Kitabı oku: «Onnen Visser», sayfa 8
»Ohne meinen Vater? – Das kann ich nicht!«
»Natürlich, Onnen, natürlich. Vielleicht ist er längst drüben in Sicherheit.«
Onnen schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Mensinga. Nein, nein, der Vater wäre nicht geflohen ohne mich!«
Der Wattführer zuckte die Achseln. »Ich weiß davon nichts, aber mir deucht, hier lassen darf ich dich nicht. Nach einer Stunde kommt die Flut.«
Onnen weinte. »Aber wenn nun mein armer Vater verwundet, bewußtlos hier läge – wenn er einsam und verlassen von den Wellen begraben würde?«
Der Wattführer seufzte. »Wahrhaftig, Junge, du quälst mich!« rief er aus. »Wenn jemand für Klaus Visser durch Feuer und Wasser gehen würde, so bin ich es, aber hier ist nichts zu machen – wir müssen eilen, um selbst mit heiler Haut davonzukommen. Nebenbei können auch jeden Augenblick die Franzosen hier sein.«
Der Knabe trocknete seine immer wieder hervorquellenden Tränen und weigerte sich nicht länger, dem erprobten Freunde zu folgen. Aber vorher deutete er noch auf den wehrlos daliegenden Franzosen.
»Was machen wir mit ihm, Mensinga?«
»Wir überlassen ihn seinem Schicksal, das ist einfach genug.«
»Aber die Flut?« flüsterte Onnen. »Wollen wir ihm nicht wenigstens den Knebel aus dem Munde nehmen?«
»Damit er uns seine Spießgesellen auf den Hals zieht? – Denke an all den Jammer, den uns die Franzosen verursachen, und laß dir den Patron nicht leid tun.«
Er zog den Knaben ohne weitere Worte mit sich fort und zu dem Pferde, das er an einen Birkenstamm gebunden hatte. Sie bestiegen es beide, die Zeit drängte – eilig, mit lautlosen Schritten lief das Tier über den lockeren Boden.
Der gefesselte Unteroffizier blieb allein. Eine verzehrende Angst durchflutete alle seine Adern, ließ ihm die Augen fast aus den Höhlen treten – wenn das Wasser kam, so war es um ihn geschehen.
Er versuchte sich zu erheben und fiel wieder zurück, er wollte das Tuch aus dem Munde ziehen und konnte es nicht erreichen. All sein Blut schien Feuer, seine Glieder zitterten.
Sollte denn niemand hierherkommen? niemand?
Man mußte ihn doch vermissen, mußte suchen? – Wie langsam krochen die Minuten, wie unerträglich war dies Warten und Horchen.
Er dachte an das blasse Gesicht des Knaben, den er beinahe mutwillig in den Tod gehetzt. Als Franzose, als Zollbeamter war er nirgends gern gesehen, mußte sich zurückweisen lassen, wo er eine Annäherung versuchte, mußte sich von den Männern bedrohen und von den Frauen verabscheuen lassen, mußte im ewigen Einerlei des strengen Dienstes Jahr um Jahr an den öden Küsten der Nordseeinsel ausharren, das hatte ihn erbittert und gereizt, er wurde grausam, anstatt nur einfach seine Pflicht zu erfüllen, er peinigte und quälte die Fischer, wo es ihm möglich war.
Dann kam der Abend, an welchem ein kleines Boot über das Watt fuhr, eine Nußschale, in der ein halberwachsener Knabe saß. Er rief es an, er wollte auf brutale Weise den Gebieter spielen, und als der arme Junge nicht gleich antwortete, da ließ er das Fahrzeug in den Grund bohren. Ein leerer Raum zeigte sich, als er hinübersah, seinen Blicken, ein weißes Totenantlitz. Der Wind spielte mit blondem Haar – es war ein stilles, friedliches Bild.
Und dann kam der Tag, wo die Wellen den Leichnam an den Strand warfen, der Tag, wo ganz Norderney mit der beraubten Mutter weinte. Was die kahlen Dünen an spärlichem Blumenschmuck besaßen, das wurde auf den Hügel des Erschossenen gelegt – jedes Herz rief zum Himmel um Rache gegen die Unterdrücker, jedes verabscheute den Grausamen, der die Hand gegen ein wehrloses Kind erheben konnte. Er vergaß das alles nie wieder. Die Szene im sinkenden Boote verfolgte ihn bei Tag und Nacht – heute noch, vor wenigen Minuten war sie ihm abermals erschienen. Er schauderte. Die Boten des Todes klopften an, nun wußte er es.
Von fern her tönte ein Rauschen. Das war das Meer, es kam, um die altgewohnte Stätte zu überfluten, es mußte in kurzer Zeit hier sein.
Der Gefesselte riß und zerrte an seinen Schlingen. Nur die Arme frei, nur die Arme, dann war ja alles gut.
Aber Uve Mensingas Ledergurt hielt fest, er zerschnitt das Fleisch des Franzosen, ohne sich lockern zu lassen – es war unmöglich, diese Schlingen abzustreifen.
Möwen und Kampfhähne erhoben sich in die Luft – der Boden unter ihren Füßen wurde unsicher. Ein Hornsignal tönte aus weiter Ferne und ließ das Blut des Franzosen schneller durch die Adern kreisen. Das verabredete Zeichen vom Bord der »Hortense!« Sie rief die ihrigen zu sich, ehe das Watt vom Meere überströmt wurde.
Nochmals und zum drittenmal, immer dringender.
Durand horchte. Nun waren alle auf Deck versammelt, der Bootsmann verlas die Namen – er glaubte den seinigen zu hören. »Unteroffizier Durand!« —
Und nun schrieb der Schiffsführer in das Journal: »Vermißt!« – vermißt auf dem Watt, dem trügerischen Boden, der festes Land zu sein scheint und doch dem Wellenreiche angehört. Sie schüttelten alle die Köpfe, seine Kameraden, sie sagten halblaut: »Der kommt niemals wieder zu den Lebendigen zurück!«
Glühende Hitze durchströmte ihn. So jung, so ganz gesund, ohne Schmerz oder Fehl – und doch binnen kurzem tot, verloren, verloren – wie schrecklich!
Er hatte so sehr die Vorgänge auf dem Kanonenboote im Geiste beobachtet, daß ihm die Wirklichkeit zum Teil entrückt wurde. Das Rauschen des Meeres war näher und näher gekommen – jetzt lief die erste Welle, weißschäumend und langgestreckt, über seinen Körper dahin, ihn wie mit einem Strom von Eis berührend. Er schnellte auf, unfähig zu schreien oder sich zu erheben, er ächzte in schrecklicher Qual. Keine Rettung unter dem weiten Himmel, keine.
Die Welle lief ab und wieder auf, er kannte den Vorgang, er hatte ihn aus Langeweile hundertmal beobachtet – sie würde noch oft, oft wiederkehren, ehe die Stelle erobert war – einmal aber blieb sie im Besitz – und dann?
Und dann?
Er sank in sich zusammen, er gab alles auf. Eine Art von Taumel bemächtigte sich seines Gehirnes, nur ein einziger Gedanke, fast ein Gebet, schwebte ihm vor: »Schneller! – Schneller!« Und Gott erbarmte sich des Unglücklichen. Eine rauschende Woge kam daher, höher als alle vorigen; auch sie sank noch einmal zurück, aber als sich der Schaum verlaufen hatte, da war die Stelle, wo der Franzose gelegen, leer.
Tief unten auf dem Grunde der Gate umfingen ihn die Wasser mit feuchten Armen, das unruhig schlagende Herz stand still, das Hämmern hinter der heißen Stirn hätte aufgehört für immer.
Allmählich begann die Nacht der Morgendämmerung zu weichen. Es legte sich wie ein weißer Schimmer über das Watt, erste rosige Sonnenblitze tauchten in den Nebel und verdrängten ihn immer mehr und mehr.
Uve Mensinga zügelte das Pferd und beide Reiter saßen ab.
»Wir müssen uns hier trennen, mein Junge; kämen wir vereint nach Neßmersiel, so könnte das Aufsehen erregen. Geh voran, Onnen!«
Der Knabe bot ihm seufzend die Hand. »Ich danke Euch, Mensinga! – O lieber Gott, was soll ich meiner armen Mutter sagen, wenn sie mich fragt, weshalb ich allein komme?«
Der Wattführer drückte ihm traurig die Rechte. »Ich spreche heute noch vor, Kind – hüte dich, irgendwie den Verdacht der Franzosen zu erregen. Du weißt von nichts, warst in Norden, um Verwandte zu besuchen, vergiß das nicht. Adjes!«
Und dann ging er seitab, um den Deich an einer anderen Stelle zu überschreiten.
Onnen blieb allein; jetzt mußte er sich zusammennehmen, mußte ein ruhiges Gesicht zeigen, obwohl ihm das Herz zum Zerspringen klopfte. Gemäßigten Schrittes näherte er sich der Treppe.
Ein junger Zollbeamter sah ihm entgegen, ebenso blaß wie er selbst, er redete ihn an, sobald Onnen den Kamm des Deiches erreicht hatte.
»Kommst du von Baltrum, mon ami?«
»Ja«, antwortete der Knabe.
»Ah, c‘est bien! Aben du gesehen monsieur Brahms? Er ist gehen gestern hinüber und nicht kommen retour!«
Onnen sah ihn an, kaum fähig zu sprechen. »Sind Sie Herr Bertrand?« fragte er.
»Oui! Oui!«
»Nun, dann kann ich‘s Ihnen sagen. Jakob Brahms ist tot!«
»Ciel! – Er sind ertrunken?«
»Nein, Herr Bertrand. Er ist im Kampfe mit Ihren Landsleuten erstochen worden. Es ist für uns alles verloren!« Und Onnen ging weiter, so schnell er konnte. Er mußte Gewißheit erlangen über das Schicksal seines Vaters; die Unruhe tötete ihn fast.
Der Franzose stand und sah ihm nach. Im Wirtshause waren die Töne der Musik längst verstummt; ein ödes Grau lag zwischen den Häusern.
Tot, tot der Mann, dessen Hand noch vor wenigen Stunden so lebenswarm die seinige gedrückt, dessen Stimme so schmeichelnd zu überreden wußte. Tot – wie gräßlich!
Scheuen Blickes sah der junge Mensch nach allen Seiten. Er hatte das gesetzwidrige Unternehmen begünstigt, er hatte für ein strafbares Schweigen Geld erhalten.
Eine schnelle Bewegung brachte die Hand in die Tasche. Im Morgenlicht blitzte es auf, dann plätscherte unten das Meer, als sei ein schwerer Gegenstand hineingefallen – nochmals und nochmals. Der Franzose atmete tief!
»Soll nicht aben alte Mutter das Sündengeld. Non, non, pardonnez-nous nos offenses! – Ach, arme monsieur Brahms, gute Mann, gute Vater – nun tot!«
Und erschüttert im innersten Herzen nahm der junge Mann die Wanderung wieder auf. Diese Nacht hatte ihm mit ihren Ereignissen eine furchtbar ernste Lehre gegeben.
Onnen eilte unterdessen vorwärts, so schnell er konnte. Ein Bauernwagen, der von Neßmersiel nach Norddeich fuhr, nahm ihn bis dahin mit, dann ging er in einer der anwesenden Schaluppen hinüber nach Norderney.
Wie schlug ihm das Herz, wie schwer wurde es, nirgends zu fragen, sich durch keine Miene zu verraten. Er fühlte, daß seine Kräfte zur Neige gingen.
Der Weg von der Landungsstelle bis zum elterlichen Hause war nicht weit, er legte ihn in Sprüngen zurück und öffnete die Tür, um mit einem einzigen Blick die Sachlage zu beurteilen.
Seine alte Mutter und Folke Eils sahen ihm fragend entgegen, der Raum war leer, beide Frauen hatten geweint – sie wußten offenbar von dem Hausherrn so wenig wie er selbst. Ihn schwindelte, bunte Farben erfüllten die Luft, ohne ein einziges Wort gesprochen zu haben, brach er in tiefer Ohnmacht auf der Schwelle der elterlichen Wohnung wie leblos zusammen. Die böse Botschaft hat Flügel, sie durchmißt in eilendem Laufe die größten Entfernungen, sie dringt hinter die verschlossenen Türen und findet Wege, wo immer es sei.
Das Kanonenboot lag an seiner gewohnten Stelle, auf dem Verdeck gingen die Ereignisse ihren alltäglichen Gang und nichts Besonderes wäre zu bemerken gewesen; aber dennoch wußte binnen wenigen Stunden die ganze Bevölkerung der Insel, was während der verwichenen Nacht auf dem Watt zwischen Baltrum und Neßmersiel geschehen war.
Unten im Raume des Kanonenbootes lagen gefesselt an Händen und Füßen die Gefangenen des heißen Kampfes, Klaus Visser, Heye Wessel, Lars Meinders und Andreas Fokke, neben ihnen zwei englische Marinesoldaten mit einem Unteroffizier – jedermann auf Norderney wußte es und jeder kannte den Verräter, dessen niederträchtige Treulosigkeit die Schmuggler ihren Feinden in die Hände lieferte.
Peter Witt sah aus, als habe er bereits im Grabe gelegen. Er schien nur zagend das Kanonenboot zu verlassen, er bebte heimlich, wenn ihm auf dem Wege in das Dorf irgendein Mensch begegnete.
Einen Augenblick hatte er daran gedacht, abzureisen, aber war dann nicht alle seine Mühe umsonst? Jetzt mußten sich die Franzosen seiner Ansicht nach dankbar beweisen, mußten ihn mit Ehren und Auszeichnungen überschütten. Wenn das die Norderneyer nicht mit ansahen, ihn nicht im Herzen auf das äußerste beneideten, welch einen Wert hatte dann noch die Sache?
Nein, bleiben wollte er doch um jeden Preis. Gleich nach dem Ereignis war ein Kanonenboot hinübergegangen nach Norddeich und hatte von dort aus einen reitenden Boten nach Emden geschickt. Der Präfekt Jeannesson mußte gegen Abend eintreffen – dann gewannen für ihn die Dinge ein anderes Ansehen.
Er konnte sich nicht entschließen, sein Haus aufzusuchen, sondern bog rechts ab und wanderte ziellos an den im Bau fast vollendeten Schanzen vorüber bis zur verfallenen Hütte der alten Aheltje. Vielleicht würde ihm die Hexe den Schleier der verhüllten Zukunft ein wenig lüften, ihm sagen, welche Ehren und Freuden seiner warteten.
Sonderbar – er hatte monatelang mit allen Kräften, allen Mitteln danach gestrebt, die Schmuggler zu entlarven, und jetzt, da es geschehen war, schlug ihm das Herz bis in die Kehle hinauf. Er glaubte immer, es stehe jemand hinter ihm – er fühlte sich mehr als nur unbehaglich.
Und dann öffneten sich seine Augen vor Erstaunen so weit als möglich. Über Nacht war die Hütte der Alten wie vom Boden verschwunden; ein paar Trümmer lagen umher, Splitter und Fetzen, das war alles.
»Aheltje!« rief er stillstehend, »Aheltje, wo bist du?«
Niemand antwortete ihm, aber er hörte aus den Dünen eine schwache zitternde Stimme, eine bekannte Melodie, deren Klänge ihn vom Kopf bis zu den Füßen eisig durchschauerten.
»Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen.«
Leise schlich er näher. Im tiefen Tal einer Düne, unter dem Schatten dichter Erlen saß Aheltje und sang. Das graue Haar hing wirr um den Kopf, eine breite Wunde klaffte an der Stinte, die Handgelenke zeigten schwarze Flecke. Im Schoß hielt die arme Alte ihren Liebling, den grauen Murr, aber tot – ein schrecklicher Anblick, da ihm der Kopf fehlte.
Die bebenden Lippen sangen das Lutherlied voll gläubiger Zuversicht, die Hände, blutend und verkrümmt, streichelten das graue Fell des toten Tieres. Allein in dem großartigen Schweigen der Dünenwelt, ganz allein mit ihrem bitteren Weh, predigte sich die Alte von jener Gerechtigkeit, die nie erlahmt, jener Vatergüte, auf die kein Lebender vergeblich baut. Sie sang ihr wildschlagendes Herz zur Ruhe – jeder Ton trug eisiges Erschrecken in die Seele des Verräters.
Er glitt hinab in das Tal und stand dicht vor ihr. »Aheltje!« sagte er mit unsicherer, heiserer Stimme.
Langsam hob die Alte den Kopf, ein blasses entstelltes Gesicht sah ihn an, die blutende Hand deutete auf den Ausgang der Schlucht.
»Hinaus!« sagte sie ruhig. »Die Welt ist groß, auch ohne diese Düne; laß sie mir, Kain, geh fort, ehe ich dich verfluche.«
Er zuckte die Achseln, vergeblich bemüht, sich den Sinn ihrer Rede zu leugnen. »Was habe ich dir getan, Aheltje? Wo – wo ist dein Haus?«
Sie wiegte den Kopf gleich einer Irrsinnigen. »Frage den Wind, Verräter, frage die Franzosen, deine Freunde. Sie sind zu mir gekommen und verlangten das Rezept des Saftes, der Zauberkräfte gibt, sie haben meine Hütte in Trümmer geschlagen und mich mißhandelt. Sieh da das Blut, die Wunden – nimm‘s auf dein Gewissen, Peter Witt! und mög‘s dich brennen, bis du Buße tust vor Gott.«
Sie erhob sich mühsam von ihrem Sitz, sie trat, das tote Tier hoch emporhebend, dem erschreckten Mann näher. »Was gilt mir mein verlorenes Haus, du Unseliger, was gelten mir die Säbelhiebe der Franzosen, wenn ich diesen toten Körper ansehe? Weißt du, was mir die Katze war, Peter Witt? – Was glücklichen Menschen ihre Kinder und Geschwister, ihre Verwandten und geliebten Wesen sind! Das letzte lebende Geschöpf, an dem meine Seele hing, das letzte, welches mich liebte! – Du hast mir‘s geraubt!«
Er ging immer Schritt um Schritt rückwärts, die Hände streckte er vor und die Blicke hielt er fest auf das Gesicht der Alten geheftet.
»Sei doch nicht gleich so böse, Aheltje, ich habe dir die Franzosen nicht auf den Hals geschickt, und was deine Katze betrifft, lieber Gott, so schenke ich dir dafür zehn andere!«
Die alte Frau schluchzte. »Zehn andere!« wiederholte sie. »Ach, Peter Witt, du reicher müßiger Mann, du, der du über viele Tausende gebietest – meinen armen Murr kannst du mir nicht wiedergeben. Ich hab‘ ihn neugeboren am Strande gefunden und hab‘ ihn aufgezogen wie ein Kind – womit wolltest du mir seine Liebe ersetzen? Geh, geh, Unglücksmensch, und lasse dich nie wieder hier an dieser Stelle sehen, bis ich tot bin, erlöst!«
Sie weinte bitterlich, ihr graues Haar flatterte im Wind, ihre Hände bebten. »Fort!« rief sie. »Fort! Was willst du von mir, Peter Witt?«
»Aheltje«, schmeichelte er, »liebe beste Aheltje, du sollst mir die Karten legen! Wenn gute Nachrichten darin stehen, lasse ich dir auch dein Haus wieder aufbauen!«
Die »Hexe« schauderte. »Auch meine Karten«, murmelte sie, »auch meine Karten, nun erst fällt mir‘s ein. Die Kinder hatten damit gespielt, meine Knaben, ich liebte die alten Blätter so innig! – Alles dahin, alles zerstört, es sollten ja Zauberkräfte darin verborgen sein!«
Peter Witt erschrak. »Du hast keine Karten mehr, Aheltje? – Ich will andere holen, ich komme rasch zurück.«
Aber sie schüttelte den Kopf. »Ich mag nichts mit dir zu schaffen haben, Kain, nichts, nichts. Geh, laß mich in Ruhe mein armes Tier verscharren.«
Sie begann, ohne die Gegenwart des Verräters weiter zu beachten, den losen Sand mit ihren Händen aufzugraben. Ob er bat und flehte, ob er Geld anbot, oder Drohungen hervorstieß, sie schenkte ihm keinen Blick, bis er endlich davonging, böse und unruhig, das Herz voll schlimmer Ahnungen.
Nicht nach Hause – ihm graute davor.
Und so schlich er umher, ziellos, zwecklos, bald bis zur Reede, dann an den Herrenstrand, hinauf zum schwarzen Kap. Zur Ewigkeit dehnte sich der Tag; erst gegen Abend kam das ausgeschickte Kanonenboot zurück und brachte den Präfekten nach Norderney – jetzt wurde Peter Witt ruhiger.
Ob wohl ein neuer Orden für ihn schon in Bereitschaft lag?
Sicherlich erhielt er doch noch heute abend eine Einladung zu Seiner Exzellenz, Herrn Jeannesson – ja, und da mußte er schleunigst an einen andern Anzug denken.
Schnelle Schritte brachten ihn nach Hause, wo sein Sohn vor der Tür saß und einen Schwarm gleichaltriger Knaben um sich versammelt hatte. Sobald er kam, traten alle zur Seite, stumm, ohne Gruß, ohne ein einziges Zeichen des Hasses oder der Teilnahme, nur sein eigener Knabe griff nachlässig an die Mütze.
»Jetzt sitzen die Schmuggler in der Falle«, sagte er hämisch. »Onnen Visser liegt sterbenskrank – sie haben schon aus Norden für ihn einen Doktor verschrieben.«
Sein Vater erschrak. »Ich verbiete dir, mit irgendeinem Menschen Streit anzufangen, hörst du, Adam! Komm her und bürste meine Stiefel.«
Der Junge reckte sich. »Das kann Frau Olters tun«, brummte er. »Wohin willst du denn schon wieder, Vater?«
»Komm her und bürste meine Stiefel!«
»Ich mag nicht!« gähnte der hoffnungsvolle Sohn, darauf versenkte er beide Hände in die Taschen und schlenderte davon, unbekümmert um den Vater, der ihm noch einige Male vergeblich nachrief und dann, da Frau Olters, die Wirtschafterin, nicht zu Hause war, notgedrungen seinen eigenen Kammerdiener spielte.
Er wurde aus dieser emsigen Beschäftigung sehr unangenehm aufgeschreckt. Ein Stein flog durch die Scheiben und fiel dicht vor ihm auf den Fußboden – ein zweiter und dritter, ein ganzer Hagel von Wurfgeschossen folgte dem ersten.
Peter Witt taumelte vor Schreck. Er sprang an das Fenster und suchte dann instinktmäßig Schutz hinter einer halbgeöffneten Tür. Auf der Straße stand Kopf an Kopf eine dichtgedrängte Menge, unaufhaltsam flogen Steine gegen das Haus, unaufhaltsam tönten Flüche und Verwünschungen. Ganz im Vordergrunde sah er Heye Wessels ältesten Sohn – ein Grauen ohnegleichen überfiel ihn, mit einem einzigen Satz war er durch die Küche und zur Hoftür hinaus.
Der Präfekt sollte ihm helfen. Ein siedendes Donnerwetter mußte den Meuterern auf die Köpfe fallen. Atem schöpfend stand er still. Es klirrte und prasselte, es polterte, wie wenn Mauerwerk stürzt und Dachsparren brechen. Weiberstimmen riefen, Hunde bellten – die Justiz des erbitterten Volkes vollzog sich unaufhaltsam.
Peter Witt lief, so schnell er konnte, bis zum Badehause. Dort wohnte für die nächsten Tage der Präfekt aus Emden und eben diesen wollte er zur Hilfe rufen.
Sechs Mann Einquartierung für jedes Haus mußte es geben, Peitschenhiebe – Peter Witt bebte vor Wut. Wer ersetzte ihm sein Eigentum? Wer bezahlte den Schimpf?
Er stürmte weiter, bis ihn ein Wachtposten anhielt. Es kostete außerordentliche Mühe, in das Zimmer des Präfekten einzudringen, vieles Bitten und Warten – Peter Witt fing an, seine persönliche Wichtigkeit für weniger bedeutend zu halten, er sah sich geradezu wie einen überlästigen Bittsteller empfangen.
Der Präfekt sprach mit den Offizieren von der »Hortense«, auch Oberst Jouffrin war zugegen. Er sah den Verräter an. »Wer ist dieser Mann? Was will er?«
Einer der Offiziere sprach einige französische Worte, worauf sich der Blick des Präfekten bemerklich verfinsterte. »Was wünschen Sie?« fragte er kalt. »Meine Zeit ist sehr in Anspruch genommen.«
»Exzellenz«, stammelte der Verräter, »Exzellenz, ich bitte um Schutz. Man zerstört mein Haus, ich bin bedroht!«
Der Präfekt Jeannesson, der, wenn auch Feind, doch ein ehrenwerter und menschenfreundlicher Mann war, zuckte die Achseln. »Das wundert mich eben nicht«, versetzte er. »Sie waren, wie ich höre, der, welcher die Schmuggler verriet?«
Peter Witt drehte die Mütze zwischen den Fingern, er wurde bald blaß, bald rot. »Exzellenz«, stammelte er, »meine Verehrung für Seine Majestät, den Kaiser, meine – ich.«
»Sie waren es, der die Schmuggler verriet?«
»Ja, Exzellenz.«
Der Präfekt wandte sich ab. »Dafür können Sie von Ihren Landsleuten, den Brüdern und Freunden derjenigen, welche jetzt auf der Schanze erschossen werden müssen, wahrlich keinen Dank erwarten«, sagte er.
Der Verräter hatte eine Empfindung, als drehe sich unter seinen Füßen die Erde. »Exzellenz«, rief er, »dürfen denn die Leute mein Eigentum zerstören?«
»Das kümmert mich nicht, es ist Sache der Polizeigewalt. Sie können jetzt gehen.« Das Tigergesicht des Obersten schob sich in den Vordergrund. »Exzellenz, man könnte einige fünfzig Mann hinschicken und die Rädelsführer verhaften lassen, nicht wahr?«
In Monsieur de Jeannessons Augen blitzte es plötzlich auf. »Damit ein offenbarer Aufruhr entstände, mein Herr Oberst? Damit noch mehr Blut fließen müßte? – Ich habe nie gehört, daß im Kriege die Spione mit Schutzwachen versehen werden, und gedenke also auch hier keine derartige Neuerung einzuführen. Der Mann ist entlassen.«
Ehe eine halbe Minute verging, sah sich Peter Witt draußen vor der Tür, ohne so recht zu wissen, wie er dahin gekommen war. Man hatte ihn geschoben und vorwärts befördert, bis er wieder unter Gottes freiem Himmel stand.
War es denn möglich – ihn? Ihn selbst? Ja, und wo blieb der erhoffte Orden?
Einfältiger war er sich noch nie vorgekommen als in diesem Augenblick. Aber eines wußte er gewiß, daß man sein Haus in Trümmer schlug; er hörte das Brechen und Krachen, das Jubeln der Menge. »Werft Feuer hinein!« rief eine Stimme.
Das Wort lieh ihm Flügel, er lief spornstreichs zur Wohnung des Amtsvogtes und ließ sich nicht einmal erst Zeit genug, um anzuklopfen. Als er die Tür aufriß, saß gerade die Familie des Dorfbeherrschers beim Abendbrot – aller Augen sahen ihn an.
»Guten Abend!« rief er hastig. »Vogt, du mußt gleich mit mir kommen, die verrückten Kerle ruinieren mein Haus.«
Der Amtsvogt nahm bedächtig einen großen gebratenen Fisch von der Schüssel und zerlegte ihn auf seinem Teller in Stücke, dann begann er so ruhig seine Mahlzeit, als sei im Zimmer kein fremder Zeuge anwesend, ja er sprach sogar mit der Frau Vögtin. »Hast du noch einen Trank Nordener Bier im Keller, Mutter?«
»Gleich, mein Alter!«
Die geschäftige Frau ging mit einem Steinkruge und einem Bund Schlüssel an dem Verräter vorbei, als sei er leere Luft; Peter Witt fühlte, wie ihm das Blut heiß zu Kopf stieg, er zitterte.
»Hörst du mich nicht, Vogt?«
Keine Antwort. Auf den Gesichtern der Tischgenossen erschien ein heimliches Lächeln, etwas wie schadenfrohe Genugtuung; sie aßen fort, ohne den Verräter irgendeiner Beachtung zu würdigen.
Peter Witt floh aus dem Zimmer, wie von Furien verfolgt.
Rote Lohe schlug ihm entgegen – es war sein Haus, das da brannte. Er schrie laut auf, Furcht und Habsucht stritten in seiner Seele um die Oberhand. Sollte er hingehen und sich vielleicht von den erbitterten Fischern totschlagen lassen, oder sollte er müßig zusehen, wie man sein Eigentum vernichtete?
Unwillkürlich gedachte er in diesem Augenblick der »Hexe«. Wie Aheltje verlassen und heimatlos unten auf dem Grunde der Schlucht saß, blutend, verzweifelnd, des letzten beraubt, so wurde er ohne Dach und Fach auf die Straße geworfen und niemand lebte, der ihm Beistand geleistet, ihm zu seinem Rechte verhelfen hätte.
Noch stand er zögernd, überlegend, als sich die Tür des Amtsvogtes öffnete und der Würdenträger selbst heraustrat. Er ging mit schnellen Schritten dem Flammenscheine nach.
Peter Wirt eilte an seine Seite. »Vogt«, sagte er, »du wirst doch die Mordbrenner zwingen, mir Schadenersatz zu leisten?«
Der Amtsvogt blieb ihm auch diesmal die Antwort schuldig. Er ging über den ungepflasterten Weg, so schnell es der tiefe Sand erlaubte, ohne dem nebenher trabenden Verräter die mindeste Beachtung zu schenken.
»Vogt, so sprich doch – Mensch, was habe ich dir getan?«
Keine Silbe fiel von den Lippen des Gestrengen. Als ihn ein zufällig näherkommender Fischer anredete, war er freundlich wie immer, ja sogar gutgelaunt, wie es schien. »Was ist da unten los, Matthias?« sagte er. »Ein Feuerwerk?«
Der Fischer bohrte förmlich die Blicke in das blasse Gesicht des Verräters. »Ja«, sagte er, »ein Feuerwerk. Schade, daß man den Lump, dem der Kasten gehörte, nicht gleich mit verbrennen kann!«
»Sehr schade, da hast du recht.«
Peter Witt gehörte nicht eben zu den mutigen Naturen, aber er empfand doch einen so starken Groll, daß es ihm unmöglich war, neben den beiden Männern des Weges zu gehen, er sprang daher auf die andere Straßenseite hinüber und kam im gleichen Augenblick mit ihnen bei der Brandstätte an.
Das leichte, mit Stroh gedeckte Haus lag in Asche, nur ein etwas seitab stehender Schuppen war vom Feuer verschont geblieben; eine dichtgescharte Menge umgab die noch glimmenden Trümmer.
Der Vogt hielt beide Hände in den Taschen. »Also Feuer«, sagte er. »Na, es hat ja weiter keinen Schaden angerichtet – ehrlicher Leute Hab und Gut ist nicht verloren gegangen. Ich denke, niemand von euch weiß, wie die Flammen entstanden sind?« Man lachte. »Natürlich nicht, Herr Amtsvogt!«
»Das glaube ich. Nun gebt ihr aber hübsch acht, daß die Nebengebäude unbeschädigt bleiben, dafür mache ich euch verantwortlich.«
»Verlaß dich darauf, Vogt!«
Der Würdenträger wollte sich wieder entfernen, höchstwahrscheinlich um sich die zweite Hälfte seiner riesigen gebratenen Scholle zu Gemüt zu führen, dann aber wandte er plötzlich den Kopf, der lächelnde Ausdruck des Gesichtes verschwand, auch die Stimme klang sehr ernst.
»Hört, Leute!«
Eine allgemeine Stille folgte dem lauten Sprechen und Lachen, das eben noch die Menge beherrscht hatte, jeder einzelne horchte.
Der Vogt hob warnend den Finger. »Wenn sich der Halunke, der Peter Witt hier zeigen sollte, so darf ihm persönlich kein Leid geschehen. Berührt ihn nicht, Leute, krümmt ihm kein Haar!«
»Allstunds, Vogt. Wir verstehen dich vollkommen. Bis Klaus Visser und Heye Wessel, die besten Männer von Norderney, da oben auf der Schanze sterben, hat es Zeit.«
Der Vogt nickte und ging dann seines Weges; Peter Witt fühlte, wie ihm die Zähne im Fieberfrost gegeneinander schlugen. Er wurde behandelt wie ein Abwesender, ein Toter, man übersah geflissentlich, daß er zugegen war.
Der Halunke! hatte ihn der Vogt genannt, er knirschte heimlich; ein Gedanke, feige und falsch wie seine ganze Seele, gewann in ihm die Oberhand. Für Geld würden die Leute schon gefällig werden – der reiche Mann war er ja immer noch, auch wenn das Haus fehlte.
An der anderen Seite wohnte ein Bäcker; er ging hinüber und warf mit hochfahrendem Wesen ein französisches Goldstück auf den Zahltisch. »Gib mir das Brot da, Nachbar!«
Der Bäcker pfiff leise vor sich hin. Als sei er allein im Laden, nahm er einen Handbesen und fegte über den Tisch, wobei die Münze ihrem Eigentümer klirrend vor die Füße fiel, dann wandte er sich zu denen, die von draußen her Kopf an Kopf in die offene Tür hineinsahen, und sprach mit ihnen, als habe er den Fordernden gar nicht bemerkt.
»Ich will Brot kaufen!«, rief dieser, jetzt völlig aus der Fassung gebracht.
Die Leute plauderten fort; Hitze und Kälte wechselten unaufhörlich in den Adern des Verräters, er hatte ein Gefühl, als müsse er ersticken. Sobald er sich der Tür näherte, traten die Versammelten beiseite; man ließ ihn hindurchgehen ohne ein Wort, eine Bewegung, wie der Wind ungehindert passiert, wo immer er mag.
Peter Witt erkannte jetzt, wie es um ihn stand. Er war geächtet.
Ja, geächtet. Es würde ihm niemals möglich sein, die frühere Stellung unter den ehrlichen, aber derben Norderneyern wiederzugewinnen.
Und doch beherrschte ihn, je länger, desto mehr, eine leidenschaftliche Sehnsucht, sich auszusprechen, von irgendeinem Menschen das Wort der Teilnahme, wenigstens überhaupt eine Antwort zu hören; er hatte schon den Verlust des Hauses ganz übersehen, er dachte nur mit Grauen an das Alleinsein, zu dem ihn die Leute zu verurteilen schienen, an die Notwendigkeit, fernerhin das Schicksal des Ausgestoßenen zu ertragen; eine wahre Todesangst kroch in sein feiges Herz.
»Sie werden ja nicht alle so hartnäckig sein«, dachte er. »Ich muß es nur einmal an einer anderen Stelle versuchen.«
Und er bog in eine Nebenstraße, er fragte eine Frau, ob sie seinen Sohn oder die alte Haushälterin nicht gesehen habe.
Keine Antwort.
Immer mehr wuchs die Bestürzung des Verräters. »Adam!« rief er, »Adam, wo steckst du, Junge?«
Und dann begann er ziellos über die Insel zu schweifen. Ein Gedanke blitzte plötzlich auf in seiner Seele – die »Hexe« würde mit ihm sprechen; böse Worte vielleicht, aber doch etwas, doch Laute, die für ihn bestimmt waren. Dies Schweigen ertrug er nicht länger.
Der Mond schien mit schwachem Licht vom Himmel herab; geräuschlos gleitend schlüpfte Peter Witt hinaus in die Dünen, von Kamm zu Kamm, von Schlucht zu Schlucht, spähend und horchend, mit immer heftiger jagenden Pulsen, mit kaltem Schweiß vor der Stirn.
»Aheltje! Aheltje!«
Niemand antwortete. Wollte auch die »Hexe«, die verachtete ausgestoßene Zauberin nichts von ihm wissen, oder war sie nicht zugegen?