Kitabı oku: «Onnen Visser», sayfa 45
»Aber wir brechen wie die Räuber tief in der Nacht bei euch ein, Feiko!«
»Das schadet nicht! Heißa – wie glücklich bin ich!«
Und dann vollführte er plötzlich einen Freudensprung. »Da ist das Haus!«
»Nero bellt!« rief Onnen. »Sollte er deine Stimme erkannt haben?«
Beide Vettern standen still. »Nero!« rief der Steuermann, »Nero!«
Das Gebell wurde immer stärker; das Tier riß an seiner Kette, es winselte bald und bellte dann wieder mit verdoppelter Stärke. Ein Fensterladen wurde geöffnet, eine Männerstimme rief dem Hund zu und suchte ihn zu beschwichtigen. »Ruhig, Nero, ruhig, mein Tier!«
Feiko hemmte plötzlich den Schritt. »Das ist mein Vater!« sagte er halblaut
Und dann, wie von schnellem Entschluß erfaßt, stürmte er vorwärts. »Vater! Vater! – Hier bin ich ja – grüß dich Gott, Vater!« Die anderen hörten einen halberstickten Ausruf, der Hund bellte wie toll, Frauenstimmen mischten sich hinein – durch das Haus ging ein Jubeln, das weit hinausklang in die nächtlich stille Umgebung. Er war ja zurückgekehrt, der langvermißte älteste Sohn, sie hatten ihn wieder und hielten ihn in ihren Armen, sie lachten und weinten vor Glück.
Dann kam Onkel Hansen heraus, um mit offenen Armen auch den Neffen zu begrüßen, auch die treuen Freunde der beiden, welche ihnen Brot und Obdach gewährt hatten, als sie im fremden Lande von aller menschlichen Hilfe verlassen schienen. »Willkommen! Willkommen!« rief er. »Seht, Kinder, da ist ein Tanzbär!«
Der junge Nachwuchs war aus den Betten geklettert und umringte nun in mehr oder weniger paradiesischem Kostüme den Braunen, der sich die Zärtlichkeit des ausgelassenen Völkchens schnell genug erwarb. Mikosch und Alexei hielten sich bescheiden zurück, während Onnen durch die bekannten grünen Heckenwege ging und wieder zum Fenster hineinsah, wie in jener Nacht, als es galt, in Mädchenkleidern die Lederpuppen voll Tee nach Emden zu schmuggeln. Heute zeigte das Gesicht seiner Tante ein anderes Aussehen; sie hielt ihren Erstgeborenen mit beiden Armen umfaßt, ein Himmel voll Glück und frommer Dankbarkeit leuchtete aus den Augen, die so viele, viele brennende Tränen vergossen hatten.
Dann sah sie in der Tür den Neffen, den einzigen Sohn des gemordeten Bruders und schluchzend eilte sie ihm entgegen. »Onnen! Mein Junge, mein lieber Junge!«
»Laßt‘s gut sein!« sagte der Onkel, »laßt‘s gut sein, Kinder – die beiden Krieger sind ja nun glücklich wieder angelangt!«
Aber auch seine Stimme bebte; er wandte sich ab und sah auf den Deich hinaus. Eine tiefempfundene Freude braucht Tränen, ebenso wie das Leid – aber diese brennen wie Feuer, während jene das Glück verdoppeln.
Erst der zehnjährige kleine Bruder löste den Bann, welcher die Herzen aller gefangenhielt. Ohne Strümpfe oder Schuhe, nur mit seinen Höschen bekleidet, stemmte er die Arme in die Seiten und schüttelte bedenklich den Kopf: »Mutter«, sagte er, »wie unser Feiko weg war, da hast du so toll geweint; und nun er wiedergekommen ist, weinst du auch! Was willst du denn eigentlich?«
Sie lachten alle; Feiko ließ das Brüderchen auf seinen Schultern reiten, die Mutter und Jurtke brachten schnell eine Mahlzeit auf den Tisch, Nero wurde von der Kette gelöst und durfte seinen geliebten Herrn umschmeicheln, Mikosch erhielt den Ehrenplatz auf dem ledernen Sofa und der Bär ein Heulager im Stall, aus dem die Ziege schleunigst entfloh.
Onnen war auf den Deich geklettert. Da unten in blauer Ferne lag seine Heimat, das Haus, in dem er geboren worden war. Wie zärtliches Grüßen rauschte es zu ihm herauf aus den murmelnden Wellen der Nordsee; kaum überwand er das Verlangen, hineinzuspringen und schwimmend den geliebten Strand zu erreichen. Einen Augenblick glaubte er, es zu können – erst als ihm Onkel Martin nachkam, gab er der Stimme der Überlegung Gehör.
»Du mußt noch lange warten, mein Junge«, sagte freundlich tröstend der Alte. »Erst in zwanzig Minuten ist die Ebbe vollständig eingetreten und dann weißt du ja, wie viele Stunden vergehen, bevor mein Segelboot flott werden kann.«
Onnen sah auf das Meer hinaus. »In einer Stunde ist es Tag!« rief er, »dann gehen wir zu Fuß über das Watt, Mikosch und ich.«
Onkel Martin schüttelte den Kopf. »Das brauchst du ja doch nicht, Junge. Ich fahre dich im Boote hinüber und —«
»Nein, Onkel, nein, so lange zu warten halte ich nicht aus. Uve Mensinga, der brave Mann, hat mich ja völlig zum Wattführer hier für diese Strecke vorgebildet; ich kenne jede Rille und jede Untiefe – hurra, in zwei Stunden bin ich drüben!«
» Erst komm nur und iß, Junge, gönne dir und dem Alten ein wenig Ruhe. Ihr seid doch schon genügend lange unterwegs, sollte ich meinen.«
Onnen sah auf das Meer hinab – noch war alles vom Wasser bedeckt; er mußte wenigstens ausharren, bis die Flut vollständig zurücktrat.
Als er in das Zimmer kam, schlief Mikosch auf der Ofenbank mit dem Kopfe an der Wand. Genaugenommen war der alte Mann noch in der Genesung begriffen, mindestens von dem achtwöchentlichen schweren Krankenlager noch nicht zum Vollbesitz seiner Kräfte zurückgekehrt; man ließ ihn daher sogleich allein, verhüllte die Fenster und trieb die kleine Schar hinaus, um seinen Schlummer nicht zu stören.
Es war ein Uhr morgens, Onnen konnte gut ein paar Stunden warten.
Als die Sonne am Himmel erschien, stand er auf dem Kamme des Deiches. Jetzt trat die Insel wie ein schmaler dunkler Streif aus dem Meere hervor, spitz auslaufend, kahl und grau, aber doch seine geliebte Heimat, sein eigenes Norderney. Er sah es, da lag es vor ihm und alle anderen Gedanken erstickten in dem einen: »Ich will hinüber!« Mikosch war schon erwacht, neugestärkt und munter, er sah im Stall nach dem schlafenden Alexei und dem Bären, dann versprach Onkel Martin, nach Eintritt der Flut mit diesen beiden und seinem Sohne im Segelboot hinüberzukommen, und nun konnte die Wanderung durch das Watt vor sich gehen.
Höher und höher stieg die Sonne, mehr und mehr belebte sich die unübersehbare graue Schlickfläche. Scharen von Vögeln flogen aus den Dünen, aus dem Röhricht und vom offenen Meer herbei, Fische sprangen verzweiflungsvoll aus den flachen Rillen empor, um wieder in das tückisch entflohene nasse Element zu gelangen; auf dem kaum ganz getrockneten Boden krabbelte es und lief und glitt – tausend und abertausend Geschöpfe bevölkerten Luft und Wasser.
Mikosch hatte dies eigentümliche Schauspiel nie gesehen. »Ich bin früher zu Schiff nach Norderney gekommen«, sagte er etwas unruhig. »Wo ist das Meer geblieben?«
»Verzaubert!«lachte Onnen. » Sieh, da liegt vor uns die Landspitze – wir können sie aber umgehen, der Strand bis zum Dorfe ist noch lang.«
Der Zigeuner knöpfte die Jacke auf. »Welch eine Luft!« sagte er. »Man glaubt zum erstenmal zu atmen!«
»Nicht wahr? – Sieh nur die Dünen! Alles grün, alles mit Blumen bedeckt. Wenn wir da oben ständen, könnten wir das Dach meines Vaterhauses schon erkennen!«
Weiter und weiter wandten sie sich nach links. Da war der Punkt, wo die »Taube« auf ihrer Fahrt von Baltrum nach Norderney zu ankern pflegte, dort das verborgene Nest in den Dünen, die Kaffee- und Teeniederlage, endlich da unten, die Stelle, wo jene beiden französischen Zollwächter so jählings überrumpelt wurden.
»Mikosch«, sagte Onnen, »es ist mir, als sei alles Dazwischenliegende nur ein Traum, als müsse mir mein armer Vater entgegentreten, Heye Wessel – all die Getreuen früherer Tage! – Hier, gerade hier war es, wo wir gegen die Franzosen kämpften! Und da draußen, Mikosch, da draußen, wo du das Meer siehst, an jener Stelle haben wir die drei Kanonenboote erobert!«
Er lief fast; die Aufregung wuchs von Minute zu Minute. »Da kommen ein paar Schlickläufer«, sagte er, »da noch einer! – Und weiterhin sammelt eine Frau auf dem Watt! Ob es die alte Aheltje ist?«
»Aber nein, nein, sie war immer lahm und diese geht kräftig einher. Es ist mir, als müsse ich sie kennen – gewiß, gewiß, ich täusche mich nicht!« »Spring voraus!« sagte gutmütig der Zigeuner. »Ich komme schon nach.«
Onnen hörte ihn kaum. Die Frau da drüben hatte das Gesicht unter einem großen Strohhut versteckt, sie sah von ihrer Arbeit keinen Augenblick auf, aber dennoch wußte Onnen, daß er sie kennen müsse. Eine Art von unerklärlicher Unruhe hatte sich seiner bemächtigt, er ging der emsig sammelnden Frau mit schnellen Schritten gerade entgegen.
Und dann erhob die Alte zufällig den Kopf, sie schien zu erschrecken, ihr Korb mit den kaum gesammelten Schätzen fiel auf den Schlick, sie streckte beide Arme aus. »Onnen! – Onnen!«
Es durchzuckte den jungen Menschen wie ein elektrischer Schlag. Er sah, aber er mißtraute seinen Sinnen – er wollte nicht glauben, was Auge und Ohr bezeugten.
»Mutter! – Mutter!«
Das war halb gejubelt, halb geschluchzt. Unter Gottes freiem Himmel, allein auf dem weiten, grauen, sonnenüberglänzten Watt lagen die beiden einander in den Armen. Sie sprachen nicht, sie sahen sich nur an, und der Sohn legte voll kindlicher Verehrung leise das Gesicht in die Hand seiner alten Mutter.
Vergessen war das Leid der Trennung, vergessen jeder andere Gedanke. Kosend über ihre Stirnen glitt der Morgenwind, hoch im Blau sang die Lerche ein Dankgebet. —
Und doch zog es nach den ersten seligen Minuten wie ein Schmerz durch Onnens Seele. »Hier finde ich dich, Mutter?« fragte er gepreßten Tones. »Hier? – Was enthielt dein Korb?«
Die Antwort gaben ihm seine eigenen Augen. Langbeinige Taschenkrebse arbeiteten wie verzweifelt, um dem verhängnisvollen Korbe zu entrinnen, Seeigel zogen sich zusammen und fielen wieder auseinander, die unglücklichen Seesterne zappelten auf dem Trocknen wie Verschmachtende.
»Mutter, Mutter«, fragte Onnen, »du gehst auf das Watt, um zu sammeln?«
Sie lächelte zärtlich. »Gewiß, mein Junge. Es sind in diesem Jahre viele Badegäste hier, ich verkaufe ihnen die Ware, welche mir der liebe Gott schenkt, und kann leben, ohne einem Menschen Geld zu schulden.«
Es schmerzte ihn grenzenlos. »Du?« sagte er. »Mutter, du? Und Uve Mensinga?«
»Der hat mir treulich geholfen, solange ich‘s brauchte, mein Sohn; er hat der Witwe seines Freundes mit Rat und Tat beigestanden, eben deshalb will ich auch die Sorge, welche er bisher freiwillig trug, je eher desto lieber selbst übernehmen.«
»Aber sprechen wir nicht von mir«, setzte sie dann schnell hinzu. »Komm nach Hause, mein Liebling – die Nachbarn haben alles in guten Stand gesetzt, ich wohne wieder in unserem lieben alten Heim – komm, Onnen, komm!«
Jetzt erst fiel ihm der Zigeuner ein. »Mikosch«, rief er, »wo bist du?«
Der Alte saß auf einer Düne und sah mit vergnügtem Lächeln zu den beiden glücklichen Menschen hinüber; jetzt näherte er sich der alten Frau, die ihm voll froher Dankbarkeit beide Hände entgegenstreckte. »Sie sind gewiß der gute Mann, welcher meinen Sohn mit Wohltaten überhäufte, nicht wahr? Gott vergelte es Ihnen in Ihren Kindern!«
Das ostfriesische Plattdeutsch verstand er nicht, aber Onnen übersetzte ihm alles; später erfuhr sie auch, daß er selbst es gewesen, der vor vielen Jahren hier auf Norderney den Tanzbären zeigte. Alle drei gingen an der Schanze vorüber in das Dorf, und dieser Weg gestaltete sich zu einem wahren Triumphzuge. Aus allen Türen sahen die Leute hervor, überall brachten Herzen und Hände ein fröhliches Willkommen.
Uve Mensinga kam mit ausgebreiteten Armen dem jungen Manne entgegen. »Da bist du, liebster Junge – und wie groß geworden! Wahrhaftig, Mutter Visser, ein ganzer Mann!«
Er drückte unseren Freund fest an die Brust und küßte ihn wie ein kleines Kind. Daß es die Leute sahen, schadete ja nicht; sie liefen ohnehin alle zusammen, manche mit fröhlichen, manche mit traurigen Gesichtern; unter den letzteren der alte Amtsvogt. »Hast du von meinen beiden Söhnen nichts gehört, Onnen, gar nichts?«
»Sind denn von ihnen keinerlei Nachrichten angelangt, Alter?«
Der Vogt schüttelte den Kopf. »Keine! Aber es ist dieser oder jener aus unserer Gegend nach Beendigung des russischen Feldzuges hierhergekommen und hat mir erzählt, daß meine beiden armen Jungen bis zur zweiten Schlacht von Smolensk gesund und wohlerhalten waren – später sind sie nicht mehr gesehen worden.«
Der alte Mann trocknete sich die Augen. »An der Beresina sind sie gefallen«, sagte er traurig. »Es kann nicht anders sein!«
Onnen suchte ihn zu trösten, so gut es ging. Andere Bekannte näherten sich ihm, andere Traurige baten um eine Nachricht, aber auch viele von denen, welche in jener Nacht des plötzlichen Überfalles zugleich mit ihm gepreßt wurden, viele Kameraden aus Rußland traten ihm hier in der Fischerjacke wieder entgegen.
Es dauerte Stunden, ehe die kleine Gesellschaft nach Hause kam. Von den Möbeln früherer Tage, den alten geliebten Einrichtungsstücken aus seiner Kindheit fand Onnen nichts wieder vor; die Franzosen hatten geraubt, was sie brauchen konnten und das Überflüssige vernichtet. Aber dennoch waren die Zimmer nicht leer; treue Hände brachten, als Klaus Vissers Witwe ihr Eigentum wieder bezog, nach und nach alles herbei, dessen die verlassene Frau bedurfte. Der Prediger schickte ihr die Ausstattung für das bescheidene Wohnzimmer, andre Freunde brachten Küchengerät und Frau Trientje Mensinga lieferte die Betten. Zwei zugleich – das eine für Onnen, wie sie sagte. Wiederkommen mußte er ja doch.
Und nun war er wirklich da. Frau Douwe konnte ihn nicht lassen, sie sah immer in sein hübsches, sonnenbraunes Gesicht, sie hielt seine Hand, als müsse er ihr im nächsten Augenblick wieder verlorengehen.
Uve Mensinga klopfte ihr leise auf die Schulter. »Ganz wie unser lieber alter Klaus, nicht wahr, Nachbarin?«
Und die Frau im schwarzen Kleide, mit der Witwenhaube auf dem weißgewordenen Haare nickte leise. Sie wandte sich ab – ihr Knabe sollte heute keine Tränen sehen.
Draußen auf der Straße ging schon wieder eine alte Bekannte vorüber; sie bemerkte am Fenster den heimgekehrten jungen Mann und kam eiligst ins Haus gelaufen. »Onnen, Onnen, gelobt sei Gott, daß du wieder angelangt bist! Aber darf ich auch noch ›du‹ sagen? Der junge Herr ist so grausam gewachsen!«
Ein lustiges Lachen folgte dieser wohlgemeinten Anrede. Folke Eils trug einen gefüllten Korb mit Putzartikeln am Arm, sie trieb seit dem Abzug der Franzosen wieder ihren früheren Handel und fuhr jetzt, bei Onnens unverhofftem Anblick, mit dem Zipfel der sauberen weißen Schürze über die Augen. »Weißt du‘s noch, Onnen, wie dein Vater selig mir die zwanzig Taler schenkte? Er war es, der mich vom Verderben errettete.« Tiefe Stille war unter den Anwesenden; Onnen brach sie zuerst. »Und Wiebke Raß?« sagte er, absichtlich die Antwort umgehend, »wie steht es mit ihr?«
Seine Mutter sah ihn an. »Gut, mein Junge! Sie schläft seit langem an der Seite ihres Kindes, sie ist heimgegangen, ohne eigentlich krank gewesen zu sein. Nur immer bleicher und zarter wurde das sanfte Gesicht, immer weniger konnte die Arme anderen Leuten helfen, bis sie endlich einschlief, um nicht wieder zu erwachen.«
»Wohl ihr!« setzte Uve Mensinga hinzu. »Sie hatte vom Leben nichts mehr zu hoffen. Nun aber, mein Junge, erzähle uns auch deine Abenteuer, laß uns hören, wie es dir zu Wasser und zu Lande erging – außer dem einen Brief, welchen du schriebst, bekamen wir ja während der ganzen Zeit von dir keinerlei Nachricht!«
»Und ich keine von euch; es war eben unmöglich. Komm, Mikosch, laß uns anstoßen, wenn auch nur Bier im Glase schäumt! Auf dein Wohl, mein Freund und Helfer!«
Er zog den treuen Freund mit hinein in das Gespräch und Stunden vergingen, ehe auch nur die Hälfte des Erlebten berichtet war. Später am Tage kam Onkel Martin mit den beiden jungen Leuten und dem Bären – das Vissersche Haus wurde der Sammelplatz aller Inselbewohner, Ruff mußte rauchen, singen, Karten spielen und tanzen bis in die Nacht hinein.
Am anderen Morgen ging Onnen allein zum Grabe seines Vaters. Ein Rosenbaum streute die Fülle der weißen duftigen Blütenblätter darüber her, hochaufgeschossen grünten Busch und Strauch. Ein hübsches Eisengitter umgab den Platz, der am saubersten gehalten schien von allen auf dem friedlichen kleinen Gottesacker im Schatten der Kirche.
Auch dem Prediger erstattete Onnen pflichtschuldigst seinen Besuch, und als er dann nach Hause kam, empfing ihn eine Einladung, die er von allen am wenigsten erwartet hatte – Aheltje, die »Hexe«, ließ durch einen Boten sagen, er möge sobald wie möglich zu ihr kommen.
»Was kann sie nur wollen ?« rief Frau Douwe. »Zehnmal ist sie früher schon bei mir gewesen und hat nach dir gefragt.«
Onnen wußte es nicht. »Ob sie krank ist?« fragte er seine Mutter.
»Ja, schon seit längerer Zeit, mein Junge. Ich denke, du mußt hingehen.«
»Natürlich – aber wo wohnt sie denn jetzt?«
»An der alten Stelle. Die Gemeinde hat ihr damals eine neue Hütte erbauen lassen; du weißt wohl, dein armer Vater und Heye Wessel bewilligten das noch auf ihrem Todesgange.«
Onnen küßte die zuckenden Lippen der alten Frau. »Wohl ihm, daß sein Andenken so hoch in Ehren steht, Mutter! Wer sich seiner erinnert, der hat ihn von Herzen lieb gehabt.«
Frau Douwe nickte. »Geh du nur«, sagte sie, »Aheltje ist eine dankbare Seele, sie kann nichts Böses beabsichtigen.«
»Und doch auch wohl auf keinen Fall etwas gegen mich ausrichten, Mutter. Du bist hoffentlich nicht abergläubisch?«
»Nein, nein – nur weil die Leute sie immer eine Hexe nennen!«
»Unsinn!« lachte er und ging dann fort, um die Hütte der einsamen, verrufenen alten Frau zwischen den Dünen aufzusuchen. Wie leicht und sicher glitt sein Fuß über das schlüpfrige Gras! Die Stille der entlegenen Öde umgab ihn, die Erinnerung glücklicher Kindertage stimmte ihn weich und freundlich. So oft, so oft hatte er als Knabe mit gleichaltrigen Genossen diese grünen Hügel durchstreift und Jäger und Hund, Krieg und Gott weiß was sonst noch gespielt.
Viele, viele von ihnen lagen in Rußlands eisiger Erde, viele waren verschollen, man hatte von ihnen nie eine Kunde erlangt, nie ein Lebenszeichen.
Aber heute wie damals sangen die Lerchen und wehten im Sommerwind die langen Halme; heute wie damals rauschte das Meer, das geliebte, und kein Feind durfte es wagen, am deutschen Strande seine verhaßte Flagge zu entfalten.
Die Hütte der Alten war bald gefunden. Onnen klopfte an die Tür, und als er das Herein der Bewohnerin hörte, überschritt er gebückt die Schwelle. Welch ein Bild der schrecklichsten, trostlosesten Armut bot sich seinen Blicken! Der niedere Bau barg nur einen in den Erdboden gefügten Tisch, einen hölzernen Stuhl und eine Lagerstätte, aus der Stroh und Lumpen hervorquollen. Auf diesem elenden Bette lag die abgezehrte, einem Skelett ähnliche Gestalt der alten Frau; müde, traurige Augen sahen dem jungen Manne entgegen, die magere Hand erhob sich, um ihm den einzigen Stuhl der öden Behausung zu bieten.
»Guten Tag, Aheltje«, sagte er freundlich. »Es tut mir leid, Euch krank zu finden, Frau! – Steht es denn mit Eurem Leiden jetzt so schlimm?«
Sie lächelte eigentümlich. »Ihr seid doch der Onnen Visser, Herr? Tretet ins Licht, ich möchte mich überzeugen.«
Onnen willfahrte ihrem Wunsche. »Ist es denn so wichtig, was Ihr mir zu sagen habt, Aheltje?«
Sie sah ihn an und nickte vor sich hin. »Ja, er ist es; er ist es wirklich. Klaus Vissers Sohn! – Setzt Euch, Herr; was ich zu sagen habe, ist sehr wichtig, ist beinahe mehr wert als das Leben selbst. Aber vorher muß ich Euch eine Frage stellen. Wißt Ihr, wo sich Geerd Kluin, der Bruder Eurer Mutter, befindet?«
Onnen war einigermaßen überrascht. »Ja«, antwortete er, »ich weiß es, Aheltje, Geerd Kluin ist tot, er starb in Altona und ich selbst habe ihn zu Grabe geleitet.«
»Das ist ganz, ganz sicher?«
»So gewiß und wahrhaftig, wie ich in diesem Augenblick vor Euch stehe.«
Die Alte erhob sich mühsam vom Bette, ihre Glieder zitterten, ihr Kopf sank vor Schwäche auf die Brust herab. »Mit mir ist‘s aus, junger Herr, der Tod droht schon seit Wochen mit erhobenem Arm, aber ich sagte ihm immer, daß er warten müsse, bis Ihr hier gewesen seid. Kommt nun, kommt rasch, Ihr sollt mich begleiten und unterwegs will ich Euch eine Geschichte erzählen.«
»Ja«, setzte sie dann plötzlich hinzu, »wollt Ihr aber auch in meiner Gesellschaft gesehen werden, Herr?«
Onnen lächelte freundlich. »Gewiß, Frau. Aber ich denke, Ihr könntet mir ebensowohl hier in Eurer Hütte erzählen, was ich wissen soll; Ihr braucht dann meinetwegen nicht aufzustehen.«
Die Alte schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, nein, das geht nicht. Kommt nur, junger Herr – der Erfolg wird Euch die Mühe belohnen.«
Sie humpelte schwerfällig voraus und bat ihn, ihr zu folgen. Onnen gehorchte freundlich, obwohl er im stillen glaubte, daß der Verstand der Alten erschüttert sei. So kamen die beiden sonderbaren Genossen in das Gebiet der mittleren Dünenkette, immer über die schlüpfrigen Höhen und durch die tiefen Täler langsam vorwärts, bis an jene schmale Schlucht, in der das Buschwerk grünte und wo Scharen von wilden Kaninchen ihre Höhlengänge bauten; hier sank die Alte, wie vollständig erschöpft, atemlos in sich zusammen.
Ihre mageren Finger deuteten auf das Gebüsch. »Schlagt die Zweige auseinander, Herr, habt Ihr kein Messer bei Euch? – Grabt, grabt, da drinnen wohnt das Glück, das goldene – ich will Euch unterdessen eine Geschichte erzählen.«
Er zauderte, obwohl die Worte der Alten einen sonderbaren Eindruck auf ihn übten. »Aheltje«, sagte er, »was sollte denn im Dünensand verborgen liegen?«
»Grabt nur! Grabt nur! – Seht, es war vor länger als zwei Jahren, noch ehe die Franzosen nach Norderney kamen, da saß ich einmal hier und legte Schlingen für die wilden Kaninchen; es dämmerte bereits, tiefe Stille herrschte ringsumher, ich dachte gerade darüber nach, wie ganz einsam und von aller Welt verlassen einmal mein Totenbett sein werde – da raschelte es drüben in den Halmen und ein Mann sprang mit großen Sätzen in die Schlucht herab. Es war Geerd Kluin, der Bruder Eurer Mutter.«
Alles Blut drang plötzlich in Onnens hübsches Gesicht. »Ah!« rief er, »und —«
»Grabt nur weiter, Herr! – Aha, da ist der Deckel des eisernen Topfes! Nehmt ihn ab, wühlt im Golde mit beiden Händen, es ist Euer, alles Euer; Geerd Kluin brachte die letzten Taschen voll an jenem Abend hierher, er mußte schon früher hier gewesen sein, denn das Gefäß war voll bis zum Rande. Und nun ist er tot, Ihr seid sein einziger Erbe!«
Onnen hatte in diesem Augenblick Ohren, aber er hörte nicht, es war ihm, als träumte er. Selbst seine jungen Kräfte konnten das Eisengefäß nicht von der Stelle bringen, er tauchte den Arm in die goldene Flut und suchte umsonst den Boden – es mußten Tausende, viele Tausende hier aufgespeichert liegen.
Und Geerd Kluin, der Eigentümer dieser ganzen Summe, der reiche Mann war in Hamburg des langsamen Hungertodes gestorben!
»Fülle deine Taschen«, mahnte die Alte. »Du mußt zehnmal gehen, bevor der goldene Segen ganz gehoben ist!«
Die Stimme der Frau brachte ihn zur Besinnung; er streckte ihr beide Hände entgegen. »Aheltje, alte Aheltje, du hast während dieser zwei Jahre Hunger und Frost gelitten, du warst krank und hilflos, aber dieses Geld berührtest du nicht; nahmst davon keinen Pfennig, obwohl außer dir niemand das Geheimnis kannte?«
Die Alte lächelte. »Ist das etwas so Großes, Herr? Und überdies, ich war dem armen Kapitän Visser so vielen Dank schuldig, daß mich‘s freute, einiges davon seinem Sohne abtragen zu können. Der Gedanke an das Geld hat mich nie verlockt.«
»Desto mehr und reichlicher wird Euch davon jetzt zuteil werden«, rief der junge Mann. »Kommt, Aheltje, ich bringe Euch vorläufig in Eure Hütte, aber noch an diesem Tage sollt Ihr ein Quartier bei zuverlässigen Leuten erhalten – alle Eure Not hat jetzt ein Ende, Frau, Ihr könnt noch wieder genesen und Eure Tage in Ruhe beschließen.«
Sie lächelte matt. »Ich danke Euch, Herr – für solch eine Unglückliche, wie ich bin, sind Eure freundlichen Worte Balsam, aber zur Ausführung wird‘s nicht kommen; ich sagte Euch ja, der mit der Sense wartet ungeduldig.«
»Und soll auch noch länger warten, Aheltje!«
Sie schüttelte ruhig den Kopf. »In Euren Jahren will man von ihm nichts wissen, junger Herr«, sagte sie, »in den meinigen ist er Freund und Erlöser. Wenn Ihr aber«, setzte sie hinzu, »einer armen alten Frau so recht etwas Liebes, Gutes erweisen wollt, dann helft mir über ein paar hohe Wände zu kommen, da drüben hinter den Gebüschen. Ich möcht‘ gern einmal hinunter sehen in den tieferen Grund!«
Onnen hatte schon seine Taschen gefüllt und den Sand wieder über den Deckel gescharrt, jetzt trug er die Alte sorgfältig und dankbar bis an den Kamm, von welchem sie gesprochen hatte. »Nun, Aheltje, was gibt es denn da unten?« sagte er.
Sie stützte sich fest auf ihn, um lange und unverwandt hinabsehen zu können. »Da im Sande liegt meine Katze begraben«, sagte sie mit leiser Stimme, »gerade unter dem einzelnen Busch – ich hab‘ mit meinen eigenen Händen das arme Tier eingescharrt und ihm die Erle auf seine Ruhestätte gepflanzt. Es war wohl nur eine Katze, Herr, aber für mich doch das letzte, was ich lieb hatte. Ich danke Euch, daß Ihr mich herbrachtet!«
Onnen schwieg gerührt; er brachte die Alte bis auf den ebenen Strand hinaus und führte sie dann noch in ihre Hütte. Aheltje lächelte mit glücklichem Gesicht. »Nun ist der letzte Wunsch erfüllt«, murmelte sie, »die letzte irdische Pflicht getan – der Sensenmann kann kommen.«
Unser Freund stand unschlüssig, er wußte nicht, ob er es wagen dürfte, die Unglückliche zu verlassen – ihr Gesicht erschien ihm so seltsam verändert, er glaubte, daß sie in jedem Augenblick sterben könne.
Aber Aheltje selbst schickte ihn fort. »Denkt nicht an mich, Herr, bringt nichts hierher, weder Menschen noch Sachen – sorgt nur, daß das Geld in Sicherheit komme.«
Er dankte ihr nochmals mit beredten Worten, versprach, am nächsten Tage wieder vorzusehen und eilte nach Hause, trunken vor Freude.
Daß ihr Bruder gestorben sei, wußte Frau Douwe bereits seit gestern, heute erfuhr sie die letzte unerwartete Nachricht und willfahrte sogleich dem Wunsche ihres Sohnes, sich selbst in die Hütte der Alten zu begeben. Onnen seinerseits ging mit dem Zigeuner sogleich wieder hinaus in die Dünen und beide holten nun heim, was der eiserne Topf barg.
Zwanzigtausend Taler in lauter Goldstücken. »Freue dich, Mikosch, freue dich, nun ist deine Schenke bezahlt! Fange an zu nähen, vergiß den dänischen Staatsbankrott und die Tage der Not in Hamburg – Hurra! Hurra! jetzt ist alles gut!«
Mikosch wollte nicht annehmen, was ihm Onnen in der Fülle seiner Herzensfreude darbot »Das wäre zuviel, Herr, viel zuviel – es müßten ja an tausend Taler sein!«
Onnen lachte ihn aus. »Das Doppelte, Alter, das Doppelte. Nähe, nähe, daß der Ledergürtel rund wird wie ein Vollmond!«
Er war vor Freude fast außer sich; auch Alexei erhielt ein stattliches Geschenk und nicht minder Onkel Martin, dem die Franzosenwirtschaft schwere Schäden zugefügt hatte. Jetzt brauchte Frau Douwe nicht mehr hinauszugehen auf das Watt, alle Sorgen waren verscheucht, alle Wünsche erfüllt.
Gegen Abend, als seine Mutter aus der Hütte der Alten zurückkehrte, sah Onnen auf den ersten Blick, was sie ihm sagen wollte. Aheltje war tot!
»Hast du sie denn noch lebend gefunden, Mutter?«
Frau Douwe nickte. »Sie erkannte mich gleich, ich konnte ihr in deinem Namen danken, mein Junge, auch ein paar Tropfen Wein hat sie getrunken und mir dann zugeflüstert: ›Es ist doch gut, daß ich nicht so ganz verlassen sterben muß!‹ Einige Minuten später war sie hinüber.«
Onnen erzählte seiner Mutter von dem Grab der Katz und wie die arme Aheltje das Tier geliebt. Frau Douwe hatte Tränen in den Augen. »Gottlob, daß endlich der Tod kam«, sagte sie und fügte dann, auf die Straße hinausdeutend, bei: »Auch da geht einer, dem es besser wäre, wenn ihn die Erde in ihren Schoß aufnähme – kennst du ihn, Onnen ?«
Ihr Sohn sah auf. »Peter Witt«, rief er. »Wie verändert ist der Mann!«
Draußen ging der Verräter über die Straße, oder stolperte vielmehr, mit starren Blicken vor sich hinsehend, weiter. Er sprach immer halblaut, das Haar hing verworren um seinen Kopf herum, der Anzug war unordentlich und das ganze Wesen gestört. Sobald ihm irgendein Mensch begegnete, wich er aus, als drohe ihm eine plötzliche Gefahr.
»Witt ist vollständig blödsinnig«, berichtete Frau Douwe. »Wieviel unsägliches Elend aller Art haben doch die Franzosen über unser Land gebracht!«
»Dafür hat sie nun auch die gerechte Strafe ereilt, Mutter – denke nicht mehr an die Vergangenheit. Komm, komm, du mußt nicht weinen, wir sind ja nun reiche Leute, dein Sohn kann die Steuermannskunst erlernen und wird es mit der Zeit und Gottes Hilfe sicher wieder zu einem eigenen Schiff bringen!«
Und so geschah es auch wirklich, obwohl erst in späteren Jahren. Der Abschied von Mikosch und Alexei schlug dem Herzen unseres Freundes tiefe Wunden, er stand mit den beiden am Strand und konnte sich von ihnen nicht trennen, so oft auch das Lebewohl schon gesprochen worden war. »Grüße deine Söhne, Alter, deine Frau, den ganzen Stamm! Wir haben doch so viele frohe Stunden miteinander verlebt! Ich bin dir so unendlich vielen Dank schuldig!«
Der Zigeuner schüttelte den Kopf. »Leb wohl, Herr, leb wohl! Du schreibst mir hin und wieder einmal, denke ich! – meinen Aufenthalt erfährst du, sobald ich einen festen Wohnsitz gefunden habe!«
»Gewiß, Mikosch, Gott sei mit dir, du lieber alter Freund!«
Noch ein Händedruck und das Boot stieß ab. Onnen sah ihm nach, bis die Ferne den Blick trübte. Mikosch und Alexei winkten ihm mit Hüten und Händen, Ruff sandte noch einmal über das Wasser einen langgezogenen Ton seiner gewaltigen Stimme, dann war alles vorbei.
Aber nicht für immer. Jeder der drei jungen Leute suchte und fand schon sehr bald Dienste in der Handelsmarine, Feiko und Onnen sogar auf einem und demselben Schiff. Die Nachricht, daß Napoleon von Elba entflohen sei und daß die Feindseligkeiten aufs neue beginnen würden, rief alle drei als Freiwillige zu den Waffen. Die Hanseatische Legion war allerdings aufgelöst, aber doch kämpften auch Hamburgs Söhne gegen den Erbfeind, und mit ihnen, an der Seite so manches alten Bekannten, unsere drei Freunde.
Hier, auf Frankreichs Boden, war es, wo Onnen ganz unerwartet den alten Zigeunerhauptmann wiedersah – abermals als Kundschafter.