Kitabı oku: «Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer», sayfa 4

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1.4 Blinde Flecken der Bündner Geschichte

Bei der Gemeinde hat man es mit einem der prominentesten Gegenstände der Bündner Geschichte zu tun. Deshalb müsste, so der Frühneuzeithistoriker Jon Mathieu, eine vollständige Liste der Darstellungen zum Thema «wohl fast alle umfassen, die sich irgendwie mit Bündner Geschichte in unserem Zeitraum beschäftigten».114 Mathieus Einschätzung gilt indes nicht nur für die Frühneuzeit, wenn auch seiner Bemerkung etwas – vielleicht ungewollt – Typisches anhaftet: Die Bündner Geschichtsforschung ist bis heute tendenziell auf die Frühe Neuzeit und das (Spät-)Mittelalter fokussiert.115 Untersucht wurden vor allem die im 15. Jahrhundert entstandenen Gerichtsgemeinden und ihre kleineren Einheiten, die Nachbarschaften.

Dabei hatte man es in Graubünden lange «mehrheitlich mit einem von historisch interessierten Juristen geprägten Geschichtsbild […]»116 zu tun. Insbesondere für eine Geschichte des Dualismus zwischen politischer Gemeinde und Bürgergemeinde sind diese Darstellungen wichtig, da sie die Entwicklung von den Nachbarschaften zu den modernen (Bürger-)Gemeinden miteinbezogen und Fragen der Gemeindeautonomie erstmals hier auftauchten. Oft nahmen die historisch argumentierenden Juristen sogar explizit Stellung zu den zeitgenössischen Problemen des rechtlichen Verhältnisses zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen. Es scheint daher sinnvoll, diese Untersuchungen bis in die 1970er-Jahre als Quellen für eine Abgrenzungsgeschichte der Bündner Gemeinden heranzuziehen.

Wie sieht es demgegenüber mit der neueren Bündner Geschichtsforschung aus? Aus einem gewissen zeitlichen Abstand behandelte Peter Metz’ Geschichte des Kantons Graubünden Anfang der 1990er-Jahre politik- und verfassungsgeschichtlich die Entstehung des Niederlassungsgesetzes von 1874 und einige Aspekte des damit gekoppelten Konflikts um die Bürgergemeinden.117 Im Gegensatz dazu lassen das vierbändige Handbuch der Bündner Geschichte118 (2000) oder der Sammelband Gemeinden und Verfassung119 (2011) das Phänomen «Bürgergemeinde» praktisch gänzlich ausser Acht. Wenig mehr als statistisches Datenmaterial zum Thema liefert Adrian Collenbergs wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchung von Trun, Andeer und Saas im Prättigau.120 Andere, über die Einzelgemeinde hinausgehende kultur- oder sozialgeschichtliche Monografien der modernen Bündner (Bürger-)Gemeinden fehlen.121 Das bedeutet auch, dass die spezifisch ortsbürgerlichen Werte und Praktiken im Bereich der Einbürgerungs-sowie der Boden- und Wasserrechtspolitik bisher nicht Gegenstand der Bündner Forschung waren.122 Für die Einbürgerungspolitik rücken damit die umfangreichen Studien zum Schweizer Bürgerrecht in den Fokus. Diese bieten eine wertvolle Grundlage für den Vergleich der Einbürgerungspolitik der Bürgergemeinden mit jener des Bundesstaats, konzentrieren sich jedoch in den Fallbeispielen ausschliesslich auf die grossen Schweizer Städte.123

Aus Bündner Sicht ist für eine Gemeindegeschichte schliesslich die Lokalgeschichte zu erwähnen, die immer einen populären Anspruch hat. Das Spektrum ist gross und reicht von Friedrich Pieths Das alte Seewis von 1910 (ohne Berücksichtigung der Zeit nach 1800) bis zu Paul Eugen Grimms detaillierter Studie über Scuol (2012). Ortsgeschichten, die im Auftrag der Bürgergemeinde geschrieben wurden, gibt es in Graubünden nur ganz vereinzelt. Sie beschreiben vor allem Rechtsverhältnisse und Sachgeschäfte der Vergangenheit.124 Der grosse Rest der über 65 Gemeindemonografien Graubündens125 liefert vereinzelt Rohmaterial für eine Abgrenzungsgeschichte der Bündner Gemeinden. Zahlreiche Gemeindegeschichten enthalten wichtige historische Basisdaten zum Organisationsgrad der Gemeindebürger oder zur Einbürgerungspolitik. Gemeindemonografien sind demnach je nach Alter und Wissenschaftsgrad auf einem Kontinuum zwischen Darstellung und Quelle anzusiedeln.

Nichtsdestoweniger fristet die Bürgergemeinde in der aktuellen Bündner Geschichtskultur eindeutig eine Randexistenz. Nimmt man knappe Übersichtsdarstellungen wie das Historische Lexikon der Schweiz zur Hand, spielt die Bürgergemeinde selbst in Artikeln zu Gemeinden mit den historisch (oder aktuell) bedeutendsten Bürgergemeinden – Chur, St. Moritz, Domat/Ems – höchstens beiläufig eine Rolle.126 Ein ähnliches Bild bietet ein Überblick über den Stand der Forschung in der übrigen Schweiz. Aus Schweizer Sicht sind zahlreiche Darstellungen zum Thema meist neuere Lokalgeschichten der Bürgergemeinde über sich selbst, viele mit aufklärerischem Gestus.127 Hinzu kommen einzelne rechtshistorische Abhandlungen zum Gegenstand der Bürgergemeinde.128

Die bisher einzige kulturhistorische Darstellung der Bürgergemeinde nach 1874129 ist Katrin Rieders medial breit rezipierte Dissertation Netzwerke des Konservatismus von 2008. Ihre Analyse macht von Anfang an deutlich, dass die Burgergemeinde Bern als Bollwerk dem konservativen Berner Patriziat die politische, gesellschaftliche und kulturelle Vorrangstellung sicherte.130 Einen etwas differenzierteren Blick verspricht der jüngst erschienene Sammelband Von Bernern und Burgern. Tradition und Neuerfindung einer Burgergemeinde.131

Schliesslich habe ich angedeutet, dass Bürgerlichkeit ein möglicher Schlüssel ist, um die Bedeutung der Bündner Bürgergemeinden in der Bündner Gesellschaft zu erklären. Damit rückt das freisinnig-liberale Bürgertum als jene «kulturelle Formation» in den Fokus, die als Motor der Verbürgerlichung gilt. Bürgerlichkeit als eine bestimmte Form von (politischer) Kultur ist in der Bündner Historiografie jedoch eine noch gänzlich unbekannte Grösse. Die zahlreichen Studien, die sich mit dem öffentlichen Engagement der in den meisten Fällen reformiert-bürgerlichen Bündner Oberschicht in der Moderne befassen, haben die Entstehung eines durch bestimmte kulturelle Ausprägungen verfassten Bürgertums bisher ausser Acht gelassen.132 Als konzeptionelle Basis dient mir deshalb die umfangreiche Forschung aus dem deutschsprachigen Raum, deren bürgerlicher Wertekanon ein «in allen europäischen Mittelschichten verbreitetes Kulturmuster» war.133 Als Gegenfolie sollen Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit jener politischen Kultur herausgearbeitet werden, die neben dem bürgerlichen Freisinn in erster Linie die Bündner Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt hat: der politische Katholizismus.134 Für diesen liefern die Studien von Ivo Berther II mund sutsura. Die Welt steht Kopf135 und Urs Altermatts Katholizismus und Moderne136 die Ausgangspunkte. Das heisst nicht, dass das Bürgertum in katholischen Regionen keine Rolle gespielt hätte. Doch für ihre historisch viel geringere Wirkmächtigkeit innerhalb des katholischen Milieus spricht allein bereits, dass die Forschung in der Schweiz neben dem städtischen zwar das ländliche, nicht aber das katholische Bürgertum untersucht hat.137

Schliesslich hat sich bislang für die Zeit nach dem Inkrafttreten des Niederlassungsgesetzes von 1874 weder die Bündner Geschichtswissenschaft noch die Bündner Volkskunde etwaigen Abgrenzungsmechanismen ausserhalb der kantonalen oder kommunalen Gesetzgebung angenommen, sodass diese Untersuchung auf diesem Gebiet einige erste Schritte wird machen müssen.138

1.5 Die Quellenlage

Eine Abgrenzungsgeschichte der Bündner Gemeinden nimmt nicht zuletzt aufgrund der Quellenlage eine bestimmte Form an. Für die Zeit vor dem Erlass des Niederlassungsgesetzes von 1874 wird der politische Konflikt um die Rechte von Gemeindebürgern und Niedergelassenen fast ausschliesslich in Quellen fassbar, die im Kontext der Churer Stadtpolitik entstanden sind, so in einzelnen Petitionen, Verwaltungsberichten oder -vorschlägen, einer selbstständigen Publikation und in einer Reihe von Zeitungsartikeln.

Mit Inkrafttreten des Niederlassungsgesetzes Anfang 1875 öffnet sich der Fokus. Da nun sämtliche Bündner Gemeinden ihre Verfassung dem höheren Recht anpassen mussten, kann die Diskussion in der Tagespresse mit zahlreichen Gemeindeverfassungen, Petitionen, Gemeindeprotokollen und Angaben aus neueren Gemeindemonografien ergänzt werden.

Mit den Bürgerinitiativen der 1890er-Jahre tauchen erneut selbstständige Publikationen in Form von kurzen Broschüren oder Rundschreiben auf, virulent wird das Problem wiederum in der Auseinandersetzung in den zahlreichen Tageszeitungen des Kantons.

Auch die weitere Geschichte des Streits um Eigentumsrechte und Kompetenzen in den Bündner Gemeinden gibt die Auswahl der Bürgergemeinden gleichsam vor: Der Quellenkorpus für die vor dem Kleinen Rat (der Bündner Regierung) und vor dem Grossen Rat ausgefochtenen Rekurse der 1920er- und 1930er-Jahre setzt sich auf Gemeindeebene hauptsächlich aus Korrespondenzen zusammen, dazu kommen zahlreiche Zeitungsartikel. Neu sind für die Zeit nach 1900 rechtshistorische Untersuchungen in Form von Monografien, Zeitschriften- und Zeitungsartikel, die den Entwicklungsgang der Gemeindegeschichte seit der Frühen Neuzeit im Fokus haben. Im Vorfeld der Abstimmung um das Gemeindegesetz vom Frühling 1945 tauchen mit Flugblättern, Zeitungsinseraten und Vorträgen neue Textsorten auf. Im Quellenbestand des 1946 gegründeten Verbandes Bündnerischer Bürgergemeinden, der in einer institutionellen Vorform bereits den Kampf gegen das Gemeindegesetz organisiert hat, befinden sich zahlreiche Korrespondenzen und Sitzungsakten der engagierten Gemeindevertreter. Die für eine Geschichte des Streits um Eigentumsrechte und Kompetenzen in den Bündner Gemeinden wichtige Kantonsebene liefert dafür die Verhandlungen des Grossen Rates und die dazugehörigen Berichte, Rekursentscheide des Kleinen und Grossen Rates, ferner Korrespondenzen und die Landesberichte des Kleinen Rates.

Dagegen muss eine Abgrenzungsgeschichte unter der Perspektive der Einbürgerungs- sowie der Boden- und Wasserrechtspolitik angesichts der bis Anfang der 1970er-Jahre noch knapp 220 geografisch weitverstreuten Gemeinden139 im Kanton Graubünden notwendigerweise exemplarisch bleiben. Einerseits wurden die entsprechenden Bestände aus den bereits konsultierten Gemeindearchiven ausgewertet, andererseits wurden – nicht ohne eine gewisse Willkür der Auswahl – weitere Gemeindearchive ergänzend hinzugezogen, wobei jedoch die Konzentration auf Knotenpunkte der wirtschaftlichen Entwicklung bei der Boden- und Wasserrechtspolitik die Auswahl der infrage kommenden Gemeinden stark eingeschränkt hat. Im Fokus stehen Einbürgerungsgesetze, Korrespondenzen, Gemeindeprotokolle, Botschaften zu Handen der Bürgerversammlung, Reden, Vorträge und Zeitungsartikel. Des Weiteren erlaubt es die 1965 vom Staatsarchiv Graubünden publizierte Einbürgerungsstatistik, Aussagen über alle Gemeinden des Kantons zu treffen. Beim Versuch am Ende dieser Untersuchung, eine Geschichte der Gemeindebürger und Nichtgemeindebürger in den Vereinen und im Brauchtum zu skizzieren, gestaltet sich die Quellenlage schwieriger: Zu den Bürgervereinen Chur und Igis sind für den Untersuchungszeitraum nur wenige Quellen überliefert. Schriftliche Quellen zum Ausschluss der Niedergelassenen in der Praxis des Brauchtums gibt es nur sehr vereinzelt. Für die Dominanz der Gemeindebürger in anderen Vereinen wurden vor allem gedruckte Mitgliederlisten einer mehr oder minder zufälligen Auswahl von Organisationen konsultiert – die Auswahl liesse sich hier mühelos vergrössern.

Eine grosse Menge der ungedruckten Quellen ist in Chur greifbar: Den ergiebigsten Bestand liefert das Archiv der Bürgergemeinde Chur, das auch das Archiv des Verbandes Bündnerischer Bürgergemeinden beherbergt. Ein wichtiger Teil des Quellenkorpus befindet sich im Staatsarchiv Graubünden. Ausserhalb Churs kamen vor allem die (Bürger-)Gemeindearchive von St. Moritz, Thusis, des Bergells, Landquart, Domat/Ems, Disentis/Mustér und Sils i.E./Segl, ferner das Churer Stadtarchiv, das Privatarchiv der Familie Sprecher von Bernegg in Maienfeld und das Kulturarchiv Oberengadin zum Zug. Der Grossteil dieses Textmaterials stammt aus dem deutschen Sprachgebiet Graubündens. Daneben werden zahlreiche rätoromanische Belege zitiert. Sie werden im Lauftext im Original wiedergegeben, die Übersetzungen finden sich in den Fussnoten.

2 Vom Kommunalismus zur altrepublikanischen Gemeinde

Um eine Geschichte der modernen Bündner (Bürger-)Gemeinden erzählen zu können, ist eine fokussierte Darstellung ihrer Vorgeschichte vom Spätmittelalter bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts unerlässlich. Es geht dabei um die Genese einer vormodernen Form von Demokratie auf dem Gebiet des heutigen Kantons Graubünden, wie sie in ähnlicher Form auch auf dem Gebiet der eidgenössischen Landsgemeindeorte und der Walliser Zenden zu finden ist.

Im Brennpunkt dieser Darstellung stehen der Kommunalismus und die daraus entstandene alte – oder klassische – Form von Republikanismus am Übergang vom Spätmittelalter zum Freistaat der Drei Bünde. Dieses staatsstrukturelle Format ermöglicht es, die verschiedenen Formen der Exklusion und Inklusion der Hinter- und Beisassen,1 wie die Niedergelassenen bis ins 19. Jahrhundert genannt wurden, in den Nachbarschaften theoretisch zu erfassen. Altrepublikanische Vorstellungen blieben im 19. und 20. Jahrhundert für die identitätsstiftenden Geschichtsbilder Graubündens konstitutiv.2 Diese «Rechtstradition» haben die Verfechter der Bürgergemeinden vielfach eingesetzt, um die Korporation der Gemeindebürger zu erhalten. Neben der korporativ verstandenen Partizipationsberechtigung hat sich im Besonderen die Gemeindeautonomie als enorm anschlussfähiges Fahnenwort erwiesen, das nicht nur im Bürgergemeinde-Diskurs politische Wirkmacht entfaltet hat.

Als Erstes werden die Hauptlinien der Entwicklung bis zur Etablierung des frühneuzeitlichen Freistaats skizziert, in der die grösseren Gerichtsgemeinden die Hauptrolle spielen. Dessen ungeachtet treten bereits einige Unterschiede zutage, die später für die «Abstufungen» in der modernen politischen Kultur Graubündens und damit für den unterschiedlichen Organisationsgrad der Gemeindebürger nach 1875 von Bedeutung sind.

2.1 Gemeindebildung im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit

Die politische Organisation auf dem Gebiet des heutigen Kantons Graubünden war im Spätmittelalter grundsätzlich von Adeligen und kirchlichen Herrschaftsträgern geprägt. Doch ähnlich wie in der Innerschweiz kann davon ausgegangen werden, dass die feudale Grundherrschaft und die damit verknüpften Rechte an den darin lebenden Personen spät, lückenhaft und nur oberflächlich realisiert werden konnte.3 Eine lokale, ländliche Gemeindebildung unter feudalrechtlichen Vorzeichen ist entsprechend bereits für das Hochmittelalter nachweisbar. Die abhängigen Bauern hatten die Möglichkeit, ihre inneren Verhältnisse selbst zu regulieren.4 Der Organisationsgrad dieser Nutzungsgenossenschaften stieg im 14. und 15. Jahrhundert stark an. Ihr Zweck bestand in erster Linie darin, die Nutzung des Gemeinlands, also Wald, Wasser, Weiden und Alpen, zu regeln. Der dafür notwendige Dorfvorsteher wurde von der Nachbarschaftsversammlung gewählt und musste auch Bestimmungen über Zäune, Mauern, Feldwege, Waschhäuser, Backöfen und anderes mehr durchsetzen. Die Eigenbetriebe der Feudalherren waren in der Regel nicht mehr als gewöhnliche Mitglieder dieser Nutzungsgenossenschaften.5

Die wirkmächtige «Epoche der Gemeinden» wurde um die Mitte des 14. Jahrhunderts aber von einem grösseren Gebilde eingeläutet.6 Als sich um 1350 die Herrschaftsgebiete des Churer Bischofs und des rätischen Hochadels verdichteten, bildeten sich die Gebiete der späteren Gerichtsgemeinden aus, die in der Regel mehrere Nachbarschaften umfassten. Diese Herrschaftsverdichtung durch die Feudalherren wäre wohl ohne die Mitwirkung «von unten» organisatorisch nicht möglich gewesen. Die von der Gemeinde vorgeschlagenen oder sogar gewählten Ammänner (rätorom. mistral/mastrel, in Südbünden podestà) und ihre Amtsleute vermittelten als Vorsitzende der niederen, das heisst zivilen Gerichtsbarkeit zwischen Feudalherren und Bauern. Bereits ab dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts tauchten als Verbände dieser Art die Walsergemeinden Rheinwald und Safien, Davos und Langwies unter ihren jeweiligen Feudalherren auf. Letztere behielten die Kriminalgerichtsbarkeit. Um 1350 findet man dann die ersten Talgemeinden unter dem Bischof von Chur (Oberengadin, Bergell), die obere Surselva unter dem Abt von Disentis, das Schamsertal unter den Werdenberg-Sargans.7

Nach Mitte des 14. Jahrhunderts bildete sich zwischen diesen Gerichtsgemeinden allmählich ein Bündnisgeflecht aus. 1367 versammelten sich Amtsleute aus den Gerichtsgemeinden des Bischofs, Vertreter des Domkapitels und der Stadt Chur, um gegen das Vorgehen des Bischofs zu protestieren, der seine landesherrlichen Rechte für acht Jahre den Herzögen von Österreich übertragen hatte.8 Bis um 1500 wuchs die Machtstellung dieses später Gotteshausbund genannten Bündnisses (Chur, Ober- und Unterengadin, Surses, Domleschg, Bergell) zuungunsten des Bischofs, woran vor allem der in den Gemeinden agierende lokale Dienstadel und die Stadt Chur beteiligt waren.9 Der Obere oder Graue Bund, der die Surselva und den heutigen Bezirk Moesa umfasste, war hingegen 1395 gegründet worden, um den Landfrieden zwischen dem Abt von Disentis und den Herren von Rhäzüns und Sax zu gewährleisten.10 Wiederum ohne die Beteiligung von Feudalherren wurde schliesslich der Zehngerichtebund (Davos, Prättigau, Schanfigg, Maienfeld, Malans, Churwalden, Belfort) nach dem Tod des letzten Toggenburger Landesherrn 1436 in Davos gegründet.11

In ihrer Zwischenstellung zwischen Landesherr und Gerichtsgemeinde profitierten der lokale Dienstadel und die übrigen herrschaftlichen Amtsinhaber am meisten von dieser Entwicklung. Am Beispiel der Familie Planta von Zuoz ist belegbar, dass diese Aufsteiger dank ihrer lokal-regionalen Verankerung und ihrem Profitstreben den Abstieg der Feudalherren mitbefördert haben.12 Die Planta übernahmen im 13. Jahrhundert das Amt des Ammanns, im 14. Jahrhundert kamen sie dann in den Besitz der Zoll-, Jagd- und Fischereirechte des Bischofs. Weitere liquide Mittel flossen aus Bergbau und Handel. Nach 1400 bemühten sie sich, ihre Machtstellung gegen den Bischof als herrschaftliches Erbe zu legitimieren.13

Der Aufstieg einer neuen lokalen Elite durch die politisch immer wichtiger werdenden Gerichtsgemeinden befeuerte gleichzeitig die Entwicklung der Drei Bünde. Einerseits verfestigten sich innerhalb der Bünde frühstaatliche Strukturen, etwa in Form von Satzungen, die auf eine stärkere Kontrolle der Bevölkerung abzielten. Andererseits integrierten sich die einzelnen Bünde nach 1450 durch eine Reihe von Bündnisverträgen miteinander, wobei diese oft ohne Beteiligung der formal immer noch herrschenden Feudalherren abgeschlossen wurden. An Bundstagen trafen sich Abgeordnete von rund 50 Gerichtsgemeinden, wobei wichtige Verhandlungsgegenstände wie Bündnisfragen und Kriegszüge den Gemeinden vorgelegt werden mussten. Nach 1461 wird erstmals ein Schiedsgericht für alle drei Bünde fassbar, anlässlich der ersten gemeinsamen Militäraktion 1486/87 eine erste Kriegsordnung.14 Überhaupt sind es im weitesten Sinn aussenpolitische Angelegenheiten, die als wichtiger Impuls der staatsorganisatorischen Verfestigung der Drei Bünde angesehen werden. Zum einen waren das Soldverträge mit Frankreich, zum anderen Bündnisverträge mit der Eidgenossenschaft. Diese ermöglichten beispielsweise ein gemeinsames Vorgehen gegen die expansive Politik der Herzöge von Österreich in der Schlacht an der Calven 1499.15

Schliesslich gaben sich die Drei Bünde mit dem Bundsbrief von 1524 eine eigene Verfassung. Dieser staatliche Überbau stellte staatsorganisatorisch nach wie vor «nur eine dünne Hülle dar».16 Die Gerichtsgemeinden blieben eigene kleine Republiken, der Aufbau des neuen Freistaats der Drei Bünde stark föderalistisch geprägt. Die Abgeordneten des Bundstags, der obersten Behörde des Staats, stimmten nur nach Instruktionen der 52 Gerichtsgemeinden. Abgestimmt wurde lediglich gemeindeweise. Neue Entscheide waren dem Referendum der Gerichtsgemeinden unterworfen.17

Nichtsdestotrotz waren die 1524/1526 vom Bundstag erlassenen Ilanzer Artikel eine wichtige Grundlage für den weiteren Ausbau zu einem neuen «Gemeindestaat» (Randolph Head). Privatrechtlich ins Gewicht fiel die Verminderung von Abgaben, die Zehnten waren nun ablösbar. Zentrale Bedeutung kam vor allem dem zweiten Artikelbrief zu. Er schloss den Bischof von allen politischen Geschäften der Drei Bünde aus. Die Gerichtsgemeinden erhielten darüber hinaus das Recht, eigene Geistliche zu wählen oder zu entlassen. Damit schuf dieses neue Landesrecht eine Voraussetzung für die Reformation.18 Diese setzte sich bis gegen Ende des 16. Jahrhunderts in rund 60 Prozent der Pfarreien durch. Katholisch blieben vor allem die obere Surselva, das Surses und das untere Albulatal sowie die Südtäler Misox und Calanca. Gemischtkonfessionell blieben das Puschlav, die mittlere Surselva und Teile des Bündner Rheintals.19

Es ist meines Erachtens nicht unwichtig zu sehen, dass das Kloster Disentis in der Surselva von den Verfügungen des zweiten Artikelbriefs gegen kirchliche Herrschaftsträger nur teilweise betroffen wurde.20 Insofern waren die Artikel tatsächlich ein Projekt von reformierten Aufsteigern in den Gerichtsgemeinden und von Churer Stadtbürgern, das in erster Linie gegen die umfangreiche Landesherrschaft des Bischofs gerichtet war.21 In der Gerichtsgemeinde Disentis/Cadi musste der Ammann noch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Kriminalgerichtsbarkeit vom Abt brieflich erbitten. Dieser Vorgang, wenn er auch nicht mehr öffentlich war, sagt einiges über den politischen Status des Abts aus – zumal die Krimimalgerichtsbarkeit für die Vorstellung staatlicher Macht essenziell war.22 Nicht anders ist die Funktion des klösterlichen Hofes in Trun als Versammlungsort des Grauen Bundes zu bewerten, wo der Abt als Zeremonienmeister und Gastgeber auftrat.23 In der Gerichtsgemeinde Disentis und der Gerichtsgemeinde Rueun behielt der Abt das Vorschlagsrecht bei der Wahl des Ammanns bis zu Beginn des modernen Kantons Graubünden, in Disentis beanspruchte er bis 1812 zudem an der Disentiser Landsgemeinde 30 Stimmen für sich.24 Eine derartige Verflechtung von Kirche und staatlichen Institutionen fällt auf, wenn man die Landesherrschaft des Bischofs (Chur, Vier Dörfer, Domleschg, Surses, Albulatal, Bergell, Oberengadin, mit Einschränkungen das Unterengadin) damit vergleicht. Diese wurde in wenigen Jahrzehnten nach 15 24, mit Ausnahme der Val Müstair, «neutralisiert»,25 wobei eine Mehrheit dieser Gerichtsgemeinden bis um 1580 zum neuen Glauben übertrat.26

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass trotz der ausgeprägten Heterogenität ein politisches Gebilde in Graubünden entstanden war, «that represented the most extreme example of communal and federal state-building to be found in Europe at the time».27 Von einigen rechtlichen Machtansprüchen überkommener Feudalherren wie dem Disentiser Abt abgesehen, war es einer neuen kommunalen Führungsschicht gelungen, neue politische Rahmenbedingungen zu konsolidieren.28 Bis Mitte des 17. Jahrhunderts besassen dann fast alle Gerichtsgemeinden sämtliche staatlichen Kompetenzen mit Ausnahme der Aussenpolitik.

Die Darstellung wird nun darauf zugespitzt, dass dieser im 16. Jahrhundert entstandene Kommunalismus auf die Nachbarschaften übergriff und dort die Exklusion der Hintersassen befördert hat. Anhand von Beispielen zur Stellung der Hintersassen werden die entstandenen «horizontalen» Ungleichheiten gut fassbar. In einem weiteren Schritt wird es darum gehen, die moderne Gemeindeautonomie und den Ausschluss der Niedergelassenen und Ausländer als altrepublikanische Relikte des frühneuzeitlichen Kommunalismus gegeneinander abzugrenzen.