Kitabı oku: «Moderner Fundamentalismus», sayfa 5

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Oder den Tod? Die nähere Ausgestaltung zeigt, daß das System der wirklichen Gleichheit den Tod nur um den Preis einer umfassenden Mortifikation des gesellschaftlichen Lebens zu bannen vermag. Die Verbindungen nach außen werden gekappt bzw. auf einige wenige, vollständig vom Staat kontrollierte ports of trade eingeschränkt; aller Privathandel mit dem Ausland ist, wie im pharaonischen Ägypten, bei Strafe verboten. Auch nach innen funktioniert das System wie ein riesiger Oikos, der dem Bedarfsdeckungsprinzip gehorcht. Mittels Aufhebung der Testierfreiheit sollen nach und nach alle Güter, die sich noch in Privatbesitz befinden, der nationalen Gütergemeinschaft anheimfallen; diese unterhält ihre Mitglieder „auf die gleiche anständige, wenn auch bescheidene Weise“ und kann dafür über ihre Arbeitskraft verfügen. Die Arbeitenden werden in zunftähnlichen Korporationen zusammengefaßt, ihre Produkte in zentrale Speicher abgeführt und redistribuiert. Die Konkurrenz ist ausgeschaltet, Geld wird nicht mehr hergestellt, alle private wirtschaftliche Tätigkeit erlischt. Der Schwerpunkt der gesellschaftlichen Produktion liegt auf dem Agrarsektor. Handwerk und Manufaktur sind zweitrangig. Die großen Städte, Zentren des Lasters und der Korruption, sollen verschwinden und durch kleine, überschaubare ländliche Gemeinden ersetzt werden, in denen zwar die Arbeit noch familial organisiert ist, die Konsumtion aber kollektiv erfolgt, wie in Klöstern und Colleges. Geleitet und kontrolliert wird das Ganze durch eine allmächtige Zentralverwaltung. Wer ihren Anordnungen zuwiderhandelt oder „durch mangelhaftes staatsbürgerliches Verhalten, Faulheit, Luxus und Liederlichkeit ein schlechtes Beispiel gibt“, hat mit Zwangsarbeit oder lebenslänglicher Sklaverei zu rechnen13.

Wenn dies Kommunismus ist, was zu bestreiten kein Anlaß besteht, so handelt es sich um einen solchen eigener Art, einen fundamentalistischen Kommunismus, der sich vom späteren „wissenschaftlichen“ Kommunismus durch seine Fixierung auf die Vergangenheit und seine Orientierung an der vertu sociale, an der pratique majestueuse de la fraternité humaine unterscheidet (Babeuf 1988a, 261). Es geht nicht darum, den status quo weiterzuentwickeln, sondern darum, den status quo ante zurückzugewinnen. Es geht um Wiedergutmachung, um Annullierung des Diebstahls, den die Reichen an den Armen begangen haben, um die Wiederinkraftsetzung des droit primitif (Babeuf 1988a, 271), das im Naturzustand gegolten hat. „Die Ordnung soll wiederhergestellt und alles an Ort und Stelle gerückt werden“, heißt es im Manifest der Gleichen, das die Verbrechen und das Unglück der Gegenwart als Störung eines ursprünglichen Gleichgewichts deutet (Markov 1982, Bd. II, 682 f.). „Man will das Schicksal an Ketten legen, ‚enchainer le sort‘, so steht es im Manifest des Plébéiens. Der Gesellschaftszustand soll auf ein Niveau gebracht werden, das von jedermann, auch von den ‚plus ineptes marchands‘, kontrolliert werden kann. Es darf nichts mehr passieren, was über ganz elementare, handgreifliche Kategorien hinausgeht. Während die bürgerliche Zivilisation die Institutionen entwickelt, die geeignet sind, ganz neue, bisher nie gekannte Dimensionen zu eröffnen, zielt man hier auf einen Zustand ab, der idealiter in alle Zukunft unverändert bleibt. Der Fortschritt, von dem die Aufklärung träumte, ist hier ein leeres Wort. Man will Brot und die Sicherheit, daß man es auch in Zukunft haben wird“ (Jonas 1965, 333). Das ist vereinfachter Rousseau, aber Rousseau ist es allemal.

7Vgl. Starobinski 1988, 107; Emile, 329/628. Rousseaus Schriften werden im folgenden nach den deutschen Übersetzungen zitiert. Zur Überprüfung gebe ich an zweiter Stelle jedoch auch die Seitenzahlen des französischen Originals in der Pleiade-Ausgabe an. Folgende Abkürzungen werden verwendet: Du Contract Social (CS); Discours sur l‘inégalité (DI); Discours sur l‘économie politique (EP).

8Friedrich der Große, zit.n. Niehues-Pröbsting 1993, 540.

9An Herrn von Franquières, 15.1.1769, zit.n.Starobinski 1988, 117 f.

10Girsberger 1973, 146; zu Babeuf und Morelly vgl. auch Didier 1994, 31.

11Marx, MEW 23, 390, 358 f.; MEW 26.1, 280; Oetzel 1978, 167 ff.

12Zit.n.Dommanget 1970, 230. Pierre-Sylvain Maréchal (1750-1803) ist 1796 eines der sieben Mitglieder des ‚Geheim-Direktoriums für das öffentliche Wohl‘, der konspirativen Zentrale der ‚Gleichen‘ (Dommanget 1950). Das von ihm entworfene Manifest der Gleichen, in dem Maréchal die im Text zitierte Formulierung wiederholt, ist aufgrund von Meinungsverschiedenheiten im Komitee nicht veröffentlicht worden. Die Differenzen bezogen sich allem Anschein nach jedoch weniger auf die Forderung nach Abschaffung der Künste, als auf die antietatistischen Aspekte des Manifests, die den Diktatur-Absichten der übrigen Verschwörer entgegenstanden (Bergmann 1965, 285 ff.). In seiner Verteidigungsrede bezeichnet Babeuf die inkriminierte Forderung als eine Nachahmung der Grundsätze Rousseaus, ohne von ihnen abzurücken (Babeuf 1988b, 73).

13Die Grundprinzipien dieser Ordnung in knapper Form bei Babeuf 1988a, 278 f.; ausführlicher in Buonarottis „Entwurf eines ökonomischen Dekrets“, in: Höppner/Seidel-Höppner 1975, 101 ff. Gute zusammenfassende Darstellungen bieten Jonas 1965; Thamer 1973, 224 ff.

2. Worstward Ho! Schopenhauer oder die Inversion des moralischen Fundamentalismus14

Rousseau und der Babouvismus stehen für eine der möglichen Formen des moralischen Fundamentalismus: seine offensive, auf Gemeinschaftshandeln und Weltbeherrschung ausgerichtete Variante. Die Hypertrophie der Moral kann sich jedoch auch mit einer Strategie verbinden, die die Erlösung nicht in der Konstruktion eines neuen Kollektivsubjekts sucht, sondern in der Auflösung der als Wurzel des Übels wahrgenommenen Subjektform, des ‚principium individuationis‘. Strategien dieser Art, die die Energien gleichsam von außen nach innen umlenken, sind aus der Religionsgeschichte wohlbekannt. Sie treten häufig dort auf, wo privilegierte Intellektuellenschichten entpolitisiert und entmilitarisiert sind und wenig Chancen haben, auf die Gestaltung der öffentlichen Dinge Einfluß zu nehmen (Kippenberg 1991, 86 f. m.w.N.). Im frühen 19. Jahrhundert war diese Lage in Deutschland besonders ausgeprägt, wo eine durch staatliche Reformen mächtig geförderte Bildungsschicht auf einen Staat stieß, der sich allen an ihn herangetragenen Erwartungen verschloß.

Der daraus entspringende Konflikt hat seinen Ausdruck in der Philosophie Arthur Schopenhauers gefunden. Sie erhebt den Anspruch, die einzige Philosophie zu sein, „welche der Moral ihr volles und ganzes Recht angedeihen läßt“ (WWV II, 676) und beruft sich hinsichtlich des von ihr ausgemachten Fundaments der Moralität auf die „Autorität des größten Moralisten der ganzen neuern Zeit“, Jean-Jacques Rousseaus (GE, 246)15. In diametralem Gegensatz zu Rousseau aber oder jedenfalls zur babouvistischen Auslegung seiner Lehren hält sie dafür, „daß die größte, wichtigste und bedeutsamste Erscheinung, welche die Welt aufzeigen kann, nicht der Welteroberer ist, sondern der Weltüberwinder“ (WWV I, 456). Es läßt sich zeigen, daß auch dies moralischer Fundamentalismus ist, gewissermaßen die Inversion der offensiven Variante.

I.

Einer Zuordnung Schopenhauers zum modernen Fundamentalismus scheint entgegenzustehen, daß er das begriffliche Minimum in wichtigen Punkten teils über-, teils unterschreitet. Seine Philosophie, so betont er immer wieder, lehre die „Verwerflichkeit der Welt“ (PP II, 6, 336), und zwar nicht nur der gegenwärtigen, sondern der Welt schlechthin. Weltablehnung anstelle von Zeitablehnung ist aber das typische Merkmal des religiösen Fundamentalismus, den ich eingangs vom modernen Fundamentalismus abgegrenzt habe. Auf der anderen Seite hat Schopenhauer zum Fortschritt der Wissenschaften eine völlig andere Haltung eingenommen als die meisten modernen Fundamentalisten. Seine Philosophie ist Metaphysik, aber eine solche, die sorgfältig darauf bedacht ist, in „durchgängige(r) Kongruenz mit den Ergebnissen der empirischen Naturwissenschaft“ zu stehen (Riedel 1996, 47). Eine derartige „Allianz“ mit den Naturwissenschaften aber widerstreitet dem Begriff des modernen Fundamentalismus in noch weit stärkerem Maß als der Akzent auf Weltablehnung.

Diese Bedenken lassen sich jedoch auflösen. Was zunächst die in Richtung des religiösen Fundamentalismus zielende Vermutung angeht, so zeigt die nähere Betrachtung wohl eine ausgeprägte Sympathie Schopenhauers für die heterodoxen Strömungen in der Religionsgeschichte, zugleich aber eine nicht minder ausgeprägte Distanz gegenüber der Religion als solcher. Im zweiten Buch seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung (1844) unterscheidet er nicht nur zwischen wahren und falschen, pessimistischen und optimistischen Religionen, sondern innerhalb der ersteren auch noch zwischen stärker und schwächer ausgeprägten „antikosmischen“ Tendenzen (WWV II, 707). Im Christentum seien diese am reinsten in den verschiedenen Häresien hervorgetreten, die völlige Abstinenz gelehrt und das Heil mit dem „Ende der Welt“ identifiziert hätten (WWV II, 709 f.). Von einer dieser Häresien, den Gnostikern, heißt es, sie hätten den Geist des Neuen Testaments „tiefer aufgefaßt und besser verstanden“ als die Kirchenväter, die ein dem ursprünglichen Christentum fremdes, optimistisches Element in diese Religion eingebracht und damit ihren wahren Kern verdunkelt hätten, den „asketische(n) Geist(e) der Verleugnung des eigenen Selbst und der Überwindung der Welt“ (WWV II, 718). In ähnlicher Weise hatte schon der erste Band die „Mystiker“ als die eigentlichen Christen gewürdigt und sie auch noch über das Neue Testament gestellt, zu dem sie sich verhielten wie der Weingeist zum Wein (WWV I, 450, 457 f.). Für das Kirchenchristentum dagegen, mit seinen mannigfachen Kompromissen mit der Welt, hatte Schopenhauer nichts übrig. Der Katholizismus galt ihm als „ein schmählich mißbrauchtes“, der Protestantismus als ein „ausgeartetes Christenthum“, das mit der Eliminierung der Askese und des Zölibats eigentlich schon den innersten Kern des Christentums aufgegeben habe und deshalb „als ein Abfall von demselben anzusehen“ sei (WWV II, 718; PP II, 415).

Diese unbestreitbare Affinität zu den heterodoxen Strömungen macht Schopenhauer indes noch nicht zu einem religiösen Fundamentalisten. Denn Schopenhauer sieht die Religion und ihre Grundlage als eine zwar unumgängliche und unentbehrliche, gleichwohl niedrigere und prinzipiell überholbare Erscheinungsform der Wahrheit an: als eine Metaphysik für das Volk, die, um dessen geringerer Fassungskraft zu entsprechen, mit Mythen und Allegorien operiert, diese aber nicht als solche kenntlich machen kann, da sie sonst keine Wirkung entfalten. Die Glaubenssysteme sind aus dieser Perspektive gleichsam nur Potemkinsche Dörfer, die ihre Geltung äußeren, d.h. sozialen oder historischen Bedingungen verdanken, nicht ihrer inneren Überzeugungskraft. Sie stützen sich auf transzendente, aus bloßen Begriffen abgeleitete Spekulationen, die sich bei näherer Prüfung als leere Hypostasen erweisen und in jedem Konflikt mit dem erfahrungsgestützten Wissen weichen müssen. Sieht man in dieser Gegenüberstellung den Kern der aufklärerischen Religionskritik, dann gehört Schopenhauer unbedingt hierher. Er verwirft die Leitbegriffe der traditionellen Transzendenz wie Gott, Seele, Schöpfung etc. ebenso wie die gesamte auf sie bezogene Theologie, erklärt die Offenbarungen, auf die sich die Hochreligionen berufen, zu allegorischen Verkleidungen menschlicher Gedanken, greift das Priestertum als eine auf Betrug und Manipulation beruhende Einrichtung an und wirft ihm vor, die Gedankenfreiheit behindert und den Fortschritt der Erkenntnis gehemmt zu haben (WWV II, 178 ff., 207). Und ganz aufklärerisch ist auch die Überzeugung, daß die Völker bereits dabei seien, „das Joch des Glaubens abzuschütteln“:

„Die, welche wähnen, daß die Wissenschaften immer weiter fortschreiten und immer mehr sich verbreiten können, ohne daß Dies die Religion hindere, immerfort zu bestehn und zu floriren, – sind in einem großen Irrthum befangen … Die sich täglich vermehrenden und nach allen Richtungen sich immer weiter verbreitenden Kenntnisse jeder Art erweitern den Horizont eines Jeden, je nach seiner Sphäre, so sehr, daß er endlich eine Größe erlangen muß, gegen welche die Mythen, welche das Skelett des Christenthums ausmachen, dermaaßen einschrumpfen, daß der Glaube nicht mehr daran haften kann. Die Menschheit wächst die Religion aus, wie ein Kinderkleid; und da ist kein Halten; es platzt. Glauben und Wissen vertragen sich nicht wohl im selben Kopfe; sie sind darin wie Wolf und Schaaf in Einem Käfig; und zwar ist das Wissen der Wolf, der den Nachbar aufzufressen droht“ (PP II, 418 f.).

Schopenhauer, soviel läßt sich resümieren, hat den Religionen eine gewisse historische Bedeutung eingeräumt, weil sie bestimmte ethisch-moralische Wahrheiten formulierten, die sich nur auf diese Weise verbreiten ließen. Er hat diese Bedeutung jedoch zugleich nur als historische angesehen, weil mit dem Fortschritt der Wissenschaften eine neue Begründung dieser Wahrheiten nötig und mit der Philosophie – seiner Philosophie – auch möglich geworden ist: eine Begründung, die sich strikt an die Bedingungen der Immanenz hält und dadurch „aus einem härteren Stoff ist, als der Glaube“ (PP II, 387). Mit Arnold Gehlen läßt sich dieses ‚Resultat Schopenhauers‘ auch so ausdrücken: „die Religionen sind keine notwendigen und zureichenden Deutungssysteme der Welt- und Selbstdeutung, sondern haben diese früher übernommene Leistung an die Erfahrung, Wissenschaft und Philosophie abgetreten. Die Religionen sind keine notwendigen und zureichenden Führungsmächte des einzelnen oder des politischen Ganzen, sondern die Moral und Politik kann sich ‚natürlich‘ begründen“ (Gehlen, GA 4, 45).

Natürliche Begründung heißt nun allerdings nicht: naturwissenschaftliche Begründung. Denn so groß das Gewicht ist, das Schopenhauer den exakten Wissenschaften einräumt, so entschieden er sich schon während seines Studiums, später dann in kontinuierlicher Lektüre darum bemüht, mit den Entwicklungen auf diesem Gebiet Schritt zu halten, und so viel er sich auch darauf zugute hält, eine Philosophie entwickelt zu haben, „welche wirklich einen gemeinschaftlichen Gränzpunkt mit den physischen Wissenschaften hat, einen Punkt, bis zu welchem diese aus eigenen Mitteln ihr entgegenkommen, so daß sie wirklich sich an sie schließen und mit ihr übereinstimmen“ (WN, 2) – so unübersehbar ist doch zugleich, daß er seine Lehre keineswegs als den Versuch verstand, das „Programm einer Metaphysik aus dem Geist der empirischen Naturwissenschaften einzulösen“ (Riedel 1996, 47). An den Naturwissenschaften seiner Zeit störte ihn sowohl der materialistische Zuschnitt, der auf eine Erniedrigung der organischen Natur „zu einem zufälligen Spiele chemischer Kräfte“ hinauslaufe (WN, X), als auch der Reduktionismus, der jede Naturkraft höherer Art – Licht, Wärme, Elektrizität etc. – „auf die Gesetze der Bewegung des Stoßes und Druckes und auf geometrische Gestaltung, nämlich ihrer imaginären Atome“, zurückführe (PP II, 118). Wohin ein Denken ohne Experimentieren führe, habe das Mittelalter gezeigt. Die modernen Naturwissenschaften hingegen demonstrierten, „wohin Experimentiren ohne Denken“ führt, nämlich zu einem Realismus der rohesten Art, der sich überdies durch die „moralische Bestialität der letzten Resultate“ auszeichne (WN, X). „Daß die Welt bloß eine physische, keine moralische, Bedeutung habe, ist der größte, der verderblichste, der fundamentale Irrthum, die eigentliche Perversität der Gesinnung, und ist wohl im Grunde auch Das, was der Glaube als den Antichrist personificirt hat“ (PP II, 215).

Tatsächlich hat Schopenhauer weniger die Naturwissenschaft geschätzt als die Naturphilosophie, wie sie ihm in seiner Studienzeit (1809-1813) zunächst in Gestalt der spätaufklärerischen Anthropologie Blumenbachs, später in der Philosophie der Schelling-Schule entgegengetreten ist16. Ihr verdankt er Konzepte wie dasjenige der „Lebenskraft“, das eng mit einem teleologischen Modell der Natur wie auch der im Kern metaphysischen Überzeugung verbunden ist, daß die Kraft zum Leben sich nicht verbrauchen kann; ihr auch den Anspruch auf eine Gesamtdeutung der Welt am Leitfaden anthropomorpher Muster, die eine durch Introspektion gewonnene Einsicht per Analogieschluß auf die organische und anorganische Natur überträgt17. Erkenntnisse, die dieses Weltbild erschütterten, wie etwa die Lehren der Thermodynamik oder der Selektionstheorie, hat Schopenhauer nicht zur Kenntnis genommen, wie er überhaupt dazu neigte, nur diejenigen Teilbereiche der Naturwissenschaft anzuerkennen, die sich als Fundament für sein System eigneten (Rhode 1991, 90 f.). Zwar ließe sich zu seinen Gunsten anführen, daß entscheidende Durchbrüche in Richtung des modernen naturwissenschaftlichen Weltbildes erst in seinen letzten Lebensjahren stattfanden, doch ändert dies nichts daran, daß er seine Philosophie gegenüber dem Gang der naturwissenschaftlichen Erfahrung immunisiert hat. „Die Aetiologie der Natur und die Philosophie der Natur thun einander nie Abbruch; sondern gehen nebeneinander, den selben Gegenstand aus verschiedenem Gesichtspunkte betrachtend“18. Mehr noch: Er hat auch die Deutungskompetenz der Naturwissenschaften in ihrem ureigensten Geltungsbereich insofern relativiert, als er die Einordnung der Objektivationen des Willens gerade auf den untersten Stufen der mittels Anschauung/Verstand operierenden Erfassung der Kausalitätsverhältnisse zugeschrieben und sie auf diese Weise unabhängig gemacht hat vom aktuell vorhandenen begrifflich-naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand (Rhode 1991, 54).

Die Größe des Abstandes, der Schopenhauer von den exakten Wissenschaften trennt, zeigt sich darüber hinaus in seiner Bereitschaft, zur Bestätigung seiner Lehre auch magisch-okkulte Phänomene zu akzeptieren. Im Unterschied zu Kant, für den der Gegensatz zwischen Erscheinungswelt und Ding an sich zugleich die Grenze des sicheren Wissens markiert, hält Schopenhauer dafür, daß das Ding an sich – der Wille –, wenn schon nicht erklärbar, so doch erfahrbar sei und sich damit als Gegenstand eines anderen Wissens eigne: der Metaphysik. Diese aber müsse doppelt gedacht werden: als „theoretische Metaphysik“, wie er, Schopenhauer, sie mit seiner „Auflösung der Welt in Wille und Vorstellung“ gegeben habe; und als „praktische Metaphysik“, wie sie in all jenen Manifestationen des Willens zu finden sei, „welche nach der Kausalverbindung, d.h. dem Gesetz des Naturlaufs, nicht zu erklären sind, ja, dieses Gesetz gewissermaaßen aufheben, und wirkliche actio in distans ausüben, mithin eine übernatürliche, d.i. metaphysische Herrschaft über die Natur an den Tag legen“ (WN, 127, 104). Zu den Gegenständen dieser „empirische(n) oder Experimentalphysik“ rechnet Schopenhauer die Magie, den Magnetismus, den Somnambulismus, den Traum, das Hellsehen sowie die allerdings nur selten vorkommende „Einwirkung Gestorbener auf die Welt der Lebenden“ (WWV II, 371; PP I, 322, 327). Presseberichte über das Tischrücken werden aufmerksam verfolgt, spiritistische Sitzungen, an denen Schopenhauer teilnimmt, zu Demonstrationen der ‚magischen Kraft des Willens‘ erhoben. „Die ganze Sache ist für meine Philosophie höchst wichtig“, heißt es in einem Brief an Frauenstädt vom 2.11.1853 (Schopenhauer 1978, 327; vgl. auch 308, 312, 354, 575). In den Parerga notiert Schopenhauer:

„Animalischer Magnetismus, sympathetische Kuren, Magie, zweites Gesicht, Wahrträumen, Geistersehn und Visionen aller Art sind verwandte Erscheinungen, Zweige Eines Stammes, und geben sichere, unabweisbare Anzeige von einem Nexus der Wesen, der auf einer ganz andern Ordnung der Dinge beruht, als die Natur ist, als welche zu ihrer Basis die Gesetze des Raumes, der Zeit und der Kausalität hat; während jene andere Ordnung eine tiefer liegende, ursprünglichere und unmittelbarere ist, daher vor ihr die ersten und allgemeinsten, weil rein formalen, Gesetze der Natur ungültig sind, demnach Zeit und Raum die Individuen nicht mehr trennen und die eben auf jenen Formen beruhende Vereinzelung und Isolation derselben nicht mehr der Mittheilung der Gedanken und dem unmittelbaren Einfluß des Willens unübersteigbare Gränzen setzt“ (PP I, 282).

Es ist richtig, Schopenhauer nimmt mit dieser Insistenz auf einer „ganz andern Ordnung der Dinge“, auf dem „unbewußte(n) Theil“ des menschlichen Lebens (WWV II, 371), manches von dem vorweg, was später die Psychoanalyse entdecken wird. Ebenso richtig aber ist die Feststellung, daß er die Grenzen der exakten Wissenschaften überschreitet, indem er innerhalb der Erfahrungswelt – traditionell gesprochen: innerhalb der Immanenz – ein Absolutes etabliert, das zwar von den traditionellen Merkmalen des Transzendenten (Bewußtsein, normative Bezüge etc.) gereinigt, aber nichtsdestoweniger transzendent ist (Kondylis 1990, 379). Soviel die Naturwissenschaften zur Aufhellung der physischen, kosmologischen und geologischen Vorgänge beizutragen haben, sie behalten „bei aller mechanischen Richtigkeit und mathematischen Genauigkeit der Bestimmungen ihres Eintretens, doch immer einen dunkeln Kern, wie ein schweres, im Hintergrunde lauerndes Geheimniß; nämlich an den in ihnen sich äußernden Naturkräften, an der diese tragenden Urmaterie und an der nothwendig anfangslosen, also unbegreiflichen, Existenz dieser, – welchen dunkeln Kern auf empirischem Wege aufzuhellen unmöglich ist: daher hier die Metaphysik einzutreten hat, welche an unserm eigenen Wesen und den Kern aller Dinge im Willen kennen lehrt“ (PP II, 150). Wenn die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz den „Code“ der Religion ausmacht (Luhmann 2000, 93), dann haben wir es hier mit einer Wiederkehr dieses Codes im Medium einer Philosophie zu tun, die sich selbst diesseits der Religion situiert.

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