Kitabı oku: «Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer», sayfa 5

Yazı tipi:

2.2 Die Nachbarschaften und der Ausschluss der Hintersassen

Bisher war lediglich davon die Rede, dass die Gerichtsgemeinden ihre Amtsleute selbst wählen oder zumindest vorschlagen konnten. Damit ist nur gesagt, dass die Macht prinzipiell «in der Gemeinde gründete».29 Es stellt sich nun die Frage, wer de jure und de facto an diesem föderalistisch-kommunalen Modell mit Gerichtsgemeinden und Nachbarschaften partizipierte.

Berühmt geworden ist Peter Livers teleologische Formel Vom Feudalismus zur Demokratie,30 die um 1930 in der Beseitigung des Feudaladels durch die «Volksherrschaft» das «demokratische Gemeinschaftsbewusstsein»31 am Werk sah.32 Livers Deklamation war ein später Höhepunkt einer bereits mit Heinrich Zschokke einsetzenden nationalliberalen Geschichtsschreibung, die sich ihrerseits aus der humanistischen These der Freiheitsentwicklung der Rätier speiste.33 Diese Art von Historiografie übersah die «korporativen und elitären Implikationen der Bündner Demokratie)» grosszügig.34 Während das elitäre Moment frühneuzeitlicher Politik in Graubünden für eine Geschichte der modernen Bündner Gemeinden weniger wichtig ist,35 soll im Folgenden der korporative Charakter des Bündner «Gemeindestaats» genauer ausgeleuchtet werden.

Für eine Geschichte der modernen Bündner Bürgergemeinden ist der Umstand von zentraler Bedeutung, dass in den gemeindlichen Verbänden ab dem Spätmittelalter neben den vertikalen vor allem horizontale Ungleichheiten ausgebildet wurden.36 So wie in anderen europäischen Ländern waren unter anderem Frauen und Fremde von der politischen Entscheidungsfindung ausgeschlossen. Im Freistaat der Drei Bünde bildeten sich auf mehreren Stufen Partizipationsberechtigungen aus, eine Art vormodernes «Bürgerrecht»37 der Nachbarschaften, der Gerichtsgemeinden, der Einzelbünde und des Gesamtstaats.38 Zunächst lohnt es sich, dafür das bisher nur implizit beschriebene Konzept des Kommunalismus zu schärfen, weil es die Voraussetzung für eine politische Organisationsform gebildet hat, die als altrepublikanisch oder klassisch-republikanisch bezeichnet wird und gerade auf der untersten Stufe die horizontalen Ausschlussmechanismen mitbefördert hat.

Peter Blickle hat sein am oberdeutschen Raum des Spätmittelalters entwickeltes Konzept des Kommunalismus auch am vormodernen Graubünden festgemacht, da sich in diesem Fall «belegen lässt, dass Stadt- und Landgemeinde Wesentliches dazu beigetragen haben, Formen des Republikanismus zu entfalten».39 Kommunalismus als Vorstufe des vormodernen Republikanismus fasst Blickle als weitgehenden Autonomiestatus von Städten und Dörfern, die Gesetzgebung, Verwaltung und den Vollzug von Strafen gemeinschaftlich regelten.40 Diese Freiheitsrechte waren korporativ definiert: «Berechtigung und Verpflichtung erwachsen aus der selbstverantworteten Arbeit als Bauer und Handwerker im genossenschaftlichen Verband.»41 Die Gemeinde war demnach eine Form der Vergesellschaftung von Bauern und Handwerkern. Dieses gemeindliche Zusammenleben stiftete Werte und Normen, darunter rechtliche Gleichberechtigung, Frieden und Gemeinwohl.42 In der Praxis rief das kommunale Autonomiestreben permanente Konflikte mit dem feudalen Herrschaftsprinzip hervor, die im oberdeutschen Raum im Bauernkrieg von 1524/25 eskalierten.43 Die Entwicklung im Gebiet des heutigen Kantons Graubünden verlief bekanntlich bedeutend unblutiger. Blickle hat für den Freistaat der Drei Bünde die Gerichtsgemeinden und vor allem die Nachbarschaften unter das Konzept des Kommunalismus gefasst. Um sie soll es hier in erster Linie gehen, da aus ihnen, nicht aus den meist viel grösseren Gerichtsgemeinden, die modernen Bündner Gemeinden entstanden.

Für die Zugehörigkeit zur politisch-sozialen Einheit der Nachbarschaft bestanden zumindest einige Minimalvoraussetzungen, darunter Waffenfähigkeit und eine wirtschaftlich wie politisch unabhängige Existenz.44 Für den Freistaat der Drei Bünde heisst das: «Bürger im eigentlichen Sinn waren die Haushaltsvorstände männlichen Geschlechts, welche sich in vollem Besitz ihrer Fähigkeiten und Güter befanden.»45 In der Tat dürften die Fälle zahlreich gewesen sein, in denen man den Ausschluss der Hintersassen mit wirtschaftlicher Unselbstständigkeit erklären könnte, da sie ihr Auskommen als Taglöhner, Hirten, Krämer und Kleinstbauern suchten. Für das Unterengadin hält Mathieu fest: «Viele Hintersässen besassen vermutlich so gut wie gar nichts.»46 Auch in Chur bildeten die Taglöhner, meist Rebknechte, die grösste Gruppe der Hintersassen.47 Maissen argumentiert ähnlich, indem er die militärische Diensttauglichkeit als Kriterium für politische Partizipation damit erklärt, dass Graubünden als armes Land seinen bescheidenen Reichtum dem Solddienst verdankte.48 Im Laufe der Frühen Neuzeit lässt sich beobachten, wie mit der kommunalistischen Entwicklung in den Nachbarschaften auch die Abgrenzung gegenüber den Hintersassen an Bedeutung gewann.

Die Nachbarschaften befassten sich in der Frühen Neuzeit nicht mehr nur mit der Nutzung von Weiden, Wald, Wasser und Alpen oder dem Gemeinwerk.49 Ab dem 16. Jahrhundert eigneten sich diese lokalen Verbände mancherorts die lokale Zivilgerichtsbarkeit an, dies namentlich im Engadin, im oberen Albulatal, in der Val Müstair und in Brusio.50 In italienischsprachigen Südtälern wie dem Bergell wurde zudem das Wahlverfahren für die Gerichtsgemeinden in die Nachbarschaften verlagert. Eine eigentliche Landsgemeinde gab es in diesen Regionen nicht mehr, die verschiedenen Nachbarschaften schickten lediglich Wahlmänner für die Bestimmung des podestà, im Falle des Bergells nach Vicosoprano.51 Gerichtsgemeinden wie das Oberengadin, Bivio/Marmorera, St. Peter (Schanfigg) oder die zu Hochgerichten zusammengefassten Gerichtsgemeinden des Prättigaus übertrugen den Nachbarschaften Aufgaben wie den Strassenbau und -unterhalt.52 Gegen aussen wurden die territorialen Grenzen der Nachbarschaften anlässlich von Konflikten um Weiden und Wälder festgelegt, so in der Domleschger Gerichtsgemeinde Ortenstein. Aufgrund des «Streben[s] nach lokaler Aufwertung» vervielfachte sich die Zahl der Marktorte zwischen 1500 und 1790 um den Faktor fünf, ohne dass die Bevölkerung oder das Absatzvolumen anstiegen. Im gleichen Zeitraum erhöhte sich die Zahl der Kirchgemeinden von 100 auf 200.53

Diesbezüglich zeigt sich ein weiterer Unterschied zur oberen und mittleren Surselva, wo die Gemeinden teilweise bis heute überdurchschnittlich gross sind, weil sie eine Reihe von Dörfern umfassen: Der politische Partikularismus auf Ebene der Nachbarschaften bildete sich in Nordwestbünden in vormoderner Zeit merklich schwächer aus. Man delegierte das Zivilgericht nicht an die Nachbarschaften, auch die grosse Landsgemeinde blieb erhalten. Die Vertreter der Gerichtsgemeinden wurden weiterhin an den grossen Talversammlungen gewählt, nicht in den einzelnen Nachbarschaften.54

Innerhalb der Nachbarschaften wurden die Gemeindeordnungen ausgebaut. Die Stadt Chur hatte bereits seit 1465 eine Zunftordnung. Die Nachbarschaften arbeiteten zudem Bussenkataloge aus und erfanden immer neue Gemeindeämter, die von Alpmeister über Wahlmänner bis zum Marksteinsetzer und Hilfsflurhüter reichen konnten. Die Unterengadiner Nachbarschaft Ftan kannte so 1773 insgesamt 25 Amtsinhaber auf ungefähr 100 politisch berechtigte Männer.55 Diese Inflation von Titeln und Titelträgern auf der Ebene der Nachbarschaft ist nur ein Beispiel einer vermehrten öffentlichen Betonung von Statusunterschieden.56 Da sich die Nachbarschaften für die kommunalen Rechte und Pflichten wie politische Partizipation, Nutzung von Holz und Gemeindeland, Gemeinwerk oder Militärdienst auf den Haushalt stützten, wuchs die Autorität des Haushaltsvorstands. Es galt das Senioritätsprinzip, das zwischen privilegierten Alten und untergeordneten Jungen unterschied.57

Mit dem Ausbau und der Abgrenzung der Nachbarschaften bildeten sich also auch gesellschaftliche Kontrollen und Hierarchien stärker aus.58 Diese verstärkten Hierarchisierungen und Reglementierungen blieben im 17. und 18. Jahrhundert nicht ohne Wirkung auf die rechtliche Exklusion der Hintersassen.59 Das Senioritätsprinzip wies auf Gemeindeebene auch den später gekommenen «Fremden» einen sekundären Platz zu.60 Ihre amtliche Erfassung und Kontrolle war wahrscheinlich in der Stadt Chur am markantesten ausgeprägt, wo man durch Quartiereinteilungen, besondere Reglemente und Kontrollpersonal versuchte, der steigenden Anzahl Herr zu werden.61 Versucht man die Exklusion der Hintersassen in den einzelnen Nachbarschaften zu vergleichen, stösst man innerhalb des rätoromanischen Sprachgebiets auf eine deutliche Tendenz: Rechte und Pflichten wurden in jenen reformierten Gebieten reglementiert, in denen sich auch auf dem Gebiet der Zivilgerichtsbarkeit ein nachbarschaftlicher Partikularismus ausbildete. Das Dicziunari Rumantsch Grischun führt für die Zeit vor 1800 insgesamt 64 Beispiele reglementierender Vorschriften für die Hintersassen auf. Davon stammen 53 aus dem Engadin (ohne das katholische Tarasp), sieben aus dem angrenzenden, reformierten Teil des Albulatals und der reformierten Val Müstair und lediglich vier aus dem restlichen, vorwiegend katholisch-rätoromanischen Sprachgebiet: drei aus dem reformierten Sevgein (mittlere Surselva) und ein Beispiel aus dem reformierten Schamsertal.62 Putzi bringt in seiner Monografie zur Entwicklung des Bürgerrechts zur Annahme und zur Rechtsstellung der Hintersassen Beispiele aus 20 verschiedenen Nachbarschaften und Gerichtsgemeinden, darunter fünf aus dem Churer Rheintal, fünf aus dem Prättigau, drei aus der mittleren und unteren Surselva (davon zwei reformierte Nachbarschaften), drei aus dem unteren Albulatal, zwei aus dem Engadin und zwei aus dem Surses.63

Gewiss ist es prekär, aufgrund dieser Quellenlage allzu weitreichende Schlussfolgerungen ziehen zu wollen, zumal für zahlreiche Regionen nicht bekannt ist, ob das Fehlen von Reglementierungen schlicht die Folge eines verschwindend kleinen Anteils an Hintersassen war – wenn auch die geringen Hintersassen-Anteile im Unterengadin einer solchen Logik bereits widersprechen würden.64 Immerhin kann man auf eine deutliche Tendenz hinweisen: Das reformiert-rätoromanische Engadin zeichnet sich im Vergleich zum katholisch-rätoromanischen Teil der oberen und mittleren Surselva und dem katholisch-rätoromanischen Teil Mittelbündens ab dem 16. Jahrhundert ganz allgemein durch eine Vielzahl von Statuten und Urkunden aus, die in der katholischen Surselva noch im 17. Jahrhundert praktisch völlig gefehlt haben.65 Dieser Befund korreliert mit dem nachbarschaftlichen Partikularismus, bei dem Aufgaben von den Gerichtsgemeinden an die Nachbarschaften übertragen wurden. Dieser Zusammenhang gilt ebenso für das Prättigau: Partikularismus, Reglementierung und die damit einhergehende Exklusion der Hintersassen bildeten in den reformierten Gebieten einen Nexus, der sich in den katholischen Regionen nicht feststellen lässt.66

Die meisten dieser Reglementierungen schrieben Restriktionen oder Bürgschaften67 vor. Strikt den Nachbarn vorbehalten waren aber wohl nur die später sogenannten Bürgerlöser; prinzipiell konnten die Hintersassen Wald, Weiden und Alpen mitnutzen. In S-chanf und Bergün/Bravuogn beispielsweise mussten sie dafür im 18. Jahrhundert ausser der Niederlassungssteuer eine Weidetaxe entrichten.68 Solche Niederlassungssteuern und Nutzungstaxen trifft man häufig an.69 Hinzu kamen andere, von Nachbarschaft zu Nachbarschaft verschiedene Bestimmungen, die den korporativen Charakter der lokalen Wirtschaftsorganisation deutlich machen. Im Oberengadiner Dorf Madulain findet sich für 1772 die Vorschrift, dass die Hintersassen den kalten Backofen aufheizen mussten,70 in St. Moritz (1692) durften sie ohne Erlaubnis der Nachbarn weder Wirten noch mit Wein, Schnaps und Tabak handeln, in Ardez (1752) war ihnen der Ausschank von Wein und Schnaps kategorisch verboten.71 Diese Ausschluss- und Einschlussmechanismen waren der Churer Zunftordnung ähnlich, die den Hintersassen Handwerks- und Gewerbebeschränkungen auferlegte und ihren Anteil an Wald, Weiden und Alpen beschränkte.72

Als schliesslich Nachbarschaften und Gerichtsgemeinden aller drei Bünde im 17. und 18. Jahrhundert dazu übergingen, gar keine Hintersassen als voll partizipationsberechtigte Nachbarn und Gemeindegenossen mehr aufzunehmen, spielten interne Hierarchisierungsmechanismen auf höherer Stufe eine Rolle: Oft wurden diese Verbote von der einheimischen Führungsschicht veranlasst, um auswärtigen Aristokratenfamilien eine mögliche Wahl in die hohen Ämter der Untertanenlande zu verunmöglichen.73 Der strikte Abschluss der Partizipationsberechtigten im Innern dürfte damit – auch wegen der stagnierenden Bevölkerungszahl – weniger auf akute wirtschaftliche Gründe zurückzuführen gewesen sein.

Kommunalismus und Altrepublikanismus

Wie lassen sich nun die frühmodemen Nachbarschaften als Teil einer altrepublikanischen Organisationsform beschreiben? Der klassische Republikanismus umreisst den Staat seit Aristoteles als Ideal einer sich selbst regierenden Gemeinschaft wirtschaftlich unabhängiger und wehrhafter «Bürger».74 Der Staat ist in dieser seit der Renaissance weiterentwickelten Theorie ein freiwilliger und willentlicher Zusammenschluss von Menschen, in denen die Gesetze den Willen der Gesamtheit ausdrücken (Rousseaus volonté générale) und gleichzeitig auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind.75 Altrepublikanisch an der Bündner «Gemeinderepublik» (Jon Mathieu) ist für Blickle, «dass die Gesetze von Bürgern im staatsrechtlichen Sinne gemacht werden, gleichgültig, ob sie Städter oder Bauern sind und die Zwecksetzung des politischen Verbandes wegen der Rechtsgleichheit der Bürger auf gar nichts anderes als das Gemeinwohl gerichtet sein kann».76

Ich will hier nicht auf die im Freistaat verhandelte Deutung des mit dem Republik-Begriff verbundenen Gemeindesouveränitätskonzepts eingehen.77 Viel wichtiger scheint mir festzustellen, dass von einer altrepublikanischen Staatsform im Freistaat der Drei Bünde nur unter der Voraussetzung der kommunalistischen Bewegung gesprochen werden kann.78 Der Kommunalismus begründete die Vorstellung souveräner Gemeinden, die zur heute immer noch bestehenden Gemeindeautonomie führte.79 Aus diesem Grund gilt der Kanton Graubünden seit der Kantonsverfassung von 1854 mit seiner Kombination aus freistaatlichem und modernem Recht (siehe Kapitel 2.3) als «atypischer Bundesstaat mit Gemeindestaatlichkeit».80 Kommunalismus beziehungsweise die daraus entstandene moderne Gemeindeautonomie wurde demnach im Kontext der Bündner Gemeindegeschichte zur umfassenden politischen Organisationsform, an der die Schweizer Niedergelassenen seit dem kantonalen Niederlassungsgesetz 1874 weitestgehend auch partizipieren.

Hingegen blieben von den durch den Kommunalismus ermöglichten Rechtsprivilegien der Gemeindebürger nach 1874 nur noch wenige übrig. Die Partizipationsberechtigung ist heute weitgehend nach modernen republikanischen Prinzipien organisiert, da bis auf die wenigen Rechtsprivilegien der Gemeindebürger alle Schweizer daran teilhaben.

Meines Erachtens ist es daher sinnvoll, analytisch diese beiden Aspekte frühneuzeitlicher Demokratie auseinanderzuhalten, da es in der Geschichte der Bürgergemeinden in erster Linie nur darum geht, wer in den Gemeinden welche Partizipations- und Nutzungsberechtigungen hatte, und nicht, wie unabhängig die Gemeinden vom modernen Kanton waren. Gerade weil die Verfechter der Privilegien der Gemeindebürger im Laufe der Zeit mit der Gemeindeautonomie argumentiert haben und dieses Fahnenwort nicht für die altrepublikanischen Rechtsprivilegien der Gemeindebürger reserviert war und ist, müssen beide Aspekte klar getrennt weden. Ich werde deshalb überall da, wo es um die innere Gemeindestruktur, das heisst um die den Gemeindebürgern verbliebenen Wahl-, Stimm- und Nutzungsrechte geht, von altrepublikanischen Rechtsprivilegien beziehungsweise altrepublikanischen Korporationen sprechen. Dagegen wird überall da von Gemeindeautonomie die Rede sein, wo im 19. und 20. Jahrhundert in Graubünden das altrepublikanische Prinzip der mit eigenen Rechtssetzungs- und Verwaltungskompetenzen ausgestatteten Gemeinden verhandelt wurde.81 Als Relikte des altrepublikanischen Freistaats der Drei Bünde standen beide in einem mehr oder weniger starken Gegensatz zum modernen Republikanismus, wie er nach der Helvetik nach und nach in Graubünden einzog.

Ein kurzer Blick auf die Mediationsverfassung von 1803 und die Entwicklung bis in die 1830er-Jahre soll abschliessend verdeutlichen, dass es ausschliesslich Fragen der Gemeindeautonomie waren, die bis um 1850 im modernen Kanton Graubünden in Konkurrenz mit dem neuen Republikverständnis der Aufklärung gerieten. Dringend war das Problem, wie der Kanton angesichts eines Flickenteppichs ehemals weitgehend souveräner Gerichtsgemeinden und Nachbarschaften seine öffentlichen Aufgaben bewältigen sollte. Die Frage, ob alle Schweizer auf Kantonsund Gemeindeebene politisch-wirtschaftlich gleichberechtigt sein sollten, wurde erst nach 1850 brisant.

2.3 Die alte Gemeindeautonomie gegen den modernen Kanton

Nach der Französischen Revolution regte sich breiter Widerstand gegen die Staats- und Sozialstrukturen des Freistaats. In aufgeklärten Schulanstalten wie dem Reichenauer Seminar wurden Kant und Voltaire rezipiert. Das Ziel war, die von Partikularinteressen geprägte Politik des Freistaats zu überwinden. Neu im Bündner Kontext war vor allem, dass aufgeklärte Aristokraten wie Johann Baptist von Tscharner und der aus Magdeburg stammende Heinrich Zschokke Freiheit und Rechte nicht Körperschaften wie den Gerichtsgemeinden und Nachbarschaften, sondern dem einzelnen Individuum zuschrieben.82 Damit fanden die Konturen einer individualistisch-kapitalistischen Erwerbsgesellschaft mit ihrer scharfen Trennung von Staat und Gesellschaft zum ersten Mal Eingang in Graubünden.83

Im Frühling 1798 war der Freistaat zwischen frankreichfreundlichen Patrioten und proösterreichischen Aristokraten gespalten, wobei Letztere von katholischen Kreisen unterstützt wurden, die eine strikte Trennung von Kirche und Staat befürchteten.84 Erst nachdem nacheinander die Österreicher und die Franzosen den Freistaat besetzt hatten, sprach sich eine Mehrheit der Gerichtsgemeinden für eine sofortige Vereinigung mit der Helvetischen Republik aus, die noch 1799 vollzogen wurde.85 In Absprache mit Österreich leistete die katholische Gerichtsgemeinde Disentis in der oberen Surselva den Franzosen erbitterten Widerstand: Im Mai 1799 endete diese Gegenwehr in einer Schlacht mit über 650 Toten aufseiten der Einheimischen.86

Die von Napoleon 1801 ausgearbeitete Verfassung konstituierte für den Kanton Rätien ein neues, modernes Republikverständnis: Der Kanton wurde zum «einen und unteilbaren» Einheitsstaat.87 Es galt das Prinzip der Volkssouveränität, je 500 Bürger konnten einen Kantonsrat wählen. Mit der fünfköpfigen Kantonsverwaltung übte er die staatliche Macht aus. Es bestand ein egalitäres Wahlrecht auf allen Stufen des Staatsaufbaus: Die Helvetische Republik schuf zum ersten Mal eine Politische Gemeinde, welche die seit mindestens fünf Jahren ortsanwesenden männlichen Erwachsenen als Schweizer Bürger anerkannte. Ausserdem wurde etwa im Unterengadin das Hintersassengeld abgeschafft.88 Da die bisherigen Partizipationsberechtigten weiterhin – zumindest de jure – alleine Wälder, Alpen und Weiden nutzen durften, entstand eine erste Form von Gemeindedualismus.89

Die kurze Zeit der Helvetik wird heute allgemein als wichtiger Schritt auf dem Weg in den modernen Kanton Graubünden bewertet, vor allem wurden «gerade im rechtstaatlichen Bereich viele Grundlagen gelegt».90 Napoleons Mediationsverfassung von 1803 war ein Kompromiss aus der alten Landeseinteilung in Gerichtsgemeinden und einer ständigen Landesbehörde. Diese Landesbehörde bestand aus einem 63-köpfigen Grossen und einem dreiköpfigen Kleinen Rat mitsamt einer ab 1807 dazwischen agierenden Standeskommission. Neu war, dass diese übergeordneten Behörden anders als im alten Freistaat von sich aus tätig werden konnten, sodass de facto «Bünden erstmals regiert wurde».91 In sogenannten Landespolizeiangelegenheiten konnte der Grosse Rat sogar neue Bestimmungen verabschieden, ohne sie dem Volk vorzulegen.92

In allen übrigen Angelegenheiten hatten die Gerichtsgemeinden das Referendumsrecht zwar zurückerhalten, konnten aber nicht mehr beliebige Kommentare und Alternativvorschläge anbringen, sondern nur noch mit Ja oder Nein antworten.93 Darüber entscheiden durften jedoch wiederum nur die Gerichtsbürger, wobei neben einem Bundesbürger- und einem Gemeindebürger- auch ein Kantonsbürgerrecht entstand.94 Während mit den Rechtsprivilegien von Gemeinden, Familien oder Amtsträgern wie dem Disentiser Abt die letzten «Requisite[n] der ehemaligen Feudaleinrichtungen» beseitigt wurden, blieben Niedergelassene von der Ausübung politischer Rechte ausgeschlossen.95 Die altrepublikanischen Staatsstrukturen der Vorhelvetik kamen bei der Partizipationsberechtigung wieder voll zum Tragen. Das demokratische Selbstverständnis blieb mehrheitlich korporativ orientiert, zentral war die «Gemeinfreiheit», die «libertad cumina», nicht der moderne Individualismus. Ein «moderner, liberaler Freiheitsbegriff wurde als Bedrohung von vertrauten politischen und gesellschaftlichen Verfahrensweisen empfunden».96

Damit gerieten altrepublikanische Autonomievorstellungen von Anfang an in eine Frontstellung zum jungen Kanton Graubünden, der zwangsweise eine gewisse administrative und politische Zentralisierung durchsetzen musste, um neue Möglichkeiten der Entwicklung zu schaffen. Auf der einen Seite waren die Altrepublikaner, auf der anderen die liberalen Etatisten. Zu einer Zeit, als es noch keine modernen politischen Parteien gab, waren dies die Hauptströmungen der Bündner Politik.97 Während konservative Altrepublikaner versuchten, die administrative und politische Zentralisierung des Kantons zugunsten der Gemeindeautonomie so niedrig wie möglich zu halten,98 trachteten liberale Etatisten danach, den Kanton «als lenkende und innovative Instanz handlungsfähig zu machen».99 Letztere vertraten ein neues Republikverständnis, das an die Französische Revolution anknüpfte. Es favorisierte eine individualistisch-kapitalistische bürgerliche Gesellschaft, die eine «scharfe Trennung von Staat als Inbegriff des Politischen und Gesellschaft als ‹System der Bedürfnisse› ökonomischer Natur» vornahm. In dieser Vorstellung eines von der Wirtschaft prinzipiell getrennten Staats sollten beide Bereiche zumindest all jenen Männern offenstehen, die über ein gewisses Mass an Besitz und Bildung verfügten.100 Angesichts dieser Polarisierung blieb die Rede vom «Republikanismus» nicht nur in Graubünden bis ins 20. Jahrhundert ein ambivalent gebrauchter Begriff zwischen modernem und vormodernem Verständnis.101 Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass die liberal-etatistische Haltung prinzipiell nur die Sache von wenigen Intellektuellen oder von einigen wenigen Mitgliedern der Kantonsbehörden war, während sich die Altrepublikaner auf die geschlossene Zustimmung der Gerichtsgemeinde-Stimmen verlassen konnten: Als etwa der Grosse Rat 1834 versuchte, die Bestimmung der Kantonsverfassung aufzuheben, wonach für eine Verfassungsrevision eine Zweidrittelsmehrheit der Gemeindestimmen erforderlich war, wurde mit 32 zu 32 Stimmen das notwendige Mehr um nur eine Stimme verpasst.102

Substanzielle Reformversuche gelangen trotzdem nicht. So blieb die Entwicklung lange Zeit eine zaghafte, die «Fahrt im liberalen Wind» ohne stürmischen Regenerationsschub in den 1830er-Jahren «gemächlich».103 Zwar versuchte der Grosse Rat in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit einer Fülle von Verordnungen und Reglementen auf dem Wege des Landespolizeirechts im Bereich Sanität, Transit, Schulen, Militär, Kirchen, Jagd, Strassenbau oder Forstpolizei, den Staat auszubauen. Liberale Etatisten wie der Jurist Peter Conradin von Planta kritisierten dennoch den «Korporationengeist» und forderten eine Überwindung des «Egoismus und Vereinzelungswesens».104 1841 gründete von Planta in Chur den Reformverein.105 Dieser sah das staatliche Ungenügen vor allem in der Autonomie der alten Gerichtsgemeinden, im veraltet-unübersichtlichen Gerichtswesen und in der schwachen Regierung.106 Die 1843 von Peter Conradin von Planta erstmals herausgegebene Zeitung Der freie Rätier diente der populären Aufklärung seiner Leser und behandelte Reformpostulate aus den Sparten Wirtschaft, Waldwesen, Verbauungswesen, Schulwesen oder Armenwesen.107 Der Verfassungsentwurf des Reformvereins von 1845 sah das erste Mal seit der Zeit der Helvetik eine Normierung des Gemeindewesens vor, dies betraf jedoch nur die Verwaltung, ohne die Rechtsstellung von Gemeindebürgern und Niedergelassenen zu tangieren.108 Die Spannung zwischen dem modernen Kanton und den alten Gemeindestrukturen war also noch, vereinfacht gesagt, ein Problem zwischen dem Kanton und der Autonomie der Gemeinden, nicht eines zwischen dem Kanton und den Gemeindebürgern als alleinigen Trägern dieser Gemeindeautonomie.

Nebenbei deutet dieser kurze Abriss der modernen Verfassungs- und Rechtsgeschichte Graubündens bereits an, wie sich im 19. Jahrhundert ein politisches Feld im heutigen Sinne konstituiert hat.109 Der Wandel der politischen Strukturen wurde zum Aushandlungsprozess. In den drei folgenden Kapiteln soll gezeigt werden, wo, wann und warum das bestehende Rechtsverhältnis zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen das wurde, was es im Ancien Régime nie gewesen war: ein Problem, um dessen Lösung verschiedene Kräfte auf verschiedenen Bühnen gerungen haben.