Kitabı oku: «Moderner Fundamentalismus», sayfa 4
III.
Es liegt auf der Hand, daß ein solches Verständnis von Erlösung der Verwirklichung des Gesellschaftsvertrags kaum zu überwindende Hindernisse in den Weg legt. Die Bürger, die ihn schließen sollen, müssen in möglichst identischen Verhältnissen leben, um nicht in wechselseitige Abhängigkeit zu geraten; sie müssen über größtmögliche Autarkie verfügen, denn nur, wenn sie sich selbst mit ausreichenden Subsistenzmitteln versorgen können, besteht die Gewähr dafür, daß sie frei sind. Lohnarbeit, komplexere Technologien und Luxusproduktion sind damit ausgeschlossen, ebenso Handel, Wucher, Profitstreben: „Aber gebt nur Geld her und man wird euch bald mit Ketten lohnen. Das Wort Finanzen ist ein Sklavenwort und in einem wirklichen Gemeinwesen unbekannt. In einem wahrhaft freien Land tun die Bürger alles mit ihren Armen und nichts mit dem Geld; weit entfernt, sich von ihren Pflichten freizumachen, würden sie noch dafür bezahlen, sie persönlich zu erfüllen“ (CS 106/429).
Eine weitere Voraussetzung scheint schließlich in einen ausweglosen Zirkel zu führen. Damit die Individuen sich zu der vom Contrat Social projektierten Gesellschaft zusammenschließen, ist verlangt, daß sie nicht durch eine lange Sklaverei, durch Luxus und Laster korrumpiert sind. Sie müssen, um die Vorteile des Zusammenschlusses überhaupt erkennen zu können, schon vorher über die erforderliche Vaterlandsliebe und den nötigen esprit social verfügen, um ihr Privatinteresse hintan zu stellen und sich vorbehaltlos dem Ganzen auszuliefern, was aber voraussetzte, daß die Wirkung zur Ursache würde, „daß der gesellschaftliche Geist, der das Werk der Verfassung sein soll, selbst den Vorsitz in der Verfassung führen sollte, und daß die Menschen schon vor dem Bestehen der Gesetze das wären, was sie erst durch dieselben werden sollen“ (CS 48/383). Allein ein solches Volk ist nach Rousseau zur Annahme von Gesetzen fähig, das durch Einheit des Ursprungs, der Interessen oder der Übereinkunft verbunden ist, ein Volk, das noch nicht das Joch der Gesetze getragen hat, nicht von Gewohnheiten und Aberglauben beherrscht wird, von seinen Nachbarn nichts zu befürchten hat und sich selbst zu genügen vermag; ein Volk schließlich, in dem jeder jedem bekannt ist und niemand eine schwerere Last zu tragen hat, als er vermag. Alle diese Bedingungen, bemerkt Rousseau, fänden sich selten beieinander, weshalb auch so wenige Staaten eine gute Verfassung hätten (CS 57 f./390 f.). Müssen wir angesichts solcher Bedingungen den Contrat Social nicht als eine chimère de spéculation ansehen, als eine leere Vorstellung, der keine geschichtliche Realisierungsmöglichkeit entspricht, weil sie das, was sie voraussetzt, immer erst selbst zu erbringen hat?
Rousseaus Haltung in dieser Frage ist ambivalent. Auf der einen Seite ist er Realist genug, um einzusehen, daß in entwickelten Großstaaten wie Frankreich die Chancen für eine Verwirklichung des Gesellschaftsvertrags nicht mehr gegeben sind und auch durch politische Eingriffe nicht wiederhergestellt werden können. Die menschliche Natur, schreibt er in einer späten Verteidigungsschrift, gehe nicht wieder zurück und niemals kehre man in die Zeiten der Unschuld und Gleichheit heim, wenn man sich einmal von ihnen entfernt habe. Es sei daher nie seine Absicht gewesen, zahlreiche Völker und große Staaten zu ihrer ursprünglichen Einfalt zurückzuführen, sondern lediglich, den Fortschritt derer aufzuhalten, deren Kleinheit und Lage dies noch ermögliche (Rousseau 1978, Bd. II, 569 f.). ‚Konservativ‘ ist dies nur dann, wenn man diesen Begriff in einem rein formalen Sinne versteht. Auf jeden Fall ist es eine Barriere gegen fundamentalistische Intentionen, da es darauf verzichtet, das Gestaltungspotential der Moral gegen den Status quo zu mobilisieren.
Auf der anderen Seite hält Rousseau unter bestimmten Bedingungen den Gesellschaftsvertrag doch für möglich. In Frage dafür kommen einmal die erwähnten Gemeinwesen, die über die erforderlichen Bedingungen der Kleinheit und der Lage verfügen – die Bauern des Wallis, die montagnons in der Nähe von Neuchâtel, Städte wie Genf oder eine Insel wie Korsika, das Rousseau schon im Contrat Social als das einzige Land in Europa bezeichnet, das noch einer guten Gesetzgebung fähig sei (CS 58/391). Für die Korsen, die ‚noch fast im Naturzustand leben und gesund sind‘, schreibt er 1765, aufgefordert von korsischen Patrioten, das Projet de la Constitution pour la Corse, in dem er die Grundideen des Gesellschaftsvertrags zum Verfassungsmodell einer agrarischen Demokratie konkretisiert, das alle negativen Tendenzen der Moderne eliminiert: Großgrundbesitz, Handel, Luxus, Konkurrenz, Mobilität, Herrschaft der Stadt über das Land (Rousseau 1981, 509 ff./901 ff.).
Im Unterschied zu diesen Beispielen bezieht sich Rousseaus Schrift über die Regierung Polens auf ein Land, das bereits sehr weit von der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit entfernt ist. Es handelt sich um einen großen Flächenstaat mit starker Polarisierung zwischen arm und reich, ausgeprägten Herrschaftsbeziehungen bis hin zur Leibeigenschaft sowie einer Anarchie, wie sie für das Auflösungsstadium des Naturzustands charakteristisch ist. Rousseaus Empfehlungen kommt deshalb eine Bedeutung zu, die weit über seine sonstigen, eher ‚katechontischen‘ Ratschläge hinausgeht. Der polnische Staat soll in seinem Umfang erheblich reduziert und in eine Föderation kleinerer Staaten verwandelt werden. Das ökonomische System soll auf den Primat der Landwirtschaft ausgerichtet und so organisiert werden, daß möglichst wenig Geld gebraucht wird. Die Verwaltung soll vereinfacht werden, indem man die Beamtenbesoldung auf Naturaldeputate umstellt, die nötigen Infrastrukturmaßnahmen über Frondienste abwickelt und die staatlichen Geldleistungen minimiert. In die gleiche Richtung zielt der Vorschlag, das stehende Heer abzuschaffen und die Verteidigungsaufgaben einer Miliz zu übertragen.
Um die soziale Kohäsion zu sichern, soll der Abbau der Organisationen durch einen Ausbau des Erziehungswesens und eine Aktivierung des Patriotismus kompensiert werden. Rousseau propagiert eine Pädagogik, die ihre Objekte in permanenter Bewegung hält; eine ebenso permanente Mobilmachung der Bürger für die Sache des Vaterlandes in öffentlichen Festen, Kulten und Zeremonien; die rigorose Verbannung aller Zerstreuungen; die Etablierung gesellschaftlich verbindlicher Formen der Ächtung; und die Einschwörung der Bürger auf jene religion civile, für deren Verletzung schon der Contrat Social die drakonischsten Strafen vorsieht (CS 156/468). Und wie auch anders: Wenn der allgemeinste Wille immer der gerechteste und die Stimme des Volkes die Stimme Gottes ist (EP 232/246), kann, wer ihr nicht folgt, nur ein Teufel sein. Und gegen Teufel ist das härteste Mittel gerade recht.
Der moralische Fundamentalismus, das zeigen Rousseaus Vorschläge überaus deutlich, zielt nicht auf die Fundamente der schlechten Vergesellschaftung. Es gehe nicht darum, heißt es in der Korsika-Schrift, das Privateigentum völlig aufzuheben, sondern nur darum, es zu bändigen und dem öffentlichen Wohl unterzuordnen (Rousseau 1981, 541/931). Ebensowenig, präzisiert die Polen-Schrift, sei geplant, die Geldzirkulation zu unterdrücken; sie solle nur verlangsamt und von den polarisierenden Wirkungen auf die Sozialstruktur abgekoppelt werden (ebd., 621/1007 f.). Das Mittel für diese Zähmung der Wirtschaft ist die Hypertrophie der Moral: die öffentliche Belobigung der Gutmenschen durch Zensur- und Wohltätigkeitsausschüsse, die zu permanenter Buchführung über ihre Untertanen aufgefordert werden, die Manipulation der Meinungen, die – zwar nicht explizit geforderte, aber implizit in Kauf genommene – Diskreditierung derjenigen, die es an Einsatz fehlen lassen (ebd., 638/1025). Hobbes hatte sich noch damit begnügt, lediglich die Handlungen der Menschen durch den Leviathan kontrollieren zu lassen. Rousseau dagegen weiß, daß ein moralischer Staat auch auf das Innere Zugriff nehmen muß:
„Wenn es gut ist, zu wissen, wie man sich der Menschen, so wie sie sind, bedienen soll, so ist es noch weit besser, sie so zu bilden, wie man sie nötig hat. Die uneingeschränkteste gesetzmäßige Macht ist diejenige, welche bis in das Innerste des Menschen dringt und nicht weniger auf den Willen als auf die Handlungen einwirkt. Es ist gewiß, daß die Völker mit der Zeit das sind, wozu die Regierung sie macht“ (EP 237 f./251).
IV.
Ein von derart tiefen Ambivalenzen und Widersprüchen geprägtes Werk wie dasjenige Rousseaus kann nicht als Ganzes wirken; und so ist es denn auch nicht überraschend, daß die Rezeptionsgeschichte vor allem eine Geschichte der Vereinseitigungen Rousseaus ist. In der einschlägigen Literatur begegnet man einem Rousseau constitutionel ebenso wie einem Rousseau aristocrate, einem Rousseau girondiste ebenso wie einem Rousseau montagnarde, nicht zu reden vom Rousseau der Liberalen, der Sansculotten, der Sozialisten … (Barny 1977; Furet/Ozouf 1996, 1308 ff.).
Wo aber ist der moralische Fundamentalismus geblieben, der sich in Rousseaus Schriften so deutlich abzeichnet, auch wenn er sie nicht vollständig ausfüllt? Die Frage wäre leicht zu beantworten, wenn man sich nur an die Hypertrophie der Moral halten müßte. Ihr begegnet man auf Schritt und Tritt, zumal beim republikanischen Radikalismus, der 1792 die politische Macht erobert. Ganz im Sinne Rousseaus, der die privaten Tugenden der Güte, Empfindsamkeit und Milde mit der öffentlichen Tugend zu einer untrennbaren Einheit verschmilzt (Furet/Ozouf 1996, 1327), betreibt dieser Radikalismus eine umfassende Moralisierung der Politik, die keinen Bereich ausgespart läßt. „Um ein anständiger Mann zu sein“, erklärt der französische Republikaner dem Bürger von Philadelphia, „muß man ein guter Sohn, ein guter Ehemann und guter Vater sein, in einem Wort, alle öffentlichen und privaten Tugenden vereinen (…), erst dann wird man die wahre Definition des Wortes Patriotismus erhalten“ (ebd., 653). Politik wird zum Medium der Pädagogik. Im Dezember 1791 fordert der Girondist Brissot, ein repräsentativer Vertreter des ‚Gossen-Rousseauismus‘ (Robert Darnton), den Krieg, um „unsere Revolution moralisch zu machen und zu konsolidieren“ (Fischer 1974, 144); Robespierre ruft „alle Tugenden und alle Wunder der Republik gegen alle Laster und alle Lächerlichkeiten der Monarchie“ auf und erklärt die Tugend zum „grundlegende(n) Prinzip der demokratischen Regierung oder der Volksregierung“ (Robespierre 1989, 585 ff.). Die Sektion Bonne-Nouvelle richtet „einen Kursus der Moral und der Vernunft“ ein; die Volksgesellschaft Lazowski eröffnet eine „Moralschule für die jungen Bürger“. „Auf der einen Seite vernichten Unwissenheit und Fanatismus die Früchte von vier Jahren voller Kämpfe und Opfer“, heißt es am 16. Juni 1793 in der Vollversammlung der Sektion Amis-de-la-Patrie, „auf der anderen Seite zerstreuen Unterricht und Aufklärung die Vorurteile und lassen uns eine Revolution lieben, die ihre unzerstörbare Grundlage nur in der Tugend haben kann“ (Soboul 1978, 117, 114).
Und was Unterricht und Aufklärung nicht besorgen, erreicht die permanente wechselseitige Überwachung der Bürger, die diese Republik zu ihrem obersten Anliegen macht. Das Gesetz vom 22. Prairial erklärt alle diejenigen zu Volksfeinden, die die Sitten verderben, die Tatkraft und Reinheit der republikanischen Grundsätze erschüttern; die Gesellschaften der Sektion Gardes-Françaises und Halle-au-Blé verlangen auch diejenigen aus der Bürgerschaft auszuschließen, „die zur Verschlechterung der Sitten beitragen, sei es durch die Beherbergung von Dirnen, sei es, indem sie irgendeinen anderen Handel solcher Art treiben, den die Lauterkeit und das keusche Leben eines wahren Revolutionärs verabscheuen“ (ebd., 249). „Que chacun de nous soit un comité de surveillance“, lautet die Quintessenz des republikanischen Tugendradikalismus (Markov/Soboul 1957, 218).
Der moralische Fundamentalismus besteht indes nicht nur aus einer Verabsolutierung der Moral. Er impliziert zugleich eine Absage an die zentralen Tendenzen der Zeit, die funktionale Differenzierung und die formale Rationalisierung. Davon kann bei der Gironde keine Rede sein, die sich politisch und sozial auf das gemäßigte Bürgertum stützt, für die Wirtschaftsfreiheit eintritt und den radikalen Egalitarismus der Sansculotten zurückweist (Furet/Ozouf 1996, 596). Ebensowenig trifft es auf die Montagne zu, die zwar zu Konzessionen an diesen Egalitarismus bereit ist, unter dem Druck der Umstände auch die staatlichen Kompetenzen weiter ausdehnt, als es mit dem Prinzip der funktionalen Differenzierung vereinbar ist, die sich aber nichtsdestoweniger unzweideutig auf die Seite des ‚Fortschritts‘ stellt. „Die Welt hat sich geändert“, ruft Robespierre am 7.Mai 1794 den Delegierten des Nationalkonvents zu, „und sie muß sich noch weiter ändern. Was gibt es gemeinsames zwischen dem, was ist, und dem, was war? Auf die Wilden, die in der Wüste herumirrten, folgten die zivilisierten Völker; reich geernet wird heute dort, wo früher Urwälder die Erde bedeckten“. Robespierre feiert die großen Entdeckungsfahrten, die Erfindungen der Buchdruckerkunst, die Leistungen Newtons, die erstaunlichen Fortschritte der Künste und Wissenschaften, und er fügt hinzu: „In der physischen Ordnung hat sich alles gewandelt; auch in der moralischen und politischen Ordnung muß sich alles wandeln. In der einen Hälfte der Welt ist die Revolution bereits vollzogen; auch in der anderen Hälfte muß sie vollendet werden“ (Robespierre 1989, 655 f.). Mit den Positionen Rousseaus, der die Fortschritte der Künste und Wissenschaften skeptisch beurteilte, mit der Ansicht des Kalifen Omar hinsichtlich der Verbrennung der Bibliotheken sympathisierte und eher für eine Reduzierung der zwischenstaatlichen Kontakte und Reisen eintrat, war dies alles nicht zu vereinbaren, wie auch der entschiedene Progressismus einem Autor anathema sein mußte, dessen größter Wunsch die Verlangsamung war (Fetscher 1975, 291 f.).
Besser aufgehoben erscheint dieser Wunsch dagegen auf den ersten Blick bei den Sansculotten, jener in so vielem an die antike Plebs oder den popolo minuto der mittelalterlichen Städte erinnernden Volksbewegung, die im Juni 1793 durch ihre Intervention den Sturz der konstitutionellen Monarchie und das Ende des girondistischen Regimes erzwingt. Anknüpfend an die Protestrituale des Ancien Régime, fixiert auf die dort übliche paternalistische Preisfestsetzung und Produktionsreglementierung, zugleich aber auch virtuos die neuen Formen politischer Öffentlichkeit nutzend, die mit der Revolution entstanden sind, streben die Sansculotten danach, das Prinzip der Brüderlichkeit auf den wirtschaftlichen Bereich auszudehnen. Auch wenn sie sich von Rousseau in ihrem Aktivismus wie ihrem Verständnis von Repräsentation unterscheiden (Fetscher 1975, 302; Furet/Ozouf 1996, 1317 f.), verlangen sie wie dieser eine association politique, die bestimmt ist durch la conservation et la prosperité de ses membres (CS 95/419 f.), eine Gesellschaft also, in der die Eigentümer Eigentümer bleiben und sich nicht in Besitzende und Nichtbesitzende spalten.
In diesem Sinne fordert Varlet einen Gesellschaftsvertrag, der besonders auf die Verteidigung der Schwachen gegen die Mächtigen gerichtet sei. Das Recht auf Grundbesitz habe seine Schranken an der Gesellschaft; es sei der natürlichste Wunsch der Bedürftigen, daß man sie vor dem Druck der Reichen schütze, indem man habgierige Ambitionen begrenze und mithilfe gerechter Maßnahmen die enorme Ungleichheit der Vermögen beseitige (Rose 1965, 90). Ähnlich äußert sich ein anderer Wortführer der Sansculotten, der Enragé Leclerc, dessen Blatt nach der Ermordung Marats den Titel Ami du Peuple weiterführt. Alle Menschen, verkündet er, hätten ein gleiches Recht auf Nahrung und auf alle Produkte des Landes, die für die Aufrechterhaltung ihrer Existenz unentbehrlich seien (ebd., 89 f.). Das Manifest der Enragés, das am 27. Juni 1793 von der Versammlung der Cordeliers akzeptiert wird, verkündet:
„Die Freiheit ist ein leerer Wahn, solange eine Menschenklasse die andere ungestraft aushungern kann. Die Gleichheit ist ein leerer Wahn, solange der Reiche mit dem Monopol das Recht über Leben und Tod seiner Mitmenschen ausübt. Die Republik ist ein leerer Wahn, solange Tag für Tag die Konterrevolution am Werk ist, mit Warenpreisen, die drei Viertel der Bürger nur unter Tränen aufbringen können“ (Roux 1985, 147).
Es ist hier nicht der Ort, die Umsetzung dieser Forderungen zu verfolgen. Wichtiger ist es, festzuhalten, daß wir es auch in diesem Fall noch nicht mit einem Fundamentalismus sensu stricto zu tun haben. Dies nicht so sehr deswegen, weil die Brüderlichkeitsethik keineswegs so weit geht, die Prinzipien des Eigentums und der privaten Dispositionsfreiheit in Frage zu stellen (was im übrigen schon für Rousseau zutrifft), als vielmehr deswegen, weil die Einstellung der Sansculotten gegenüber dem ‚Fortschritt‘ alles andere als ablehnend ist.
Jacques Roux, während der Septembermorde Vorsitzender der Sektion Gravilliers und danach einer der beiden von der Commune beauftragten Kommissare, die die Hinrichtung des Königs beaufsichtigen, läßt in keiner seiner Reden und Schriften auch nur den geringsten Zweifel daran, daß er die Revolution „den großen Fortschritten“ zurechnet, „die die Wissenschaften im Denken des Volkes bewirkt haben“ (ebd., 41). Für ihn kommt die Revolution einer Befreiung aller produktiven Kräfte und Talente des Volkes aus den engen Fesseln gleich, in denen sie bislang durch die Ordnung des Privilegs gehalten worden sind. Zutiefst verderbte Menschen hätten den Grund und Boden, die Manufakturen, den Handel, das Handwerk verschlungen, dem Bürger das Blut ausgesaugt und den Armen die Arbeitsmöglichkeit genommen; die Aufgabe sei es, diese Hindernisse zu beseitigen, die produktiven Kräfte zu ermutigen und es dem Armen zu ermöglichen, „daß er sich bis zu den höchsten Gefilden der Wissenschaften und Künste erhebt“ (ebd., 83). Zwischen den Begabungen sei ein ehrenhafter Wettstreit zu eröffnen, der sie befähigen werde, „das große Gemälde der Menschennatur, der Religionen, der Sitten der verschiedenen Völker, der mächtigen Kräfte zur Ermutigung der Wissenschaften und Künste zu erkennen; in einem Wort alles, was in Bezug steht zum Fortschritt der technischen Erfindungen, zum Gedeih des Handels, zu sämtlichen Entdeckungen des Angenehmen und des Nützlichen“ (ebd., 119). Nicht die Kritik des Fortschritts ist das Anliegen dieser Bewegung, sondern die Inbesitznahme und Vergesellschaftung seiner Errungenschaften:
„Besitzt der Mensch erst einmal das Ganze der Wissenschaften und Künste, kommen öffentliche Werkstätten und Wohlfahrtseinrichtungen der Bedürftigkeit zu Hilfe, ist er glücklich über das Glück der anderen; er verteidigt die Schutzwälle der Moral und der Gesetze, er verschwört sich gegen die Laster, er ist mit Tugend gewappnet, er ist gut und reich wie die Natur; die Gerechtigkeit hat ihre Verteidigung und die Freiheit ihre Altäre!“ (ebd., 119).
Man kann es auch so ausdrücken: Es sind die Wurzeln der modernen Sozialdemokratie, vor denen man hier steht, nicht die des modernen Fundamentalismus. Wer sich für diese letzteren interessiert, muß noch einen Schritt weiter gehen, bis zum äußersten Rand der Revolution, zu Babeuf und der ‚Verschwörung der Gleichen‘.
V.
Babeuf für den Fundamentalismus zu reklamieren, heißt freilich: seine monopolistische Inanspruchnahme durch den Neojakobinismus und den marxistischen Sozialismus/Kommunismus zurückzuweisen. Diese Inanspruchnahme kann natürlich manche Gründe vorbringen. Im einen Fall kann sie die Selbsteinschätzung Babeufs anführen, der sich bis auf eine kurze Phase während der Terreur als treuen Parteigänger Robespierres als des herausragenden Vorkämpfers der sozialen wie der politischen Gleichheit versteht (Mathiez 1988, 220 ff.). Seine Bedenken gegen das Mittel der Diktatur, die ihn zeitweise auf Distanz zu den Jakobinern gehen lassen, schiebt Babeuf 1796 beiseite, als er sich zum entschiedenen Anwalt einer Erneuerung des robespierrisme macht. Das Regime des Wohlfahrtsausschusses erscheint ihm nun als diablement bien imaginé, die brutale Gewaltanwendung gegen die politischen Gegner als vollauf berechtigt. Der Erneuerer (régénérateur) müsse in großen Maßstäben denken. Er müsse alles abmähen (faucher), was ihn störe, was seinem Fortschreiten entgegenstehe. Nicht der Sansculottismus, namentlich in seiner Form des Hébertismus, sei wiederzubeleben, sondern der Robespierrismus. „Der Robespierrismus ist in der ganzen Republik verbreitet, in jeder verständigen und klarblickenden Klasse, und natürlich im ganzen Volk. Der Grund dafür ist einfach der, daß der Robespierrismus die Demokratie ist und diese beiden Worte vollständig identisch sind: indem ihr daher den Robespierrismus wiederaufrichtet, seid ihr sicher, die Demokratie wiederherzustellen“ (Babeuf 1988a, 287, eig.Übers.).
Die marxistische Lektüre kann sich dagegen auf die Tatsache stützen, daß diese Selbstzuordnung Babeufs zu Robespierre auf einer Fehleinschätzung von dessen Radikalität auf sozialökonomischer Ebene beruht. Robespierre, dies hat Dalin mit Recht der Deutung von Mathiez entgegengehalten, ist kein Vorkämpfer der Ausgleichung des Eigentums und erst recht kein Anhänger der Aufhebung des Privatbesitzes, wie sie im Manifest der Gleichen gefordert wird. Auch wenn er die Seele der Republik in der Gleichheit sieht und die Gesellschaft darauf verpflichten will, ihren Bürgern das Recht auf Subsistenz zu garantieren, meint er damit doch keineswegs Besitzgleichheit oder gar Gemeineigentum (Fetscher 1975, 282), so daß es vollkommen gerechtfertigt ist, die Distanz zu Babeuf zu betonen. „Nicht Robespierre, sondern Babeuf war Urheber des Projektes der ‚wirklichen Gleichheit‘, die im sozialen Sinne zu verstehen ist“ (Dalin 1974, 66). Folgt aber daraus die Berechtigung der marxistischen Formel, derzufolge die Verschwörung der Gleichen von 1796 einer der Momente war, in denen die Französische Revolution dazu tendierte, den Rahmen der bürgerlichen Ordnung zu überschreiten, und zwar in jenem spezifisch marxistischen Sinne des Vorgriffs auf eine neue, höhere Ordnung?
Eine derartige Deutung ist nur dann plausibel, wenn sich nachweisen läßt, daß Babeuf und der Babouvismus ‚objektiv‘ auch auf dem Boden der marxistischen Geschichtsphilosophie stehen oder mindestens in der Tradition, in der diese sich selbst plaziert. Und das wiederum heißt: die von Rousseau und verwandten Denkern wie Mably ausgehenden Einflüsse müssen verkleinert, die Einflüsse des Fortschrittsdenkens dagegen vergrößert werden. Entsprechend hat Claude Mazauric behauptet, Babeuf habe den Pessimismus Rousseaus verworfen, er habe, als Schüler der Aufklärung und Anhänger der Enzyklopädisten, an den Fortschritt geglaubt, sich dem Materialismus eines Helvetius und dem Utopismus eines Morelly angeschlossen (in: Babeuf 1988a, 26 f.). Bei Soboul hat der Babouvismus seinen Platz „zwischen der moralisierenden kommunistischen Utopie des XVIII. Jahrhunderts und dem industriellen Sozialismus eines Saint-Simon“ (Soboul 1973, 455).
Es ist einzuräumen, daß manches bei Babeuf dieser Deutung entgegenkommt. Seine frühen, vor der Revolution entstandenen Texte weisen ihn als einen Autor aus, der nur oberflächliche Kenntnisse Rousseaus besitzt und in vielem eher die Standpunkte von dessen Gegnern teilt; besonders groß ist die Distanz gegenüber einem der zentralen Punkte rousseauscher Zeitablehnung, der Kritik am Luxus (Barny 1994, 53 f.). Als einen der Hauptreferenztexte für seine Auffassung benennt Babeuf noch in seiner Verteidigungsrede vor dem Schwurgericht in Vendôme (Februar 1797) den Code de la Nature, den er wie viele seiner Zeitgenossen Diderot zuschreibt und nicht Morelly, seinem wirklichen Verfasser (Babeuf 1988b, 83 ff.); Morelly aber polemisiert in diesem Text gegen den Pessimismus Rousseaus und spricht sich für einen Optimismus aus, der „die bestehende Gesellschaft nur in ihrer privateigentümlichen Organisation verwirft, die zivilisatorischen Errungenschaften aber auch der natürlich-idealen Gemeinschaft als positive Werte erhalten möchte“10. Dazu paßt, daß Babeuf in seinem Brief an Charles Germain vom 28.7.1795 sich keineswegs den Maschinenstürmern anschließt, die sich damals auch in Frankreich regen, vielmehr ausdrücklich die Erfindung und den Einsatz arbeitssparender Maschinen befürwortet (1988a, 258 ff.). Dem Vorwurf, die Gesellschaft auf den Zustand der Barbarei zurückbringen zu wollen, hält er entgegen:
„Weder die Künste noch die Wissenschaften, noch die Produktion werden in Gefahr sein, weit davon entfernt. Sie würden einen Impuls im Sinne der allgemeinen Nützlichkeit erhalten, sie würden auf neue Art angewandt werden, in einer Weise, die die Summe der Annehmlichkeiten für alle zunehmen ließe. Künste, Wissenschaften und Produktion würden sich entwickeln und veredeln, indem sie neue Wege suchten; sie würden ein erhabenes Gepräge erhalten, entsprechend den großen Gefühlen, die eine gewaltige Assoziation Glücklicher notwendigerweise hervorbringen würde. Sie würden aufhören, Sklaven zu sein, nicht mehr dazu verdammt, sich nach dem Belieben von Mäzenen zu verkleinern, könnten sie sich zu grandiosen Konzeptionen erheben, den einzigen, die einer wirklichen Zivilisation würdig sind, die das gemeinschaftliche Glück einschließt, den einzigen, die sie charakterisieren“ (ebd., 264; eig. Übers.).
Bevor man solche Aussagen als Vorwegnahmen des wissenschaftlichen Sozialismus verbucht, sollte man sich freilich Rechenschaft darüber ablegen, daß Babeuf sich hier auf Formen von Wissenschaft und Technik bezieht, die noch durch einen Hiatus von jenen Formen des verselbständigten general intellect geschieden sind, wie er für das Zeitalter der Industrialisierung typisch sein wird (Dautry 1961, 220 f., 223). Obwohl die Manufakturperiode bereits den Einsatz von Maschinen kennt, bleibt in ihr doch nach der Einsicht von Marx die „handwerksmäßige Tätigkeit (…) das regelnde Prinzip der gesellschaftlichen Produktion“ und mit ihr das produktive Erfahrungswissen der Handarbeit; der Scheidung von Wissen und Arbeit, vermöge deren „das erstre (…) selbst als Kapital der letztren gegenüber(tritt) oder als Luxusartikel der Reichen“11, hat gerade Babeuf den schärfsten Widerstand entgegengesetzt. Seine Lehre richtet sich sowohl gegen die Polarisierung von Reichtum und Arbeit, indem sie den Reichtum als Diebstahl denunziert, als auch gegen die Verselbständigung des Wissens, indem sie la superiorité de talents et d‘industrie zur Chimäre und zum trügerischen Lockmittel erklärt, das immer nur den Komplotten der Verschwörer gegen die Gleichheit diene.
Das Manifeste des plebéiens lehnt jede Entlohnung ab, die die persönlichen Bedürfnisse übersteigt und attackiert besonders den Anspruch der intelligents, für die Produkte ihres Gehirns einen höheren Preis zu verlangen. Wenn diejenigen, die nur über ihre Körperkraft verfügen, gleichberechtigt die Dinge hätten mit regeln können, hätten sie es zweifellos so eingerichtet, daß das Verdienst der Arme dem des Kopfes gleichgegolten hätte. Erst durch die Nichtbeachtung dieser Gleichstellung sei die Gesellschaft aus dem Gleichgewicht geraten und hätten sich die Institutionen in solche verwandelt, die nur die wechselseitige Ausplünderung sanktionierten (Babeuf 1988a, 276 f.). Früher und entschiedener als Babeuf hat denn auch ein anderer Mitverschworener, Sylvain Maréchal, den Geist und die Wissenschaften auf den Aussterbeetat gesetzt. Man müsse es nicht bedauern, schreibt er im Oktober 1792 in der Wochenzeitung Révolutions de Paris, wenn die ‚Künste‘ (wozu im Sprachgebrauch der Zeit auch Wissenschaft und Technik zählen) zusammen mit dem Königtum begraben würden, habe doch die Natur zahlreiche und wenig bekannte Wunder anzubieten. Im übrigen könnten die Künste zugrundegehen, „ja, sie könnten zugrundegehen“, wenn man sie nur um den Preis der Freiheit haben könnte. „Denn wenn es wahr ist, daß sie die Kinder des Luxus sind, muß man ihrer entsagen, indem man dem Luxus entsagt, der die republikanischen Tugenden annagt. Mögen daher alle Künste zugrundegehen, eher als die Freiheit, die Gleichheit, die Republik!“12.
An dieser Stelle tritt ein fundamentalistischer Grundimpuls hervor, der den Babouvismus an Rousseau heranrückt, auch wenn natürlich der letztere einer politischen Intervention in dem von Babeuf angesteuerten Sinne niemals zugestimmt hätte. Tatsächlich hat Babeuf, wie vor allem Roger Barny gezeigt hat, seine anfängliche Distanz gegenüber Rousseau aufgegeben und sich ab 1788/89 immer gründlicher in dessen Texte vertieft, bis diese allen übrigen sonst noch wirksamen Einflüssen den Rang abgelaufen hatten (Barny 1994, 49). In seiner Verteidigungsrede beruft er sich darauf, nichts anderes angestrebt zu haben als der Autor der beiden Diskurse und des Gesellschaftsvertrags; selbst der ihm vorgehaltene Satz aus dem Manifest der Gleichen, der die Künste der wirklichen Gleichheit opfere, sei nur ein Anklang oder eine Nachahmung der Grundsätze Rousseaus, die er sich zu eigen gemacht habe (1988b, 73). Die Identifikation geht so weit, daß er sich selbst mit dem Philosophen vergleicht und seine Frau mit dessen Frau; hatte er schon seine erste Tochter Sophie genannt, so tauft er im Jahre II seinen Sohn Robert in Emile um; das Kind sei, so beteuert er später, la copie fidèle de l‘Emile de Jean-Jacques Rousseau (Larrère 1992, 395).
Was Babeuf von Rousseau übernimmt, ist die Kritik an der sozialen Polarisierung, die Überordnung der Arbeit und der Existenz über das Eigentum, die Koppelung von persönlicher Güte und öffentlicher Tugend und nicht zuletzt: die religion de la pure égalité (Babeuf 1988a, 272). Gewiß, Rousseau hat eine maximalistische Auslegung dieser Religion nicht befürwortet, nicht im Prinzip und erst recht nicht mit Blick auf seine Gegenwart. Aber er ordnet doch im 9. Kapitel des Ersten Buches seines Gesellschaftsvertrags „das Recht, welches jeder einzelne auf sein besonderes Grundstück besitzt, dem Recht, das dem Gemeinwesen auf alle zusteht“, so nachhaltig unter, daß Babeuf und seine Anhänger sich darauf beziehen können. Nur unter schlechten Regierungen, heißt es in einer Fußnote, sei die Gleichheit scheinbar und trügerisch (CS 27/367), was im Umkehrschluß bedeutet, daß sie unter guten Regierungen wirklich sei – eine Konsequenz, die nirgends entschiedener formuliert wird als in dem von Sylvain Maréchal verfaßten und 1796 vom Geheimen Direktorium der Verschwörer als Charta angenommenen Manifest der Gleichen: „Wir streben von nun an danach, gleich zu leben und zu sterben, wie wir gleich geboren sind: Wir wollen die wirkliche Gleichheit oder den Tod: das ist es, was wir brauchen“ (zit.n. Markov 1982, Bd. II, 680).