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Kitabı oku: «Onnen Visser», sayfa 44

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»Hölle und Teufel«, rief er, »was ist das?«

Ein Kommando in russischer Sprache antwortete ihm. Er kannte es, er hatte es gehört auf jener wilden Flucht seines Volkes aus Rußlands verwüsteten Gauen – Grimm und rasende Wut trieben den Menschen ohne Gewissen zum Äußersten; er packte urplötzlich mit dreistem Griff die Kehle des jungen Burschen und hielt sie fest umklammert. Ein Sprung aus dem zerschlagenen, von befreundeter Hand ganz geöffneten Fenster, und er stand, sein Opfer nach sich ziehend, draußen.

»Jetzt schießt, wenn ihr wollt!« rief er. »Im selben Augenblick stirbt dieser Junge!«

»Erbarmen!« schrien die Frauen, »Erbarmen! Laßt die Leute unbehelligt abziehen! – Ach großer Gott, der Johannes stirbt, er ist schon ganz blau im Gesicht!«

Einige Augenblicke stutzten die Kosaken – Planchard lachte laut »Krümme dich, Wurm!« rief er, den Knaben schüttelnd. »Deine Leiche bezahlt mir niemand.«

Aber diese Lästerung sollte die letzte sein. Schon seit einer Viertelstunde hatte das Gewitter an Stärke bedeutend zugenommen; jetzt trafen Blitz und Donner zusammen, der ganze Himmel schien in gelbe und blaue Flammen gehüllt – gespalten bis auf den Erdboden schwankte ächzend eine alte Pappel, an deren Stamm der Franzose sich gelehnt hatte. Er selbst, der Verächter aller göttlichen und menschlichen Gesetze, er selbst fiel schwer wie ein Stein auf das durchnäßte Gras, seine Hand ließ die Kehle des Knaben fahren, seine Lippen hatten keinen Laut hervorgebracht – er war tot, das Gesicht schwarz und entstellt.

Auch der Sohn des Bauern lag betäubt. Fluten von Regen stürzten herab, Blitz folgte auf Blitz – erst nach minutenlanger Betäubung kam in die Anwesenden soviel Ruhe zurück, daß sie hinauseilten, um den jungen Menschen in das Haus zu tragen.

Der alte Schäfer, einer der vorhin geknebelten Männer, wurde herbeigeholt, um seine ärztlichen Erfahrungen zur Geltung zu bringen; die Kosaken durchforschten das ganze Haus, und als sie innerhalb desselben keinen der Plünderer fanden, stellten sie an allen vier Ecken Doppelposten aus – dann kamen die Nebengebäude an die Reihe.

Auch diese waren leer. Die Räuber hatten es nach dem Tode ihres Anführers vorgezogen, schleunigst das Weite zu suchen. Im strömenden Regen, unter Blitz und Donner waren sie entflohen, hinaus auf die öde Heide, dem Verderben entgegen.

Auch in den Stall kamen die Kosaken und unsere Freunde wurden hervorgeholt. Es gelang ihnen natürlich leicht, ihre völlige Schuldlosigkeit zu beweisen; der Bauer erlaubte ihnen in der Freude seines Herzens sogar, den Bären in das warme Nest der erschlagenen Kuh zu bringen und für sich selbst im Hause Quartier zu nehmen. Noch hatten des Schäfers Bemühungen keinen Erfolg gehabt; erst als Mikosch hinzukam, erholte sich der Knabe und konnte flüsternd seiner überglücklichen Mutter einige Silben antworten.

Wie ein Wirbelwind waren die Deserteure über das kleine Heimwesen hergefallen und ebenso schnell wieder verschwunden; welch einen Schaden aber ihr kurzer Aufenthalt verursacht hatte, das zeigte sich erst ganz, als die Sonne hoch am Himmel stand. Draußen auf dem Hofe lag die erschlagene Kuh, in den Hürden die getöteten Hunde und ringsumher die abgerissenen Köpfe der Hühner und Gänse. Das Heu war zertreten, die Gartenfrüchte vernichtet und – als das ärgste – alle Schafe verjagt. Aus der geöffneten Pforte hervorstürzend, hatten sie das Weite gesucht und waren vielleicht während des heftigen Gewitters in den Wassertümpeln der Heide ertrunken oder fremden Händen zur Beute gefallen. Der Schäfer machte sich sogleich auf, um seine verlorenen Lieblinge wieder einzufangen. Im blauen Leinenkittel, den Knotenstock in der Rechten und den Zwerchsack mit Brot und Speck auf der Schulter, so wanderte er aus, Tränen in den ehrlichen alten Augen.

»Meine armen Hunde!« sagte er traurig. »Ich habe sie alle drei großgezogen! – Bauer, du mußt sie vergraben; sie dürfen so nicht liegenbleiben!«

»Ja, ja, Schäfer«, antwortete der Alte. »Soll geschehen! Hat mir doch mein Hannes keinen Schaden gelitten, deshalb will ich zu allem anderen schweigen.«

Der Schäfer nickte immer traurig vor sich hin. »Der liebe Gott mag mir‘s nicht als Sünde anrechnen«, sagte er, »aber ich habe meine Tiere ebenso lieb wie du deine Kinder, Bauer. Sieh, da liegen die Köpfe von den Schafen, die sie totgemacht haben! Mutterschafe, ist das nicht himmelschreiend? Das da hat zwei kleine Lämmer!«

Er hob den Kopf eines der getöteten Tiere empor und betrachtete ihn voll Trauer. »Ich kenne jedes wieder«, sagte er, »das da war die graue Mike!«

Und dann machte er sich auf, ganz allein, um die Verlorenen zu suchen. Der Bauer und sein zweiter Sohn gruben unterdessen hinterm Stall ein Loch für die toten Tiere, während Mikosch und die übrigen Fenster und Türen wiederherstellten und den Frauen halfen, das verwüstete Haus einigermaßen in Ordnung zu bringen.

Gegen Mittag, nachdem jede Gefahr einer Wiederkehr der Räuber ausgeschlossen schien, nahmen die Kosaken ihren Weg wieder auf, wogegen unsere Freunde noch bis zum folgenden Morgen blieben, um dann, nachdem sie ausgeschlafen hatten, die Reise nach Bremen weiter fortzusetzen.

Ein öder mühevoller Weg ohne Schatten oder irgendeine Erquickung für Leib und Seele. Es ging immer durch die baumlose Wüste, immer vorbei an unsäglich armen, vereinzelten Bauernhäusern, bis endlich die Umgebung der Stadt erreicht war. Hier zeigten sich die Spuren der Franzosenherrschaft in vielen verbrannten Gehöften und in dem Mangel aller Arbeitspferde, aber dennoch ungleich geringer als in dem zu Grunde gerichteten Hamburg. Einzelne große Kontributionen waren ausgeschrieben worden und einzelne Regimenter hatten auf eigene Faust geplündert, aber im allgemeinen war Bremen doch von dem Schicksal des Besiegten nur leicht getroffen worden.

Die Sonne schien hell, als unsere Freunde einzogen. Nun nur noch ganz kurze Zeit und das Ziel war erreicht.

Mikosch und Onnen machten sich, nachdem in einem Wirtshause nahe an der Weser Quartier genommen worden war, sogleich auf, um unter den Schiffern draußen im Hafen nach einer Fahrgelegenheit zu spähen. Größere Schiffe konnten schon damals nur bis zur Mündung des seichten Stromes, dem heutigen Bremerhaven, gelangen; aber vielleicht fand sich eine Fischerschaluppe, die nach einer der Inseln in See ging, vielleicht gar ein Freund aus früheren Tagen – Onnens Herz schlug schneller, so oft er unter einen Südwester sah.

Am Ufer lagen Kähne und Schaluppen, weiße Segel flatterten im Abendschein. Onnen hätte die Arme ausbreiten und alles, was er sah, an seine Brust ziehen mögen.

Vor den Türen saßen rauchend in gemütlicher Ruhe Matrosen und Schifferknechte. Ostfriesisches Plattdeutsch mischte sich mit holländischen und englischen Wendungen, es wurde geschwatzt und gelacht; derbe, wetterbraune Seeleute gaben ihre Erzählungen zum besten, andere, echte Philisterseelen, hörten andächtig mit geheimem Gruseln die Berichte dieser unerhörten, schrecklichen Gefahren, während kleine Kinder im Ufersand spielten, hie und da eine Katze die Glieder behäbig streckte, blinzelnd und nach den vorübersummenden Fliegen schnappend in träger Ruhe.

Onnen las die Namen der schaukelnden Schaluppen und sein Herz zog sich zusammen in bitterem Weh. Keine einzige aus Norderney!

Die Franzosen mußten alles geraubt und entführt haben, was in ihre Hände geriet. Wie Hamburg unter den deutschen Festlandsorten, so war Norderney unter den Inseln während der letzten bösen Zeit das auserwählte Schmerzenskind des Schicksals.

»Mikosch«, bat Onnen, »laß mich allein gehen. Du bist ermüdet – ich möchte mich nur so gern überzeugen, ob kein Norderneyer Fahrzeug hier liegt.«

»Das sollst du auch«, nickte der Alte. »Wir müssen uns bei diesen Leuten erkundigen, glaube ich. Einer kennt den anderen.«

»Ja, ja, laß uns in diese Schenke gehen! Ach Mikosch, was wird aus uns, wenn sich keine Schiffsgelegenheit findet?«

»Dann gehen wir zu Fuß bis Hilgenriedersiel oder Norddeich, Herr! Willst du jetzt, nun wir gleichsam im Hafen sind, ungeduldig werden?«

»Ja!« gestand Onnen. »Ja! – Ach, wenn ich ein bekanntes Gesicht sähe, nur eins!«

»Komm jetzt, da ist eine Bank frei; wir wollen Erkundigungen einziehen.«

Sie setzten sich und der Wirt wurde herbeigerufen. Nachdem ein Abendessen bestellt worden war, knüpfte Onnen ein Gespräch an; wie zufällig erkundigte er sich, ob keine Norderneyer Schaluppe gegenwärtig sei.

Der Wirt schüttelte den Kopf. »Die Norderneyer zimmern mit Eifer neue Schaluppen«, sagte er, »alle vorhandenen haben ihnen die Franzosen genommen.«

Onnen sprang auf. »Alle?« rief er, »auch die ›Taube‹?«

»Wem gehörte sie? Ach, ich weiß schon, dem erschossenen Kapitän Visser! – Ja, die und Heye Wessels ›Sturmvogel‹ sind nach Frankreich gebracht worden, denn es meldete sich bei der Versteigerung kein Käufer, niemand mochte an sich bringen, was den ermordeten Leuten geraubt worden war. So ging es auch mit den Häusern; da die Franzosen diese nicht davonschleppen konnten wie die Schiffe, so blieben sie leer stehen – jetzt haben die Erben natürlich längst alles zurückerhalten.«

»Auch meine – auch die Witwe Visser, Herr Wirt?«

»Jawohl, auch diese. Kennen Sie die Leute genauer?«

»Ja! – Ja!«

»Nun, dann will ich einmal einen Mann herbeirufen, der Ihnen vielleicht noch mehr erzählen kann als ich.«

Er wandte sich zum Hause und pfiff laut »Du, Holtmann, komm doch einmal heraus!«

Ein Gähnen antwortete ihm, dann erhob sich jemand recht schwerfällig von der Bank und kam auf die Straße gestolpert. »Na – was gibt‘s denn, he?«

Ein Freudenschrei von Onnens Lippen antwortete ihm. »Tietze Holtmann!«

Es war wirklich der riesige Baltrumer mit dem guten Gesicht und den Händen wie mäßige Teller. Jetzt stand er neben unserem Freunde und nahm vor Erstaunen die Pfeife aus dem Munde. »Mit Verlaub, Herr – ich kenne Sie nicht!«

»Aber Holtmann! Sehe ich denn meinem armen Vater gar nicht ein wenig ähnlich? Erinnert dich mein Gesicht —«

»Allstunds!« rief plötzlich der Baltrumer. »Allstunds! – Du bist Onnen Visser, der als Knabe vor zwei Jahren von hier fortging, und jetzt als Mann zurückkommt!«

»Endlich, Holtmann, endlich, nun die Franzosen zum Tempel hinausgefegt sind!«

Sie schüttelten sich die Hände und auch der Wirt kam hinzu, um den Sohn eines alten Freundes zu begrüßen. »Ich hätte es eigentlich gleich sehen müssen«, sagte er. »Der junge Herr ist ja dem Vater selig wie aus den Augen geschnitten. Armer Visser, nun wir das Elend überwunden haben, wird der Gedanke an ihn doppelt traurig. Es scheint umsonst, daß er fallen mußte!«

Der Baltrumer schüttelte den Kopf. »Nein!« rief er mit kräftiger Stimme, »nein, es war nicht umsonst. Die ungeheuren, furchtbaren Opfer, welche wir bringen mußten, das Andenken unserer Toten hat uns endlich vermocht, die Sklavenketten abzuschütteln. Gerade sie, die Ermordeten sind es, aus deren Gräbern hervor der stärkste Mahnruf erklang!«

Onnen wandte sich ab. Im Augenblick überwältigte ihn das alte Leid vollständig.

Tietze Holtmann ließ eine Flasche Wein bringen, auch Mikosch wurde hinzugezogen und nun ging es an ein Erzählen, bei dem die Stunden vorüberflogen wie Minuten. Denen in Bremen war jedenfalls die Zeit lang geworden, denn aus der Dunkelheit hervor tönte plötzlich Feikos Stimme mit einem lustigen »Ahoi! Also hier liegt die Gesellschaft vor Anker?«

Mehr Stühle wurden herbeigeschafft, auch Georg und der Steuermann begrüßten den alten Bekannten und zechten tapfer mit, so daß an eine Rückkehr zur Stadt, der späten Stunde wegen, gar nicht mehr gedacht werden konnte. Endlich erkundigte sich Onnen, ob der Baltrumer mit seiner Schaluppe hier sei und wann er segeln wolle.

Die Antwort klang etwas herabstimmend. »Unter drei Tagen ist‘s nicht möglich. Bis dahin muß ich Fracht einnehmen.«

»Nach Baltrum?« rief Feiko.

»Nein, nach Emden.«

»Und es ist niemand hier, der schon morgen die Anker lichtet?«

»Keiner; das weiß ich gewiß.«

»So laßt uns zu Fuß gehen«, riet Mikosch. »Von Bremen nach Emden ist eine nur sehr wenig weitere Reise, als die von Hamburg nach Bremen.«

»Schrecklichen Andenkens!« setzte Feiko hinzu. »Es ist doch besser, wir warten, denke ich. Von Emden nach Hilgenriedersiel ist‘s dann immer noch ein recht hübscher Spaziergang.«

»Und morgen«, meinte der Wirt, »morgen können ja die jungen Herren den berühmten Bleikeller ansehen; auch das ist etwas sehr Interessantes.«

Bei diesem Beschlusse blieb es; der Wirt gab den anspruchslosen Gästen für die Nacht ein Quartier, und am nächsten Morgen wurde das Wirtshaus in der Stadt wieder aufgesucht. Alexei hatte treulich als Ruffs Hüter ausgehalten, jetzt aber übernahmen Feiko und Georg, da sie den Bleikeller schon kannten, statt seiner die Wache, während die drei anderen fortgingen, um das Wunder von Bremen, den Keller der alten Domkirche, anzusehen.

Draußen glühte das Straßenpflaster unter den sengenden Strahlen der Junisonne; hier drinnen im Heiligtum empfing eine beinahe bis zur Kälte gesteigerte wundervolle Kühle die Wanderer wie ein wahrer Segen. Durch einen sehr bescheidenen Seiteneingang, vorüber an der unter dem Dache des Domes mitenthaltenen Küsterwohnung, gelangten die drei zuerst in das ziemlich einfache Schiff der Kirche und dann links ab, über zwei Stufen in den berühmten Raum, der eigentlich kein Keller ist, sondern mit der Straße auf gleicher oder doch nur sehr wenig verschiedener Höhe liegt. Eine sonderbar trockene, die Lungen beklemmende Luft wehte ihnen entgegen.

Mikosch sah die Reihe der offenen, uralten Särge mit ihrem Schnitzwerk und den überaus hohen Deckeln, dann in denselben die Leichen, deren Formen, vollständig erhalten, eine Art von Holzfarbe zeigten; etwas unruhig wandte er sich zu seinem Begleiter.

»Herr, das sind Puppen, nicht wahr?«

Onnen winkte ihm verstohlen. »Nein, Alter, es sind Menschen wie du und ich, nur durch die besondere Zusammensetzung der Luft in diesem Räume vor der Zerstörung bewahrt. Sieh, das hier ist eine schwedische Gräfin, das ein Student, der im Duell fiel und dort —«

Mikosch hob die Hand. »Laß nur, Herr! Bitte, laß nur – ich sehe schon.«

Seine und Alexeis Blicke trafen sich. Die beiden Söhne des wandernden Stammes brachten ganz heimlich jeder die rechte Hand in die Falten ihrer Gewänder und zwar genau dahin, wo unter der braunen Haut das Herz schlug. Ohne Zweifel hing dort irgendein heidnisches Amulett, das sie berührten, um dem Einflüsse zauberhafter Gewalten gegenüber vollständig gerüstet zu bleiben. Daß Tote, die vor Jahrhunderten gestorben waren, heute noch wohlerhalten, wenn auch beinahe schwarz daliegen sollten – nun, das konnte ja nur durch Hexerei bewerkstelligt werden.

»Rühre nichts an«, raunte Mikosch. »Der Zauberer könnte hier wohnen.«

Alexei deutete verstohlen auf eine Katze, welche mit gekrümmtem Buckel auf einem Brett stand. »Dort!« flüsterte er.

Mikosch begann zu murmeln. Was er sprach, war ohne Zweifel ein Zaubersegen.

Der Führer nahm die Katze herab und zeigte sie seinen Gästen. »Das Tier steht etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre hier im Bleikeller«, sagte er, »diese Vögel ebenso lange, der Hund da erst seit drei Jahren.«

Ein großer, schöner Pudel von schwarzer Farbe lag auf dem Steinfußboden, genau als habe er eben den Kopf zwischen die Vorderpfoten gesteckt, in so natürlicher Stellung, daß selbst Onnen von Erstaunen ergriffen wurde. »Sieh doch nur, Mikosch«, rief er. Der Zigeuner wäre um keinen Preis der Welt an dem gespenstigen Wesen vorübergegangen. »Ich sehe, Herr«, sagte er. »Gewiß, ich sehe.«

Und dann betete er wieder emsig weiter.

Onnen nahm alles in Augenschein, den englischen Offizier und den Zimmermann, welcher schon beim Bau der Kirche vom Gerüst fiel und seitdem dort im offenen Sarge liegt. Die Leichen waren hart wie Stein und selbst die Fingernägel wohl erhalten. Bekleidet hatte man sie nur mit einem leinenen Gürtel, dem bei der schwedischen Gräfin außerdem noch eine Haube hinzukam.

»In den übrigen Räumen des Gebäudes ist die gleiche Erscheinung niemals beobachtet worden?« fragte Onnen den Führer.

»Niemals. In diesem mäßig großen Zimmer erhält sich jeder Körper so, wie er im Leben war – zwei Schritte darüber hinaus ist die Luft ebenso zusammengesetzt wie draußen auf der Straße.«

»Aber die Leichen werden hart und mit der Zeit dunkel?«

»Ja – der Zimmermann ist vollständig versteinert; er liegt seit mehreren Jahrhunderten hier.«

Onnen schüttelte sich. Gerade diese Leiche hatte ihm, des weit offenen Mundes wegen, den unangenehmsten Eindruck verursacht. »Es ist sehr interessant, den Bleikeller zu sehen«, dachte er, »aber es erfordert starke Nerven.«

Dann erhielt der Führer ein Trinkgeld und die drei Männer standen wieder draußen auf der Straße – Mikosch und Alexei wie von einem Bann erlöst. »Herr«, sagte tiefatmend der Alte, »Herr, ich will dir zu Wasser und zu Lande durch die ganze Welt folgen, durch jede Gefahr von Menschen oder Tieren, aber da hinein gehe ich nicht wieder.«

Alexei nickte. »Ich auch nicht«, gestand er.

Onnen lachte sie aus. »Und warum denn nicht?« fragte er belustigt.

Die Zigeuner schwiegen. Der Pudel oder die Katze, eins von beiden besaß den Zauber, sie wußten es sehr wohl, hüteten sich aber, ihre Ansicht auszusprechen; Onnen würde ja doch nicht geglaubt haben, was sie als ganz sicher annahmen, daß nämlich die Toten alles sahen und hörten, ohne sich regen zu können, bezaubert von dem Unhold, welcher selbst neben ihren Särgen Wache hielt.

»Du willst doch nicht wieder hineingehen, Herr?« fragte nach einer Pause der Alte. »Jetzt nicht, du törichter Mikosch. Dachtest du vielleicht an den Upyr?«

»Es ist immer besser, die bösen Geister in Ruhe zu lassen, Herr! Sieh, da liegt das Rathaus – du wolltest es ja besehen, nicht wahr?«

»Wenn ihr mitgeht, sonst nicht.«

Sie traten in die geöffnete Halle und stiegen die Wendeltreppe hinauf bis zum großen Ratssaale, in dem eine Kompanie bequem exerzieren könnte. Kleine bunte Scheiben führten an einer Seite hinaus zum Marktplatz mit dem steinernen Brunnen und dem gewaltigen, aus alter Zeit stammenden Roland; die andere, innere Seite war geschmückt mit vielen Sprüchen und den Bildern von Schiffen. Onnen wurde lebhaft an das Emdener Rathaus erinnert, seine Augen glänzten vor Vergnügen. »Das ist noch schöner«, dachte er, »hier fehlt der hohe gewölbte Bogen, welcher die Straße hindurchgehen läßt – o ja, das Emdener Rathaus ist schöner.«

»Wollen wir einmal hinausgehen«, sagte er, »und nachsehen, was Tietze Holtmann treibt?«

Der Vorschlag wurde angenommen. Feiko und Georg schlossen sich an, Ruff war diesmal mit von der Partie und bald hatte die kleine Gesellschaft, wie gewöhnlich, Scharen von Zuschauern hinter sich.

Wo heute Alt- und Neustadt auseinandergehen, am Ufer des Weserstromes, schaukelte der »Seestern«, des Baltrumers Schaluppe, deren innerer Raum mit Stückgütern angefüllt wurde. Die Stauer arbeiteten emsig und der Patron hantierte am Segelwerk herum, er schob den Hut in den Nacken und grüßte lustig. »Übermorgen früh kann‘s losgehen, Kinder! Hurra für Ostfriesland, für Norderney und Baltrum!«

Die drei jungen Leute kletterten zu ihm an Bord und halfen, wo es irgend möglich war, indes die Zigeuner ihren Bären tanzen ließen und beständig der Mittelpunkt einer dichtgedrängten jubelnden Menge blieben. Ähnlich verging auch der zweite Tag, dann kam jener goldene Morgen, an dem es heimging, hinaus auf den Strom und das offene Meer. Onnen hätte vor Freude am liebsten getanzt.

»Armer Mikosch«, sagte er, den Alten mit beiden Armen umfassend, »armer Mikosch, nun bist du auf dem Wasser, trotz deiner grimmigen Abneigung gegen dasselbe – und alles nur für mich!«

Der Zigeuner lächelte. »Man schießt ja hier nicht mit glühenden Kugeln«, sagte er. »Es war etwas anderes, als du damals von Hamburg nach der Wilhelmsburg hinüberrudertest, Herr! – Ich möchte jene Stunden nicht nochmals durchleben.«

Onnen drückte ihm gerührt die Hand. »Wie wird es uns beiden sein, wenn wir auseinandergehen müssen, Alter? Ich mag nicht daran denken.«

Der Zigeuner nickte. »Mir will‘s vorkommen, als sei das ganz unmöglich, Herr! Eure jungen Gesichter nicht mehr sehen, deine Stimme nicht mehr hören – das wird sehr traurig sein. Ich muß mich nur gleich aufmachen und mit dem Stamm nach Spanien oder Italien gehen; so eine fremde Umgebung bringt andere Gedanken, hilft die Sehnsucht überwinden.«

Onnen fühlte, daß er errötete. »Mikosch«, sagte er mit gepreßtem Tone, »hast du deinen Vorsatz in betreff einer Branntweinschenke jetzt aufgegeben?«

»Vorläufig, ja. Aber ich komme doch zum Ziel, Herr, da sei du nur ohne Sorgen.«

Onnen ergriff seine beiden Hände. »Mikosch, fehlt dir eine so große Summe?« fragte er traurig. »Ehe wir scheiden, muß das alles zu Papier gebracht und ganz genau berechnet werden; wir alle drei, Georg, Feiko und ich, wollen dir jeden Pfennig abtragen! Sage mir, wieviel hast du verloren?«

»Ach was, du solltest doch von anderen Dingen sprechen, Herr!«

»Nein, nein, ich will es jetzt wissen.«

Der Zigeuner lächelte freundlich. »Nun denn, so vergiß die Sache, Herr. Das Geld ist fast alles dahin – die Unglückszeit in Hamburg kostete zu viel.«

»Mikosch!«

»Was denn weiter? Wir mußten doch leben. Es sind nun bald zwei Jahre, seit wir miteinander durch die Welt ziehen; damals warst du ein bleicher, langaufgeschossener Knabe, jetzt bist du ein junger Mann, dessen Bart zu keimen beginnt. Vergiß das Geld, sage ich dir!«

»Nie!« versicherte Onnen, »nie, so wahr ich lebe. Und wenn mir das Blut unter den Nägeln hervorspritzen sollte, so will ich diese heilige Schuld abtragen.«

Ganz ähnlich sprachen auch die beiden anderen. Georg wollte das Haus des verstorbenen Vaters zu verkaufen suchen und mit seiner Hälfte des Erlöses die Steuermannskunst erlernen, Feiko hatte schon in Bremen mehreren Personen den Auftrag gegeben, ihm eine Stellung an Bord eines Kauffahrers zu besorgen, und so blieb nur Onnen, der einstweilen als Leichtmatrose fahren mußte, aber auch dieser war guten Mutes. »Du hast doch den Rubel des Einsiedlers noch?« fragte er den Alten.

»Der sitzt an seiner gewohnten Stelle.«

»Nun, dann sammelt er auch wieder allerlei Genossen um sich. Sieh nur das Wasser, Alter, jetzt kommen wir bald in die Nordsee hinaus! Ist‘s nicht prächtig?«

Über diesen Punkt war Mikosch durchaus anderer Meinung, er freute sich allemal, wenn das nächste Gewässer einige Meilen entfernt lag, und sprang auch jetzt nach glücklicher Fahrt in Emden mit innerlicher Genugtuung ans Land. So bald wollte er den festen Boden nicht wieder verlassen.

Tietze Holtmann mußte an Bord bleiben, um die Arbeiten auf seinem Schiff zu überwachen, alle übrigen nahmen für die Nacht in Düke Mommsens Gasthof Quartier. Onnen war so erregt, daß er kaum zu sprechen vermochte.

Wie oft hatte er in verschiedenen Verkleidungen die Lederpuppen voll Tee oder Kaffee hierher gebracht, wie oft mit dem schlauen Wirt die französischen Zollwächter hinter das Licht geführt. Poppinga und Sohn! – in welcher Ecke mochten sie neben anderem Gerümpel wohl jetzt ihr Dasein beschließen?

Duke Mommsen kannte ihn gleich. »Herrjemine, das ist Onnen! Willkommen zu Hause, alter Junge! Jetzt brauchst du dich nicht mehr zu verstecken.«

»Gott sei gepriesen, nein! Monsieur Renard hat das Feld räumen müssen, nicht wahr?«

Der Wirt verzog die Lippen. »Wie du es nehmen willst, mein Junge! Eines Tages verfolgte er mehrere Schmuggler auf das Watt hinaus und geriet dabei in eine Rille, wo er ertrank. Diese Leute fischten sämtlich im Trüben, sie wollten zuviel verdienen und stürzten sich daher blindlings in Abenteuer, die sie später nicht ausführen konnten. Monsieur Renard liegt hier in Emden begraben – den anderen, den Polizeidirektor Lemosy, hat das Volk mit Steinwürfen hinausgejagt. Welch ein Jubel hier herrschte, wie die Königsberger Landwehr empfangen wurde, das zu beschreiben wäre unmöglich. Den ganzen Tag läuteten die Glocken, auf den Straßen umarmten sich Leute, die einander nie vorher gesehen hatten; neben dem Pferde des Obersten drängte sich fortwährend die Menge, um seine Hände, seinen Degen zu küssen, um ihm eine Blume zu überreichen oder auch nur schluchzend Gott und dem tapferen Manne für die Erlösung vom Übel zu danken.«

Onnen nickte. »Ich habe es in Hamburg gesehen«, sagte er. »Die Leute lagen zu Tausenden auf ihren Knien und doch standen die Franzosen noch hinter ihnen. Gottlob, daß wir befreit sind.«

Auch Georg mischte sich in das Gespräch. »Lebt die Schwester meines verstorbenen Vaters, Jungfrau Hedde Wessel, noch hier in Emden?« fragte er.

Der Wirt nickte. »Ja, sie lebt, aber lange macht sie es nicht mehr, die Alte. Jungfer Amke ist übrigens bei ihr.«

»Meine Schwester? – Dann will ich zuerst die beiden Frauen besuchen. Adieu, ihr anderen, morgen oder übermorgen folge ich euch.«

Er ging trotz der späten Stunde fort, um die letzte Verwandte, welche er wirklich liebte, nach langer Trennung wieder zu sehen – auch die anderen zerstreuten sich in der wohlbekannten Stadt, fast berauscht von dem seligen Gefühl, endlich wieder zu Hause angelangt zu sein. Weder Onnen noch Feiko vermochten zu schlafen, sie hörten während der ganzen Nacht jeden Stundenschlag und waren schon um sechs Uhr morgens am Hafen, um sich zu erkundigen, ob keine Fahrgelegenheit nach Norderney vorhanden sei. »Heute nicht!« hieß es. »Morgen vormittag segelt eine Schaluppe zur Insel hinüber.«

Das war zu spät. Nein, nein, da ging es zu Fuß doch schneller. Von Emden bis Wirdum konnten sie ohnehin mit einem Bauernwagen fahren. Leere Säcke und Kisten wurden als Sitze benutzt, man rückte ein wenig zusammen, Ruff diente als Fußschemel, und fort ging es, nachdem Düke Mommsen noch mehrere Flaschen und Pakete mit unter das Stroh geschoben hatte. Der Bauer nahm die Trinkgelder, welche ihm dadurch als Nebenverdienst zufielen, aber vor dem harmlosen Ruff empfand er einen gewaltigen Respekt. »Beißt er?« fragte er, von weitem mit dem Peitschenstiel auf den braunen Riesen deutend.

Onnen suchte ihn zu beruhigen. »Der Bär ist das gutmütigste Tier von der Welt, lieber Mann, Sie können ihn ohne weiteres streicheln.«

»Ich werd‘ mich schön hüten! Er schnuppert immer hier herüber, was will er denn eigentlich? – Sieh, sieh, jetzt schon wieder!«

»Ruff, leg dich! Still, mein Tier.«

Aber anstatt diesem Befehl zu gehorchen, erhob sich der Bär auf die Hinterfüße und steckte gegen den Kutschersitz die rechte Pranke aus. Wie der Blitz sprang das Bäuerlein vom Wagen und lief in wahrer Todesangst querfeldein, fest entschlossen, lieber seinen Karren samt Pferd und Ladung preiszugeben, als von dem grimmen Untier gewürgt zu werden.

Ein lautes, lustiges Lachen schallte ihm nach. Ruff hatte bedächtig einen Korb mit Kirschen unter der Bank hervorgezogen und ließ sich den Raub wohlschmecken – mehrere Pfunde waren verschwunden, ehe sich die jungen Leute von ihrer plötzlich erweckten Lachlust einigermaßen erholten. Der flüchtende Bauer sah gar zu komisch aus; seine langen Rockschöße hatte er unter die Arme genommen, den Hut in die Hand, und so stürmte er davon über Stock und Stein.

Mikosch hielt den Wagen an. Alle vier Insassen desselben riefen mit vereinten Kräften dem Bauern zu, daß er sich wieder einfinden möge, aber ganz umsonst, er hörte nichts, sondern rannte mit doppelter Schnelligkeit weiter.

Feiko und Onnen lachten um die Wette. »Ebenso gut könnte man einen Hasen mit der Hand fangen«, rief letzterer.

»Warte, ich weiß ein Mittel, ihn zum Stehen zu bringen.«

Und Feiko lud die Pistole, welche er abschoß. Das half augenblicklich – der Bauer stutzte, hielt an und sah über seine Schulter hinweg, scheu und zaghaft, als wolle er sagen: »Das Ungeheuer sitzt mir doch nicht schon im Nacken?«

Aller Hände winkten ihm. Jetzt stand er wenigstens, aber zur Rückkehr war er vorläufig nicht zu bewegen. »Nein, nein«, seine Hände telegraphierten fortwährend den abschlägigen Bescheid.

Onnen machte sich auf, um ihn wieder herbeizuschaffen. »Kommen Sie doch«, rief er ihm halben Weges entgegen. »Der Bär tut Ihnen kein Leides!«

Aber das Bäuerlein legte seine beiden Hände wie ein Sprachrohr an die Lippen und trompetete mit erhobener Stimme: »Er hat nach mir geschnuppert!«

Onnen mußte also den Weg über das unebene Land, vor Lachen stolpernd, fortsetzen und erst durch langes Parlamentieren den biederen Blaurock zu seiner Pflicht zurückbringen. Er nahte sich nicht eher, bis er aus dem nächsten Zaun einen armesdicken Prügel geschnitten und denselben in die rechte Hand genommen hatte. Nun mochte nach seiner Meinung der Bär kommen.

Als er indessen sah, wie ruhig Meister Ruff die leckere Mahlzeit verdaute, da wuchs ihm der Mut. »Die Kirschen müßt ihr aber bezahlen!« sagte er.

Das wurde ihm feierlichst versprochen, und nun konnte die Weiterfahrt vor sich gehen. Um Mittag war Wirdum erreicht, die kleine Karawane zog nach gehaltener Mahlzeit des Weges weiter und ließ Dorf nach Dorf hinter sich, das Land immer nach der Küstenseite durchmessend, bis endlich der späte Abend herabsank und Mikosch anfing, von einem Nachtquartier zu sprechen. »Ich denke, wir bleiben hier«, sagte er, auf ein Bauernhaus zeigend, das in geringer Entfernung seine roten Mauern erhob. »Es ist spät geworden, Kinder.«

Aber davon wollten die beiden jungen Leute nichts wissen. »Nur noch wenige Stunden, Alter, dann sind wir in Hilgenriedersiel – bitte, gib nach. Wir haben doch wahrhaftig so viel bedeutendere Märsche hinter uns!«

»Oder auch, ihr beide sucht euch ein Nachtquartier und geht morgen früh in aller Ruhe weiter, während Feiko und ich vorauseilen. Wir kennen ja hier herum jeden Schritt des Weges so genau wie unsere eigenen Taschen.«

Aber Mikosch weigerte sich. »Nein, ich selbst will dich nach Norderney bringen, Herr – hab‘ nun einmal meinen Kopf darauf gesetzt. Also vorwärts, die paar Stunden werden uns ja nicht schaden.«

Über den Bäumen der Landstraße erschien das Antlitz des Mondes, ein frischer Wind rauschte in den Zweigen und Sommervögel huschten hier und da durch das Grün. Ruff trabte, jetzt aller seiner Fesseln entledigt, wie ein Hund nebenher; mit jedem einzelnen Schritt wuchs die Erwartung, die Hoffnung der jungen Leute. »Siehst du da den Baum, Onnen?« rief Feiko. »Er steht allein mitten auf der Wiese und ist am ganzen Stamm belaubt; man hat ihn im Hause meiner Eltern gerade vor sich! – Hurra! Hurra! Jetzt nur noch ein kleines halbes Stündchen!«

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Litres'teki yayın tarihi:
30 ağustos 2016
Hacim:
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Public Domain
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