Kitabı oku: «Wenn es Doch Nur Für Immer Wäre », sayfa 3
KAPITEL DREI
Dorys Christbaumschule befand sich nur eine kurze Fahrt entfernt in einem Vorbezirk von Sunset Harbor. Die Familie fuhr zusammen in Daniels rostigem Pickup-Truck dorthin. Wo auch immer man hinsah, fand man noch Reste des Schnees von Thanksgiving und als Emily den Ring an ihrem Finger berührte, erinnerte sie sich an den Schnee, der um sie und Daniel herum zu Boden gefallen war, während er ihr einen Antrag gemacht hatte.
Sie bogen auf einen notdürftigen Parkplatz ein und sprangen aus dem Truck. Anscheinend hatten auch viele andere Familien die gleiche Idee gehabt. Überall standen Eltern herum, während ihre Kinder aufgeregt umherrannten und durch die Baumreihen sprangen.
Statt von Dory wurden sie von einem jungen Mädchen begrüßt, die an der Schwelle zur Pubertät stand, und die sich als Grace, Dorys Tochter, vorstellte. Ihr Haar war genauso blond wie das von Chantelle. Zudem trug sie eine mit Dollarscheinen gefüllte Bauchtasche sowie einen Notizblock, auf dem sie Rechnungen schreiben konnte.
„Diese Bäume sind zum Fällen bereit“, sagte sie mit einem selbstsicheren Lächeln, während sie auf das Kiefernfeld deutete. „Sie alle wurden vor sieben bis neun Jahren gepflanzt.“ Sie grinste Chantelle an. „Sie sind ungefähr so alt wie du, nicht wahr?“
Chantelle nickte schüchtern.
„Sobald ihr einen Baum findet, der euch gefällt“, fuhr Grace fort, „fällt ihr ihn und bringt ihn zu der Stelle, an der sie verladen werden. Dort wird euch mein Vater zusammen mit dem Baum zur Pressmaschine fahren, ihn einwickeln und dann könnt ihr ihn bei mir bezahlen. Wir verkaufen auch heiße Schokolade und geröstete Maronen, wenn ihr etwas Warmes haben wollt, während ihr euch umseht.“
Emily holte für jeden von ihnen eine heiße Schokolade in einem Styroporbecher und eine Tüte Maronen, die sie sich teilen konnten. Anschließend machten sie sich auf den Weg zu den Feldern. Chantelle rannte schon voraus, sie war aufgeregter als Emily sie je gesehen hatte.
Der kräftige Kieferduft weckte in Emily Weihnachtsgefühle. Sie freute sich schon darauf, ihr erstes Weihnachten zusammen mit Daniel und Chantelle, ihrer Familie, am Kamin zu feiern. Es würde das erste Weihnachten von so vielen sein, die da noch kommen mochten.
Sie und Daniel folgten Chantelle Hand in Hand, ohne ein Wort zu verlieren. Dann lehnte sich Emily an Daniel.
„Was denkst du, wie alt Grace ist?“, fragte sie.
„Elf, zwölf“, schätzte Daniel. „Warum?“
„Einfach so“, erwiderte Emily. „Sie erinnert mich an Chantelle. Deshalb stelle ich mir vor, sie sie wohl sein wird, wenn sie älter ist.“
Vor ihnen rannte Chantelle zwischen den Baumreihen umher, wobei sie immer wieder anhielt, um ihr Höhe, Astdichte und Farbfülle zu bewerten, bevor sie zum nächsten Baum sprang. Emily konnte sich sehr gut vorstellen, wie sich Chantelle als älteres Kind mit einem Klemmbrett in der Hand bei ihrem ersten Job das Taschengeld aufbesserte.
Doch während Emily über die Zukunft nachdachte, wanderten ihre Gedanken auch wieder in die Vergangenheit zurück. Chantelle, die Charlotte so sehr glich, erinnerte Emily auch an den Verlust ihrer Schwester, und an die Tatsache, dass diese niemals aufwachsen und in den Weihnachtsferien einen Job annehmen würde. Vor vielen Jahren war Charlotte durch eben diese Baumschule gesprungen, voller Versprechen und endloser Möglichkeiten, doch dann war ihr Leben von einem Moment auf den nächsten ausgelöscht worden.
Emily richtete ihren Blick nach vorne auf Chantelle, die sich in ihren Gedanken jedoch in Charlotte verwandelt hatte. Dann spürte Emily, wie sie selbst immer kleiner wurde, bis sie wieder in ihrem Kinderkörper steckte. Plötzlich wurden ihre Hände von Handschuhen gewärmt. Schnee fiel um sie herum und legte sich auf die Äste der Kiefern. Emily streckte ihre kleine behandschuhte Hand aus und schüttelte an einem der Äste. Sofort schoss eine Schneewolke in die Luft, dann verstreute sich der weiße Puder. Vor ihr lachte Charlotte sorglos und fröhlich, ihr warmer Atem zeichnete sich deutlich in der Luft ab. Sie trug ebenfalls Handschuhe und ihre knallroten Lieblingsstiefel bildeten einen starken Kontrast zu dem Weiß.
Emily beobachtete, wie Charlotte unter dem größten Baum der ganzen Schule anhielt und voller Staunen nach oben sah.
„Ich will den hier!“, rief das kleine Mädchen.
Emily ging schnell zu ihr, wobei sie in ihrer Eile den Schnee aufwirbelte. Als sie Charlotte erreichte, sah sie ebenfalls zu dem riesigen Baum hinauf. Er war atemberaubend, so groß, dass sie kaum die Spitze sehen konnte.
Das Geräusch von knirschenden Fußschritten im Schnee lenkte Emilys Aufmerksamkeit von dem Baum ab und sie warf einen Blick über ihre Schulter. Dort in langen Schritten kam ihr Vater auf sie zu.
„Ihr Mädchen müsst ein wenig langsamer sein“, schnaufte er, als er bei ihnen ankam. „Ich hätte euch fast verloren.“
„Wir haben den Baum gefunden!“, rief Emily begeistert.
Charlotte stimmte mit ein und beide sprangen auf und nieder und deuteten nach oben.
„Der ist aber ein bisschen groß“, meinte Roy.
Heute sah er erschöpft aus. Deprimiert. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe.
„Er ist nicht zu groß“, widersprach Emily. „Die Decken sind sehr hoch.“
Charlotte hielt wie immer zu ihrer Schwester. „Er ist nicht zu groß! Können wir ihn bitte mitnehmen, Daddy?“
Roy Mitchell rieb sich mit einer Hand gereizt über das Gesicht. „Fordere meine Geduld nicht heraus, Charlotte“, schnauzte er. „Such dir etwas Kleineres aus.“
Emily sah, wie Charlotte zusammenzuckte. Keine von beiden mochte es, ihren Vater wütend zu machten, doch keine von ihnen wusste, wie sie das geschafft hatten. Es schien, als würden ihn in dieser Zeit die kleinsten Dinge wütend machen. Er war immer von irgendetwas abgelenkt und sah ständig über seine Schulter nach Schatten, die nur er sehen konnte.
Doch Emilys größte Sorge galt Charlotte. Immer nur Charlotte. Das kleine Mädchen sah aus, als würde es jeden Moment in Tränen ausbrechen. Emily umschloss die behandschuhte Hand ihrer Schwester mit ihrer eigenen.
„Komm mit“, rief sie mit heiterer Stimme. „Dort drüben gibt es kleinere Bäume!“
Durch den Trost, den ihre Schwester ihr entgegenbrachte, hellte sich Charlottes Laune sofort wieder auf. Zusammen rannten sie im Schnee davon und überließen es ihrem abgelenkten Vater, dessen Gesicht ein Stirnrunzeln zierte, ihnen hinterherzueilen.
In diesem Moment kehrte Emily in die Gegenwart zurück. Der Schnee der Vergangenheit fiel nicht mehr in der Gegenwart, die Christbäume, die vor Jahrzehnten hier gestanden hatten, waren gefällt und mit diesen neuen, jungen Bäumen ersetzt worden. Sie befand sich wieder im Hier und Jetzt, doch sie brauchte einen Augenblick, um sich mit ihrer Umgebung vertraut zu machen und zu realisieren, dass Chantelle und nicht Charlotte vor ihr stand.
Während Emilys Blackouts waren sie noch tiefer in das Feld hineingelaufen. Hier waren die Bäume so groß, dass sie alles überschatteten und das Tageslicht aussperrten. Emily schauderte. Nun, da sich die Wintersonne versteckte, war es auf einmal viel kälter.
Vor ihr sah Chantelle zu dem größten Baum der ganzen Baumschule auf. Er maß mindestens viereinhalb Meter.
„Das ist er!“, rief sie und grinste dabei von Ohr zu Ohr.
Emily lächelte. Sie würde nicht wie ihr Vater die Laune des Mädchens verderben. Wenn Chantelle den größten Baum, den es hier gab, wollte, dann würde sie ihn auch bekommen.
Sie trat neben sie und legte ihren Kopf in den Nacken, um die Baumspitze sehen zu können. Genau wie damals als Kind erschien ihr der Baum majestätisch.
„Das ist er“, stimmte Emily zu.
Chantelle klatschte vor Freude in die Hände. Obwohl Daniel Emilys Meinung nach nicht sonderlich begeistert von ihrer Wahl zu sein schien, wandte er nichts dagegen ein. Er beugte sich vor und half Chantelle, den ersten Axtschlag auszuführen. Während Emily Vater und Tochter zusammen lachen sah, breitete sich ein warmes Gefühl in ihr aus.
Daniel reichte die Axt an Emily weiter, damit sie auch mitmachen konnte, und so wechselten sie sich immer nach jedem Schlag ab und fällten den Baum gemeinsam. Als er schließlich umfiel, jubelten sie alle.
Schon kam Graces Vater mit dem Wagen an.
„Wow, da hast du dir aber ein ordentliches Gerät ausgesucht“, scherzte er mit Chantelle, als sie versuchte, ihm dabei zu helfen, den riesigen Baum auf den Wagen zu heben.
„Das ist der größte, den ich finden konnte!“, erwiderte Chantelle mit einem Grinsen.
Zusammen kletterte die Familie auf den Wagen und kuschelte sich zusammen. Dann begannen die Räder sich zu drehen und fuhren langsam zum Eingang der Baumschule.
„Du warst einen Moment lang komplett abwesend“, meinte Daniel während der Fahrt zu Emily. „Hattest du einen weiteren Flashback?“
Emily nickte. Die Erinnerung an Charlottes am Boden zerstörte Miene und die Schärfe in der Stimme ihres Vaters hatte sie erschüttert. Selbst in der Erinnerung war er ein Mann, den vieles beschäftigte. Sie fragte sich, ob das wohl etwas mit Antonia zu tun hatte, der Frau, mit der er eine Affäre gehabt hatte, oder mit ihrer Mutter, die zuhause in New York saß, oder vielleicht mit etwas ganz Anderem. Obwohl Emily davon überzeugt war, dass sich ihr Vater irgendwo da draußen befand, war ihr Roy immer noch ein Mysterium.
„Immer mehr Erinnerungen an meinen Vater kehren zurück“, gab Emily zu, „seit ich diese Briefe gefunden habe. Ich würde zu gern wissen, weshalb er damals abgehauen ist. Ich dachte immer, dass plötzlich etwas geschehen sein musste, als ich eine Jugendliche war, doch nun denke ich, dass ihn etwas schon vorher beschäftigte. Um ehrlich zu sein, schon so lange, wie ich mich an ihn erinnern kann. Bei jedem Flashback sehe ich die Sorgen in seinen Augen.“
Daniel drückte sie fest an sich. Es fühlte sich gut an, ihm wieder nah zu sein. Vorhin in Joe’s Diner hatte er so distanziert gewirkt.
„Es tut mir leid, wenn ich vorhin so still war“, sagte Daniel, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. „In der Weihnachtszeit werden auch meine Erinnerungen geweckt.“
„Wirklich?“, fragte Emily nach. „Was für Erinnerungen?“
Daniel öffnete sich ihr so selten, dann sie jede Chance nutzte, um ihm mehr zu entlocken.
„Das mag dich vielleicht überraschen, aber ich bin eigentlich Jude“, erklärte er. „Mein Vater jedoch nicht. Er war Christ. Als er noch zuhause lebte, feierten wir Weihnachten und Hanukkah, doch als er fortging, verschwand Weihnachten mit ihm. Meine Mutter feierte nur Hanukkah. Als ich wieder Kontakt mit meinem Vater hatte, feierte er wiederum nur Weihnachten in seinem Haus. Das war seltsam. Eine komische Art aufzuwachsen, wie du dir sicher vorstellen kannst.“
„Das hört sich schwierig an“, stimmte Emily zu, während sie gleichzeitig versuchte, ihre Überraschung darüber, dass Daniel in Wirklichkeit Jude war, zu verstecken. Sie fragte sich, was sie sonst alles nicht über ihn wusste und wurde plötzlich von einer Angst ergriffen, wie sie ihre Kinder erziehen würden, wenn es denn überhaupt Kinder gab. Sie würde natürlich beide Feste gerne feiern, doch Daniel schien traumatische Erinnerungen an die Feiertage zu haben, weshalb das Thema womöglich nicht so einfach anzugehen sein würde.
Nachdem sie wieder am Eingang der Baumschule angekommen waren, bezahlten sie bei der mutigen und fröhlichen Grace und warteten darauf, dass der Baum verpackt wurde.
Emily war froh, neue und glückliche Erinnerungen mit ihrer Familie zu schaffen. Doch trotzdem musste sie an ihren Vater denken, an das, was wohl mit ihm geschehen war, und welche Geheimnisse er wohl gehabt hatte. Doch am meisten fragte sie sich, wo er jetzt war und ob sie ihn jemals würde ausfindig machen können.
*
Zurück in der Pension schafften Emily und Daniel den Baum an eine passende Stelle im Eingangsbereich. Schon kamen einige Gäste, die sich im Wohnzimmer aufhielten, heraus und sahen begeistert dabei zu, wie der Baum aufgestellt wurde.
Emily erinnerte sich an den Stapel Kartons auf dem Dachboden, in denen die alte Dekoration ihres Vaters verstaut war, weshalb sie davoneilte, um sie zu holen. Anschließend saßen sie und Chantelle zusammen am Küchentisch, wo sie die Dekoration durchsahen.
„Das ist wunderschön“, sagte Chantelle, während sie ein gläsernes Rentier hochhielt.
Bei dem Anblick lächelte Emily in sich hinein, denn sie musste daran denken, wie sie und Charlotte ihr Taschengeld zusammengelegt hatten, um es zu kaufen. Jedes Jahr sparten sie ihr Geld, um sich noch weitere davon zu kaufen, bis in ihrer Kollektion jedes von Santas Rentieren vertreten war. Dann hatte Charlotte jedes von ihnen markiert, damit man sie auseinanderhalten konnte.
Emily nahm das gläserne Rentier aus Chantelles Hand und sah auf dem Huf nach. Dort befand sich ein kleines eingeritztes Zeichen in Form eines Ds für Donner, doch es konnte genauso gut auch ein B für Blitz sein. Sie lächelt in sich hinein.
„In den Kisten ist ein ganzes Set davon“, meinte Emily, als ihr Blick auf eine verknotete Lichterkette fiel. „Irgendwo da drinnen.“
Sie wühlten so lange herum, bis sie jedes einzelne von Santas Rentieren gefunden hatten, inklusive Rudolph, dessen Nase Charlotte mit rotem Nagellack angemalt hatte. Emily verspürte einen Stich, als ihr wieder einfiel, dass sie nie dazu gekommen waren, Santa und Schlittendekorationen zu kaufen, welche als einzige noch fehlten und am teuersten waren, da Charlotte gestorben war, bevor sie genug Geld gespart hatten.
„Schau dir das mal an!“, rief Chantelle, womit sie Emily aus ihren Gedanken riss. Sie hielt ihr einen abgenutzten Eisbären vor die Nase.
„Percy!“, rief Emily und nahm ihn in die Hand. „Percy, der Eisbär!“ Sie lachte, unsagbar froh, dass sie solch eine obskure Erinnerung aus ihrem Gedächtnis fischen konnte. Sie hatte so viele davon verloren und doch gewann sie sie allmählich wieder zurück. Das gab ihr Hoffnung, die Rätsel ihrer Vergangenheit eines Tages entschlüsseln zu können.
Sie und Chantelle sahen die Dekorationen durch, wählten die Stücke aus, die sie verwenden wollten und packten die anderen wieder vorsichtig ein. Als sie damit fertig waren und sie sie an den Baum hängen wollten, war es draußen schon dunkel.
Daniel entzündete ein Feuer im Kamin, dessen orangenes Licht bis in den Eingangsbereich schien, als die Familie damit begann, den Baum zu schmücken. Chantelle hängte jede ihrer ausgewählten Dekorationen an den Baum und zwar mit genau der Präzision und Vorsicht, die Emily an dem Mädchen schon häufiger bemerkt hatte. Es schien, als würde das Mädchen jeden Moment genießen und die schrecklichen Erinnerungen ihrer frühen Kindheit mit neuen ersetzen.
Schließlich war es an der Zeit, den Engel auf die Baumspitze zu setzen. Chantelle hatte lange darüber nachgedacht, welche Dekoration den besonderen Platz einnehmen würde, und hatte sich letztendlich für einen handgestrickten Engel ausgewählt, der mit einem Rotkehlchen, einem Stern und einem dicken, kuscheligen Schneemann um den Platz konkurriert hatte.
„Bist du bereit?“, fragte Daniel Chantelle, als er zur Stufenleiter trat. „Ich werde dich hochnehmen müssen, damit du an die Spitze kommst.“
„Ich darf den Engel an die Spitze setzen?“, fragte Chantelle mit großen Augen.
Emily lachte. „Natürlich! Das ist immer die Aufgabe des Jüngsten!“
Sie beobachtete, wie Chantelle auf Daniels Rücken kletterte, wobei sie den Engel mit ihren Händen fest umschlossen hielt, um ihn nicht fallen zu lassen. Dann trug Daniel sie Schritt für Schritt nach oben. Zusammen streckten sie sich und Chantelle befestigte die Dekoration an der hohen Spitze des Baumes.
Sobald der Engel dort oben saß, wurde Emily plötzlich in die Vergangenheit gezogen. Der Flashback kam so schnell, dass sich ihr Atem beschleunigte. Der abrupte Wechsel von der hellen, warmen Pension zu dem kälteren, dunklen Haus dreißig Jahre zuvor löste eine Panik in ihr aus.
Emily sah zu Charlotte auf, die gerade den Engel, an dem sie den ganzen Tag lang gebastelt hatten, an dem Baum befestigte. Ihr Vater hielt Charlotte, damals noch ein pausbäckiges Kleinkind, fest, wobei er von den zahlreichen Sherries, die er an diesem Abend schon getrunken hatte, leicht schwankte. Emily hatte Angst, dass ihr angetrunkener Vater Charlotte in den Kamin fallen lassen würde. Emily war fünf Jahre alt und zum ersten Mal wurde ihr das Konzept des Todes bewusst.
Mit einem Keuchen kehrte Emily in die Gegenwart zurück und stellte fest, dass sie sich mit der Hand an der Wand abstützten musste, um sich auf den Beinen zu halten. Sie war am Hyperventilieren, doch schon war Daniel an ihrer Seite und legte ihr eine Hand auf den Rücken.
„Emily?“, fragte er besorgt. „Was ist passiert? Hattest du wieder eine Erinnerung?“
Sie nickte, unfähig, Worte zu formen. Die Erinnerung war so lebendig und erschreckend gewesen, obwohl sie genau wusste, dass Charlotte an jenem Winterabend nichts zugestoßen war. Emily freute sich über die meisten wiedererlangten Erinnerungen, doch diese hier hatte sich wie ein dunkles und unheilvolles Omen für kommende Ereignisse angefühlt.
Daniel rieb weiterhin über Emily Rücken, während diese versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Chantelle sah besorgt zu ihr auf und es war schließlich das Gesicht des Kindes, das Emily aus dem eisernen Griff ihrer Erinnerungen riss.
„Es tut mir leid. Es geht mir gut“, sagte sie, der es ein wenig peinlich war, den anderen einen solchen Schreck versetzt zu haben.
Sie sah zu dem Engel mit dem paillettenbesetzen Kleid auf. Charlotte und sie hatten mehrere Stunden damit verbracht, die einzelnen Pailletten an dem Stoff zu befestigen. Jetzt glitzerten sie in dem sanften Licht, das aus dem Kamin im Wohnzimmer hinausschien, in Regenbogenfarben. Emily hatte das Gefühl, als würden sie ihr zuzwinkern. Nicht zum ersten Mal spürte sie Charlottes Nähe, mit der sie ihr Liebe, Frieden und Vergebung entgegenbrachte. Emily versuchte, sich an diesem Gefühl festzuhalten und darin Trost zu finden.
„Wir sollten zum Marktplatz gehen“, meinte Emily schließlich. „Wir wollen doch schließlich nicht verpassen, wie die Lichter am Baum entzündet werden.“
„Bist du dir sicher, dass es dir gut geht?“, fragte Daniel, der immer noch einen besorgten Eindruck machte.
Emily lächelte. „Mir geht es gut. Das verspreche ich.“
Doch ihre Worte schienen Daniel nicht ganz zu überzeugen. Sie bemerkte, dass er sie immer noch aus den Augenwinkeln beobachtete, während sie sich warm anzogen. Trotzdem stellte er ihre Entscheidung nicht weiter in Frage, weshalb die Familie hinaus zum Pickup-Truck ging und in die Stadt fuhr.
KAPITEL VIER
Trotz der bitteren Kälte hatte sich ganz Sunset Harbor auf dem Marktplatz versammelt, um die Beleuchtung des Baumes zu sehen. Sogar Colin Magnum, der das Kutscherhaus für den restlichen Monat gebucht hatte, war hier und genoss die Feierlichkeiten. Karen aus dem kleinen Supermarkt verteilte frisch gebackene Zimtrollen, während Cynthia Jones mit Thermoflaschen voller heißer Schokolade herumlief. Emily nahm die Getränke und das Essen dankend entgegen, deren Wärme sich in ihrem Bauch ausbreitete, während sie dabei zusah, wie Chantelle glücklich mit ihren Freunden spielte.
In der Menge konnte Emily Trevor Mann ausmachen. Bei seinem Anblick wurde sie von einer nagenden Angst befallen. Von dem Moment an, da Trevor beschlossen hatte, Emily um alles auf der Welt aus der Pension zu vertreiben, waren sie Feinde gewesen. Das hatte sich erst im Laufe des vergangenen Monats geändert, als er herausfand, dass er einen nicht-operablen Hirntumor besaß. Nun war Trevor nicht mehr Emilys Feind, sondern ihr engster Verbündeter. Er hatte ihre gesamten Steuerrückstände beglichen – im Wert von mehreren hunderttausend Dollar – und lud sie nun regelmäßig auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen zu sich nach Hause ein. Es schmerzte Emily, ihn leiden zu sehen. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, erschien er schwächer und mehr von seiner Krankheit mitgenommen zu sein.
Als er nun sah, dass Emily sich ihm näherte, begann sein Gesicht zu strahlen.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte Emily, während sie ihn umarmte. Er fühlte sich dünner an und bei der Umarmung konnte sie seine Knochen spitz an ihrem Körper spüren.
„Den Umständen entsprechend“, erwiderte Trevor und senkte den Blick.
Es schockierte Emily, ihn so schwach und geschlagen zu sehen.
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte sie vorsichtig und mit leiser Stimme, um den Stolz des Mannes nicht zu verletzen.
Trevor schüttelte wie erwartet den Kopf. Es lag nicht in seiner Natur, Hilfe anzunehmen. Aber es lag auch nicht in ihrer Natur, ein Nein als Antwort zu akzeptieren.
„Chantelle hat Schneeflockenketten zur Dekoration gebastelt“, sagte sie. „In Wirklichkeit sind es einfach nur Glitzerschnipsel, aber sie ist sehr stolz darauf und möchte allen Nachbarn welche schenken. Wäre es in Ordnung, wenn ich sie Ihnen morgen vorbeibringe?“
Das war ein gerissener Trick, doch Trevor fiel darauf herein.
„Nun ja, ich schätze, wir könnten bei der Gelegenheit auch einen Tee trinken und ein Stück Kuchen essen“, entgegnete er. „Ich meine, wenn Sie sowieso schon vorbeikommen.“
Emily lächelte in sich hinein. Es gab Wege, Trevors Schutzpanzer zu durchdringen, und sie hatte soeben beschlossen, Ihren Nachbarn so bald wie möglich zu besuchen.
„Wie dem auch sei“, fuhr Trevor fort und ergriff ihre Hand. Emily bemerkte, dass er kalt war und dass sich seine Haut feucht und klamm anfühlte. Auf seiner Augenbraue standen Schweißperlen. „Ich habe etwas für Sie“, eröffnete er.
„Was denn?“, wollte Emily wissen, als er ein Stück Papier aus seiner Tasche zog.
„Pläne“, antwortete Trevor, „von Ihrem Haus. Ich habe meinen Dachboden durchgesucht und versucht, die Dinge zu ordnen für…naja, Sie wissen schon.“ Seine Stimme brach. „Ich weiß nicht, wie die Pläne dort hineingerieten, aber ich dachte mir, dass Sie sie vielleicht haben möchten. Sie müssen wissen, dass sie von Ihrem Vater und seinem Anwalt gezeichnet wurden, und ich weiß ja, dass Sie nach allen möglichen Informationen über Ihren Vater suchen.“
„Das stimmt“, stammelte Emily, während sie die Papiere entgegennahm.
Sie warf einen Blick auf die verblasste Zeichnung. Es waren die Pläne des Architekten. Sie schnappte nach Luft, als sie erkannte, dass die Pläne das gesamte Grundstück umfassten, inklusive des Schwimmbads im Außengebäude, demjenigen, in dem Charlotte ertrunken war. In Emilys Hals formte sich ein Knoten. Schnell faltete sie das Papier und steckte es in ihre Tasche.
„Vielen Dank, Trevor“, sagte sie. „Ich werde mir die Papiere später anschauen.“
Dann trennten sie sich und Emily trat wieder zu Daniel und Chantelle.
„Was wollte Trevor?“, fragte Daniel.
„Gar nichts“, erwiderte Emily mit einem Kopfschütteln. Sie war noch nicht bereit, darüber zu reden, das soeben Erlebte setzte ihr immer noch zu. Die Papiere in ihrer Tasche schienen nach ihr zu rufen. Könnten Sie ein weiteres Teil des Puzzles sein, das das Verschwinden ihres Vaters erklärte?
In diesem Moment begann der Countdown bis zum Entzünden. In Emilys Kopf schwirrten Erinnerungen an dieses Ereignis herum, das sie sich als Kind, im Grundschulalter und als Jugendliche angesehen hatte. Sie schien all diese vergessenen Erinnerungen zu durchleben, Jahr für Jahr. In manchen von ihnen kam eine lebende und lächelnde Charlotte vor, doch nur in den wenigsten. In den meisten gab es nur sie und ihren Vater, der immer tiefer in die Depression verfiel und jedes Mal abgelenkter zu sein schien.
Dann leuchteten die weißen Lichter an dem Baum auf und alle begannen zu jubeln. Mit klopfendem Herzen kehrte Emily in die Gegenwart zurück.
„Geht es dir gut?“, wollte Daniel besorgt wissen. „Du bekommst ständig Blackouts.“
Emily nickte, um ihn zu beruhigen, doch in Wahrheit zitterte sie. Ihre Gedanken kamen einfach nicht zur Ruhe. All diese Erinnerungen tauchten plötzlich wieder auf und sie musste sich unwillkürlich fragen, ob das Wissen, dass ihr Vater noch lebte, wohl der Grund dafür war. Er schien ihr so, als ob ihr Gehirn beschlossen hätte, dass sie nun in die Vergangenheit greifen und sich an ihren Vater erinnern durfte, weil sie jetzt nicht mehr in der Trauer versinken würde. Wenn Emily genug Geduld aufbrachte, dann würde sie sich vielleicht an etwas erinnern, das ihr bei der Suche nach ihm helfen würde und das ihr sagen könnte, wo genau er sich versteckte.
*
Erschöpft von dem schönen Abend brachten Emily und Daniel Chantelle ins Bett, sobald sie zuhause ankamen. Chantelle hatte darum gebeten, dass ihr jemand eine Geschichte vorlas, und Emily war ihrer Bitte nachgekommen. Doch am Ende der Geschichte schien Chantelle nachdenklich zu sein.
„Was ist denn los?“, fragte Emily.
„Ich dachte gerade an Mom“, erwiderte Chantelle.
„Oh.“ In Emilys Magen bildete sich bei dem Gedanken an Sheila in Tennessee ein Knoten. „An was denn genau, Liebes?“
Chantelle sah Emily mit ihren großen, blauen Augen an. „Wirst du mich vor ihr beschützen?“
Emilys Herz zog sich zusammen. „Natürlich.“
„Versprich es mir“, verlangte Chantelle mit verzweifeltem, flehendem Ton. „Versprich mir, dass sie nie wieder zurückkommt.“
Emily zog das Mädchen dicht an sich. Das konnte sie nicht versprechen, denn sie wusste nicht, wie der Rechtsstreit um das Sorgerecht ausgehen würde.
„Ich werde alles tun, was ich kann“, meinte Emily in der Hoffnung, dass ihre Worte ausreichen würden, um das verängstigte Kind zu beruhigen.
Chantelle lehnte sich zurück und legte ihren Kopf auf das Kissen. Dabei breitete sich ihr blondes Haar aus und sie machte einen entspannten Eindruck. Schon ein paar Minuten später war sie eingeschlafen.
Chantelles Bitte bezüglich ihrer Mutter hatte Emily wachgerüttelt. Sie und Patricia hatten sich vor nicht allzu langer Zeit unterhalten, als Emily vergebens versucht hatte, ihre Mutter dazu zu bewegen, Thanksgiving bei ihnen in der Pension zu verbringen. Ihre Mutter hatte sich geweigert zu kommen und das Haus in Sunset Harbor zu besuchen. Sie sah es als Roys Eigentum an, einem Ort, von dem sie verbannt worden war. Doch Emily fand trotzdem, dass Patricia ein Teil ihres Lebens war. Das bedeutete, dass Emily nun in den sauren Apfel beißen und ihr von der bevorstehenden Hochzeit erzählen musste.
Emily stand von Chantelles Bett auf, schlang einen Schal um sich herum und trat dann hinaus auf die Veranda. Dort setzte sie sich auf den Schaukelstuhl, winkelte die Beine unter ihrem Körper an und warf einen letzten Blick zu dem Mond und den Sternen dort oben am Himmel. Etwas in ihrem glänzenden Licht gab ihr den Mut, ihre Kontakte durchzusuchen und die Nummer ihrer Mutter zu wählen.
Wie immer antwortete Patricia mit einem barschen „Ja?“
„Mom“, sagte Emily. Dann holte sie tief Luft, um nicht den Mut zu verlieren. „Ich muss dir etwas sagen.“
Es hatte keinen Sinn, höfliche Konversation vorzutäuschen. Keine von beiden wollte das, weshalb Emily auch gleich zum Punkt kommen konnte.
„Oh?“, erwiderte Patricia nur tonlos.
Emily hatte ihrer Mutter im Laufe des vergangenen Jahres einige unwillkommene Überraschungen geliefert. Zuerst hatte sie ihr Zuhause in New York Hals über Kopf verlassen und sich nach sieben Jahren von Ben getrennt, dann war nach Sunset Harbor davongelaufen, hatte eine Pension eröffnet und sich so sehr in Daniel verliebt, dass sie zugestimmt hatte, ihm dabei zu helfen, sein Kind großzuziehen. Es überraschte Emily nicht, dass ihre Mutter jede einzelne ihrer Entscheidungen missbilligt hatte. Deshalb standen die Chancen schlecht, dass sie die Verlobung ihrer Tochter akzeptieren würde.
„Daniel hat um meine Hand angehalten“, brachte Emily schließlich hervor. „Und ich habe ja gesagt.“
Genau wie von Emily vorhergesehen herrschte Schweigen. Ihre Mutter nutzte das Schweigen wie eine Waffe, mit der sie Emily stets genug Zeit ließ, um sich darum zu sorgen, was ihre Mutter wohl gerade dachte.
„Wie lange genau bist du schon mit diesem Mann zusammen?“, fragte Patricia schließlich.
„Fast ein Jahr“, erwiderte Emily.
„Ein Jahr. Von weiteren fünfzig oder so, die ihr zusammen verbringen wollt.“
Emily seufzte tief auf. „Ich dachte, du würdest dich freuen, dass ich mich endlich mit jemandem niederlasse. Immerhin reibst du mir doch ständig unter die Nase, dass du in meinem Alter schon längst verheiratet warst.“ Emily krümmte sich innerlich beim Klang ihrer eigenen Stimme. Warum schaffte es ihre Mutter auch immer, das streitsüchtige Kind in ihr zu wecken? Warum wollte Emily unbedingt die Zustimmung ihrer Mutter, wenn diese sich so wenig um ihre Tochter kümmerte?
„Ich nehme an, er braucht eine Mutter für sein Kind“, sagte Patricia.
Mit zusammengebissenen Zähnen antwortete Emily: „Ihr Name ist Chantelle. Und deshalb hat er mir keinen Antrag gemacht. Das tat er, weil er mich liebt. Und ich sagte ja, weil ich ihn liebe. Wir wollen für immer zusammenbleiben, du solltet dich also daran gewöhnen.“
„Das werden wir ja sehen“, erwiderte Patricia monoton.
„Ich wünschte, du könntest dich für mich freuen“, meinte Emily mit brüchiger Stimme. „Immerhin wirst du die Mutter der Braut sein. Die Leute werden erwarten, dich stolz und umgänglich zu sehen.“
„Wer sagt denn, dass ich überhaupt komme?“, raunzte Patricia zurück.