr?«, fragte er tränenerstickt. »Warum lässt du mich wanken im Glauben?«

Er erhielt keine Antwort.

Dennoch saß er lange Zeit reglos auf dem Boden und betete weiter, bis ihm die Beine einschliefen. Mühsam rappelte er sich auf, verstaute das Weihwasser und die Säckchen mit der Asche, dem Salz und den Kräutern und fuhr sich mit dem Ärmel seines Habits übers Gesicht. Er fühlte sich ausgelaugt und leer, beinahe so, wie er sich kurz nach seiner Ankunft in Rom gefühlt hatte. Es gab einen Grund, dass Gott ihn so prüfte. Vielleicht wollte Er ihm damit Seine Güte und Sein Vertrauen zeigen. Lazarus straffte die Schultern, öffnete nach kurzem Zögern die Tür und trat auf den Gang. Dann verließ er das Hauptgebäude, um in der Dürftigenstube nach dem Rechten zu sehen. Seine Arbeit als Siechenmeister wartete auf ihn.

Als er kurz darauf das Spital betrat, schlug ihm der wohlbekannte Geruch von Schweiß, Urin und Blut entgegen. Wie immer waren sämtliche Betten mit Bedürftigen belegt, die entweder fieberten, an Durchfall oder anderen Krankheiten litten. Auch zahlreiche Handwerker der Münsterbaustelle wurden vom Wundarzt zusammengeflickt, begleitet von Ausdrücken, die den Magister Hospitalis mit Entsetzen und frommer Empörung erfüllt hätten.

»Bruder Lazarus«, begrüßte ihn der Wundarzt. »Du bist wieder da.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

Lazarus nickte.

»Gut.« Der Wundarzt schien noch etwas hinzufügen zu wollen, schluckte die Worte jedoch. Stattdessen zeigte er auf einen Mann in einem Bett, dessen Laken steif waren von getrocknetem Blut. »Du solltest einen Blick auf ihn werfen. Ich musste ihm die Beine abnehmen, aber ich fürchte, er wird es nicht überstehen.«

*

Nachdem Anna den Säugling zurück in die Stube der Wöchnerinnen gebracht hatte, ließ sie die Mutter mit dem Kind und einer Amme allein und ging zurück in die Dürftigenstube. Schon beim Betreten der großen Halle sah sie Lazarus und den Wundarzt, die sich über den armen Tropf beugten, der seine Beine verloren hatte. Anna warf einen Blick an die Decke des Kreuzrippengewölbes und sandte ein kurzes Gebet zum Himmel, in dem sie um Stärke flehte. Sie durfte sich vor den Insassen nicht anmerken lassen, was sie empfand. Da das Stundengebet der Non bald beginnen würde, herrschte schon wieder reger Betrieb in der Stube. Mägde und Knechte halfen den Kranken beim Ankleiden, von denen sich einige lautstark jammernd beklagten. Manche waren so schwach, dass sie zum Ausgang getragen werden mussten, andere humpelten auf Krücken. Wieder andere wirkten auf Anna vollkommen gesund und würden vom Spitalmeister im Anschluss an den Kirchgang gewiss zum Holzhacken, Kehren oder zu anderen Arbeiten eingeteilt werden. Nur diejenigen, die zu krank oder zu schwach waren, durften in ihren Betten bleiben, die sie sich oft zu zweit teilten.

Annas Blick fiel auf den Amputierten. Für ihn würde der Gang zur Spitalkirche ausfallen, da sein Gesicht inzwischen grau und eingefallen war. Obwohl ihr Verstand ihr riet, sich so weit wie möglich von Lazarus fernzuhalten, wurde sie beinahe magisch von dem Sterbenden angezogen.

»Wie geht es ihm?«, fragte sie, als sie das Bett erreichte.

Lazarus zuckte beim Klang ihrer Stimme kaum wahrnehmbar zusammen. Er schien sie nicht kommen gesehen zu haben.

»Ich fürchte, er stirbt«, erwiderte der Wundarzt. »Ich kann nichts mehr für ihn tun. Vielleicht gibt es eine Arznei, die ihn kräftigen kann, sonst helfen ihm nur noch Gebete.«

Lazarus beugte sich über den Mann, fühlte seinen Aderschlag und schüttelte schließlich den Kopf. »Es ist kaum mehr Leben in ihm. Seine Seele ist bereit für die Reise.«

Obwohl Anna Mitleid für den Mann empfand, war sie erleichtert, dass ihm weitere Qualen erspart blieben. Der Gedanke daran, was für unglaubliche Schmerzen er erdulden musste, sollte er das Bewusstsein wiedererlangen, war schlimmer als die Vorstellung, dass er Frieden im Tod fand.

»Hat man ihm die Beichte abgenommen?«, erkundigte sich Lazarus.

Der Wundarzt nickte.

»Dann kann ich nichts weiter für ihn tun, als für ein schnelles Ende zu beten.« Lazarus zog sich einen Schemel heran und setzte sich neben das Lager, während die Glocken der Spitalkirche anfingen zu läuten. »Du solltest besser zum Gebet gehen«, riet er, ohne Anna anzusehen. »Ich komme hier allein zurecht.«

Sein barscher Ton verletzte Anna. Ohne etwas zu erwidern, kehrte sie dem Lager des Sterbenden den Rücken und verließ die Dürftigenstube. Draußen strömten die Insassen aus allen Gebäuden zur Kirche. Nur in der Nähe der Fuhrwerke und schweren Gerätschaften hatte sich eine kleine Menschentraube um einen Mann gebildet, der mit wilden Gesten etwas erzählte. Obwohl Anna Besserung gelobt hatte, regte sich ihre Neugier. Bevor ihre Vernunft sie davon abhalten konnte, näherte sie sich der Gruppe und blieb in Hörweite stehen.

»Das ist Teufelswerk, sage ich euch!«, raunte einer der Zuhörer. »Wer sonst sollte so etwas Grässliches tun?«

»Bist du sicher, dass man dir keinen Bären aufgebunden hat?«, fragte eine Magd.

Der Mann, um den sich alle geschart hatten, nickte. »Ich bin selbst an der Wiese vorbeigekommen.« Er sah zum Himmel, an dem seit einigen Stunden die Sonne lachte. Vergessen war der dichte Nebel des Morgens. »Gott ist mein Zeuge!«

»Und du hast es mit eigenen Augen gesehen?«

Er nickte. »Die Wachen haben es aus dem Trog gezogen.«

Mehrere Frauen schlangen schaudernd die Arme um sich.

»Vielleicht geht ein Menschenfresser um«, mutmaßte eine.

»Unsinn!«

»Woher willst du das wissen?«

»Wenn schon Schelmbein und Armsünderschmalz zauberkräftig sind …« Die Frau, die gesprochen hatte, bekreuzigte sich.

Anna runzelte die Stirn. Worum ging es? Als Schelmbein bezeichnete man die Knochen eines Hingerichteten, als Armsünderschmalz sein Fett. Diese Arme-Leute-Reliquien galten vielen Abergläubischen als heil- und zauberkräftig. Ein Diebesdaumen sollte gar Glück im Spiel bringen.

»Auf welcher Wiese war es denn?«, fragte ein Knecht, der sich zu der Gruppe gesellt hatte. »Ich will mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass du uns nicht zum Narren hältst.«

»Willst du behaupten, ich würde lügen?«, empörte sich der Mann in der Mitte.

Der Knecht schnaubte. »Du bist ein Wichtigtuer, das wissen wir alle.«

»Dann geh selbst zur Ziegenweide«, war die Antwort. »Ich will auf der Stelle tot umfallen, wenn ich gelogen habe.«

»Was soll das?«, ertönte die Stimme des Spitalmeisters, der mit wehendem Gewand auf die Gruppe zukam. »Was steht ihr hier rum und tratscht. Macht, dass ihr in die Kirche kommt!«

Anna beeilte sich, hinter eines der Fuhrwerke zu treten, damit der Magister Hospitalis sie nicht sehen konnte. Sie war ihm ohnehin ein Dorn im Auge, weil ihr Bruder, der Spitalpfleger, die Ordensbrüder zu immer mehr Sparsamkeit antrieb. Seit das Spital dem Rat unterstand, stritten die beiden regelmäßig wie zwei Kampfhähne. Sie beschloss, sich nach dem Stundengebet weiter umzuhören. Was der Mann erzählt hatte, klang erschreckend. Sie hoffte inständig, dass nicht schon wieder ein Mörder in der Stadt umging.

Kapitel 10

»Ich brauche Eure Hilfe!«

Johannes Schad, der zweite Bürgermeister der Stadt, musterte seinen Besucher mit hochgezogenen Brauen. Er saß in seinem Kontor und war dabei, sich einen Überblick über die Geldanlagen seines Vaters zu verschaffen. Seit er dafür gesorgt hatte, dass der verrückte Alte in ein Narrenhäuslein gesteckt worden war, hatte sich Johannes’ Besitz mehr als verdoppelt. Vieles steckte in Edelsteinen, Silbergeschirr und Häusern, er hatte bisher keine vollständige Liste des Grundbesitzes seines Vaters aufgestellt. Außerdem war er an einer Saline und der Silbergewinnung in Böhmen beteiligt. Hinzu kamen einige Verkaufsstände auf dem städtischen Markt, ein Schlachthaus, eine Mühle und eine Schmiede, die sein Vater vor einigen Jahren erstanden hatte.

Ärgerlich über die Unterbrechung legte Johannes den Federkiel beiseite und zeigte auf einen Sessel gegenüber seines Schreibtisches. Sein Besucher war ein Ratsherr, der vor einem Jahr zurück nach Ulm gezogen war.

»Es geht um meine … eine Frau«, sagte der Mann.

Johannes lächelte dünn. »Seid Ihr Eurer schon überdrüssig? Ihr habt sie doch erst vor Kurzem geheiratet.«

»Nein, nein.« Der Besucher schüttelte den Kopf. »Sie … Es ist …«, stammelte er.

Johannes lehnte sich zurück und verschränkte die Hände vor dem Bauch. Der Kerl war aufgeregt wie eine Jungfrau vor der Hochzeitsnacht. Auch wenn ihm der Besuch ungelegen kam, konnte er ihn zu seinem Vorteil nutzen. Es gab noch immer einige Mitglieder im Rat, die ihn voller Misstrauen beäugten. Die Anschuldigungen dieser verdammten Anna Ehinger und des Pfaffen waren nicht bei allen auf taube Ohren gestoßen. Hätte sein Prokurator nicht dafür gesorgt, dass die Anklage gegen ihn und seinen Vater fallengelassen worden war, säße er jetzt nicht in seinem Kontor. Obwohl er versuchte, sich zusammenzureißen, trieb ihm die Wut auf diese vermaledeite kleine Hure das Blut in die Wangen. Wenn sie dachte, dass sie ungeschoren davonkommen würde, irrten sie und ihr Bruder Jakob sich gewaltig. Dieser Mistkerl machte im Rat immer wieder Stimmung gegen Johannes, aber als zweiter Bürgermeister saß er am längeren Hebel. Wenn die Ehingers nicht aufpassten, war ihre Zeit als eine der angesehensten Familien der Stadt bald vorbei! »Warum kommt Ihr zu mir?«, fragte er.

Der Ratsherr sah ihn an und schien nach einer passenden Antwort zu suchen.

Johannes begriff. Er hatte all die Gerüchte gehört, das Gerede, dass vielleicht doch etwas dran war an den Anschuldigungen gegen ihn und seinen Vater. Eine Verurteilung hatte er abwenden können, aber gegen das Geschwätz der Ulmer konnte er nichts ausrichten.

»Ich habe gehört, dass Ihr Leute kennt, die …«

»Die was?«

»Die Arbeiten verrichten, die etwas schmutziger sind.«

Johannes lachte. »Ihr braucht einen gewissenlosen Handlanger? Wofür?«

»Nicht für das, was Ihr denkt!«, beeilte sich sein Besucher zu sagen. »Ich muss etwas herausfinden. Und dafür brauche ich einen verschwiegenen Mann.«

»Da kann ich Euch nicht helfen«, erwiderte Johannes kühl. Er würde den Teufel tun und einem Kerl, den er kaum kannte, einen Rat geben, der am Ende gegen ihn verwendet werden könnte.

»Ich benötige nur eine Information über jemanden.«

»Über eine Frau?«

Der Ratsherr nickte.

»Wo ist sie?«

»Im Beginenhof.«

Jakob horchte auf. »Sie ist eine von diesen gottlosen Weibern?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Sie hat dort in der Herberge Unterschlupf gefunden.«

»Warum interessiert Ihr Euch für sie?«

»Das ist eine Sache, die nur mich und Gott etwas angeht.«

»Dann kann ich Euch leider nicht helfen.« Johannes erhob sich und bedeutete seinem Besucher, dass die Unterredung beendet war. Wenn der Kerl ihm nicht traute, gab es für ihn keinen Grund, ihm zu helfen. Zwar war die Vorstellung, den Beginen auf irgendeine Art und Weise schaden zu können, verlockend, aber er würde ganz gewiss nichts tun, das ihn selbst in Schwierigkeiten bringen konnte.

»Wartet!« Der Ratsherr hob bittend die Hände. »Schwört, dass Ihr nichts von dem verraten werdet, was ich Euch jetzt anvertraue!«

Johannes überlegte nicht lange. Geheimnisse waren mehr wert als Gold. Wer das Geheimnis eines anderen kannte, hatte diesen in der Hand. Ob der Narr wusste, was er tat? Er hob die Hand und sagte: »Ich schwöre, bei Gott und allen Heiligen.«

»Dann hört gut zu.«

Kapitel 11

Als sich der lange Tag im Spital endlich dem Ende neigte, war Anna so erschöpft wie lange nicht mehr. Der Tod des Knaben, das Leiden des Amputierten, das besessene Kind und die Begegnung mit Lazarus hatten sie ausgelaugt. Sie fühlte sich innerlich leer und war froh, als es endlich Zeit war, das Spital zu verlassen. Die Dämmerung zog bereits am Horizont auf und brachte die Nebelschwaden zurück, als sie sich dem Tor näherte.

»Hier kannst du nicht durch«, ließ sie der Beschließer wissen.

Ein Fuhrwerk versperrte den Weg.

»Geh hinten raus!«

Wenig begeistert über den Umweg, begab Anna sich zurück in den größeren der beiden Höfe und machte sich auf zu einem der Gärten neben dem Friedhof. Dort angekommen, öffnete sie das Gartentor und ging über das niedergetretene Gras zum anderen Ende, wo ein kleiner, mit einer starken Tür gesicherter Durchgang auf eine Weide hinter dem Spital führte. Die Erinnerung an das letzte Mal, als sie diesen Ausgang benutzt hatte, schob sie beiseite, zog das Tor auf und trat auf die verlassen daliegende Wiese hinaus. Zu ihrer Rechten befanden sich uralte Bäume, die dicht beim Ufer der Donau wuchsen. Links von ihr führte ein kleiner Trampelpfad zu einem Gatter im Zaun. Vom Fluss her waren die Geräusche von Ruderschlag und schnatternden Enten zu hören, sonst herrschte eine beinahe gespenstische Stille auf der Weide. Weder Gänse noch Schafe waren zu sehen, vermutlich weil es in den Nächten inzwischen zu kalt wurde.

Mit einem Gefühl der Beklemmung raffte Anna die Röcke und stapfte durch das hohe Gras zu dem Pfad, dem sie bis zum Zaun folgte. Das, was sie vor dem Stundengebet gehört hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Wovon hatten die Knechte und Mägde gesprochen? Was hatte den Knecht so in Aufregung versetzt? Die Ziegenweide war nur einen Steinwurf entfernt, weshalb sie sich entgegen aller Vernunft nach Osten wandte, sobald sie das Gatter hinter sich geschlossen hatte. Was sollte das Gerede von einem Menschenfresser? Obwohl eine innere Stimme sie davor warnte, schlug sie das mahnende Gefühl in den Wind und machte sich auf zur Ziegenweide. Was sollte schon passieren? Vermutlich war es aufschneiderisches Geschwätz gewesen von einem Knecht, der sich wichtigmachen wollte.

Obwohl sie versuchte, sich das einzureden, nahm die Beklemmung zu, je näher sie der Weide kam. Nach kurzer Zeit erreichte sie den langgestreckten Flecken Gras, in dessen Mitte sich ein Wassertrog befand. Die Wiese lag verlassen da. Einerseits war Anna darüber erleichtert, andererseits beschlich sie eine leise Enttäuschung.

»Du kommst zu spät.«

Die Stimme ließ sie mit einem erstickten Laut herumwirbeln.

Ein Bursche, kaum älter als zehn Jahre, löste sich aus dem Schatten eines Baumes und starrte sie an. Er bohrte hingebungsvoll in der Nase. »Die sind alle schon längst weg.«

Anna fing sich wieder. »Hast du gesehen, was hier passiert ist?«, fragte sie.

Der Bengel zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.«

Anna sah ihn tadelnd an. »Ich bin eine Begine. Willst du mich belügen?«

Der Junge wirkte wenig beeindruckt. »Gib mir einen Pfennig, dann sag ich dir, was ich gesehen hab.« Er wandte den Kopf und sah zu dem Wassertrog. »Es ist aber ziemlich unheimlich.«

Anna überlegte nicht lange, holte einen Pfennig aus der Tasche und drückte ihn dem Bengel in die Hand. »Also?«

»Paul hat einen Kopf gefunden.«

Anna blinzelte. »Was?«

»Paul, der Ziegenhirte.« Der Junge holte den Finger aus der Nase und betrachtete ihn eingehend, ehe er ihn in den Mund steckte. »Da drin war ein Kopf.« Er zeigte auf den Trog.

»Ein Ziegenkopf?«

»Nö. Ein Kopf von einem Kind.«

Anna griff nach einem der Pfosten, um sich festzuhalten. »Lüg mich nicht an!«, flüsterte sie.

»Ich lüg dich nicht an«, verteidigte sich der Junge. »Die Wachen waren hier und haben den Kopf aus dem Wasser gefischt.« Er grinste. »Es sah echt gruselig aus. Die Augen waren ganz …«

»Sei still!«, fiel Anna ihm ins Wort.

»Den Rest von dem Kind haben sie nicht gefunden«, setzte der Bengel hinzu. »Den hat bestimmt ein Menschenfresser mitgenommen.«

Jetzt war wenigstens klar, woher das Gerede von einem Menschenfresser kam. Sicher ging das Gerücht inzwischen durch die ganze Stadt. »Es gibt keine Menschenfresser«, sagte Anna.

»Stimmt gar nicht! Paul hat erwähnt, dass er einen kennt, der gehört hat, dass man stark wird, wenn man das Fleisch von einem Mörder isst!«

Anna schüttelte entsetzt den Kopf. Das war barer Unsinn, schlimmer Aberglaube, der in manchen Köpfen herumspukte. Für viele der einfachen Leute galten das Blut, die Knochen, das Fleisch und die Haut von Hingerichteten als heil- und glücksbringend. Manche erzählten sich gar, dass die Eigenschaften der Toten auf den übertragen wurde, der von ihnen aß oder trank. Die Vorstellung, dass jemand ein Kind wegen eines solch falschen Glaubens getötet hatte, erfüllte Anna mit Grauen.

»Der Henker war auch da«, ließ der Bengel sie wissen.

»Der Henker?«

Er nickte.

Anna vermutete, dass die Wachen ihn gerufen hatten, um eine Leichenschau vorzunehmen. Allerdings gab es den Worten des Jungen zufolge nicht viel, das man hätte untersuchen können.

»Es sah wirklich furchtbar aus«, wiederholte der Bursche mit sichtlicher Freude an Annas Entsetzen. »Wenn du mir noch einen Pfennig gibst, beschreibe ich dir alles ganz genau.«

Anna wandte sich kopfschüttelnd ab. »Geh nach Hause«, murmelte sie, warf einen letzten Blick auf den Wassertrog und eilte in die Richtung davon, aus der sie gekommen war. Es war ein dummer Einfall gewesen, zur Ziegenweide zu gehen. Jetzt hatte sie Bilder im Kopf, die sie nicht mehr loswerden würde. So schnell sie konnte, legte sie den Weg von der Ziegenweide bis zur Beginensammlung zurück und atmete auf, als sich das Tor hinter ihr schloss. Auch wenn sie diesen Geschichten nicht glaubte, beschlich sie ein ungutes Gefühl.

»Schwester Anna!«, begrüßte die Meisterin sie, als sie das Wohngebäude betrat. »Gertrud hat nach dir gefragt.«

»Geht es ihr besser?«, wollte Anna daraufhin wissen.

Die Meisterin wiegte den Kopf hin und her. »Ihr Fieber ist immer noch hoch. Ich habe mir ihre Verletzungen angesehen und mache mir Sorgen um sie. Aber sie wollte sich mir nicht anvertrauen.« Ihr war anzusehen, dass diese Tatsache sie mit Verdruss erfüllte. »Vielleicht kannst du ihr Vertrauen gewinnen. Sie hat sich mehrmals nach dir erkundigt.«

Anna konnte sich vorstellen, dass die strenge Gegenwart der Meisterin eine Frau, die offensichtlich Geheimnisse hatte, nicht dazu ermunterte, ihr Herz zu öffnen. Obwohl sie müde und hungrig war, brachte sie den leeren Korb in die Kräuterküche und begab sich in die Herberge, wo sie Gertrud schlafend in ihrer Kammer antraf. Ihr Gesicht wirkte friedlich trotz der dunklen Schatten unter ihren Augen.

»Gertrud?« Sie setzte sich auf die Bettkante und fasste der Kranken sanft an die Schulter.

Die fuhr mit einem Schrei aus dem Schlaf auf und fing an, um sich zu schlagen und zu treten. »Geht weg!«, keuchte sie.

»Gertrud, ich bin es!«, rief Anna erschrocken aus. Sie sprang von der Bettkante auf, um sich vor dem Angriff in Sicherheit zu bringen. »Gertrud!«

»Was …?« Als der Blick der Frau auf Anna fiel, trat Verstehen in ihren Blick. Beschämt ließ sie die Hände sinken und zog die Decke hoch, die im Eifer des Gefechts heruntergerutscht war. »Ich dachte …« Sie verstummte.

»Du wolltest mich sprechen?« Anna wagte sich wieder näher an das Lager.

Gertrud blinzelte verwirrt.

»Die Meisterin hat gesagt, du hättest nach mir gefragt.«

Es dauerte eine Weile, bis Gertrud nickte. »Du bist die Tochter eines Ratsherrn?«

Anna nickte. »Warum willst du das wissen?«

»Kennst du die anderen Ratsmitglieder?«, war die Gegenfrage.

Anna schüttelte den Kopf. »Nur einige wenige. Ich verkehre nicht in diesen Kreisen.«

»Aber du hast doch bestimmt jemanden, den du fragen könntest«, beharrte Gertrud.

»Weshalb?«

»Vielleicht ist es nicht wichtig«, wiegelte sie ab. »Aber falls der Herr mich zu sich nimmt …«

»Du wirst nicht sterben!« Anna griff nach ihrer Hand. Sie war heiß und feucht. »Wir kümmern uns um dich!«

Gertrud lächelte traurig. »Die Wege des Herrn sind unergründlich«, murmelte sie.

»Soll ich jemandem eine Nachricht von dir überbringen?«, bot Anna an.

Gertrud überlegte einen Augenblick, ehe sie verneinte. »Aber du könntest mir dennoch einen Gefallen tun.«

Anna sah sie fragend an.

»Frag nach Magnus Ungelter«, bat Gertrud.

»Wer ist das?«

»Ein Ratsherr.«

»Soll ich ihn zu dir bringen?«

»Nein!« Gertrud schüttelte heftig den Kopf. »Ich will nur wissen, wie es ihm geht.«

Anna runzelte die Stirn. »Ist er ein Verwandter von dir? Dein Bruder?«

Gertrud schwieg. »Tust du mir den Gefallen?«

Anna nickte.

»Er darf aber auf keinen Fall wissen, wer sich nach ihm erkundigt!« Etwas, das Anna nicht genau benennen konnte, schwang in ihrer Stimme mit. »Versprichst du mir das?«

Obwohl Anna sich nicht sicher war, ob es klug war, so etwas zu versprechen, tat sie, was von ihr verlangt wurde. Hoffentlich brachte sie sich damit nicht erneut in Schwierigkeiten!

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Litres'teki yayın tarihi:
26 mayıs 2021
Hacim:
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ISBN:
9783839267264
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