Kitabı oku: «2034», sayfa 2
Genf, Frühsommer 2009
Lange ist’s her, das Jahr 2009. Die erste große Weltwirtschaftskrise nach 1929. Bumm! – das Platzen der US-Immobilienblase 2007. US-Bankencrash 2008, erweitert von Banken- und Unternehmens-Crashs in Europa in der Folgezeit. Vernichtung von Kapital in Billionenhöhe. Pleite der größten US-amerikanischen Investmentbank »Lehman Brothers« – gegründet 1848 auf dem profitablen atlantischen Geschäftsfeld des Sklavenhandels. Jetzt war alles mit einem Schlag futsch. Die Zeit zwischen 2007 und 2010 – die erste bedrohlich große Krise des Casinokapitalismus.
Es ist Frühsommer. Genf, die Hauptstadt des gleichnamigen Schweizer Kantons. Eine Stadt zwischen den Alpen und dem Juragebirge vor der spektakulären Kulisse des Mont Blanc an der Südspitze des Genfer Sees. Sitz der Weltgesundheitsorganisation, WHO, und diverser Waffenhändler-Ringe und Politkrimineller – was natürlich nichts zu sagen hat. Vielleicht aber ist die unmittelbare Nähe der Gemeinde Cologny, gelegen am östlichen Genfer Seeufer, von etwas mehr Bedeutung. Dort hat Klaus Schwab, Gründer und Präsident des Weltwirtschaftsforums, WEF, samt seiner Stiftung seinen Geschäftssitz. Und er ist sehr geschäftig. Jahr für Jahr schart er die wichtigsten und mächtigsten Wirtschaftsbosse um sich. Sie beratschlagen. Sie denken nach. Sie planen. Sie spielen Strategien durch. Alles halb so wild.
An jenem Frühsommerwochenende, an einem Samstag, kurz vor Mitternacht, geht die WHO-Chefin, Margaret Chan aus der Volksrepublik China, und WEF-Chef Schwab, ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler, schweigsam ihren Gleichgesinnten zum Schwarzen Salon voraus. Nicht alle ihrer sieben Gäste kennen sich in dem langgestreckten, stahlgestärkten Glasgebäude aus. Thierry Malleret, Schwabs strategischer Mitstreiter, ist das erste Mal dabei; Gates hatte darauf bestanden.
Der Sekretär des Präsidenten der Rockefeller Foundation, Edwin R. Embree, und der Schatzmeister dieser einflussreichen Stiftung, Mr LG Myers, haben zwar mit dem Bellagio Center – der Villa Serbelloni im italienischen Bellagio am Comer See – ein äußerst repräsentatives Konferenzzentrum, aber es herrschte von Anbeginn Einvernehmen darüber, dass das heutige Treffen in der Zentrale zukünftiger Entscheidungen hier stattzufinden habe, hier, im Haus der Weltgesundheitsorganisation.
Die neun mächtigen Entscheidungsträger treten wie Verschwörer auf, sind es aber nicht. Im Gegenteil: Ihre Ideen und Absichten sollen sehr publik werden. Sie haben eine Nachtsitzung vor sich. Und überhaupt: Es liegen nicht nur ein paar Nächte, nein, es liegen äußerst schwierige und langwierige Monate der publizistischen Kriegsführung im Namen der Weltgesundheit vor ihnen.
Der Flur liegt verlassen im Halbdunkel, und selbst im Aufzug sind die neun philanthropischen Avantgardisten – denn so verstehen sie sich – unter sich. Nicht einmal die Wachmannschaft des Sicherheitsdienstes hat auch nur einen der Gäste gesehen. Niemand der Security-Leute hat auch nur einen blassen Schimmer von diesem Vorgang. Und sie können das Treffen allein deshalb nicht wahrnehmen, weil die Gruppe das Gelände weitab vom Zentralgebäude über eine unterirdische, unauffällige Einfahrt inmitten der Genfer Altstadt, direkt neben dem zentralen Innenstadtparkhaus, erreicht hat und nun die letzten Meter zu Fuß im Inneren des Glasgebäudes zurücklegt.
Die Geheimnistuerei wäre eigentlich nicht nötig gewesen, denn man trifft sich sowieso in regelmäßigen Abständen auf Konferenzen und Meetings von Denkfabriken und Stiftungen. Doch dieses Treffen war eilbedürftig. Es war kein anderer gemeinsamer Termin frei gewesen. Und die grassierende Schweinegrippe nahm keine Rücksicht auf die Terminkalender der Mächtigen.
Der Mond scheint müde durch ein paar Wolkenfetzen in den Glaspalast hinein, und der Sommer kann sich noch nicht entschließen, ob er sich in Bewegung setzen soll. Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Gruppe hier trifft. Doch dieses Treffen ist von höchster Bedeutung. Ein mächtiger Mann geht neben Margaret Chan, die ihm die größtmögliche Aufmerksamkeit zukommen lässt, schließlich ist er – noch vor der Rockefeller Foundation – der größte Geldgeber ihrer Organisation.
Bill Gates steht mit Frau Chan seit ihrer Nominierung als Generaldirektorin der WHO im Jahr 2006 in ständiger Verbindung. Gates und seine Frau Melinda, beide beratende Mitglieder der World Health Assembly, dem WHO-»Parlament«, hatten die Wahl der Chinesin als Generalsekretärin befürwortet. Lange zuvor hatten sie bereits Kontakte zu ihr geknüpft – die Volksrepublik China musste bei ihrem Plan mitspielen, sonst wäre das globale Spiel schon zu Beginn verloren gewesen.
Außerdem bestand die Absicht, das chinesische Hochsicherheitslabor in Wuhan gemeinsam mit personellen und finanziellen Mitteln der »Rockefeller University« und Rockefellers »Johns Hopkins University« in Kooperation mit der Gates-Stiftung zu unterstützen. Dann hatte man einen Fuß in der Tür. Es ging um die Viren-Forschung, genauer gesagt: um die Erforschung von Viren, die durch Mutation vom Tier auf den Menschen überspringen können – „gain of function research“. Das ist Forschung, Viren gefährlicher zu machen, worauf das Institut für Virologie in Wuhan ausgelegt war. So etwas wird in den USA nur dem Militär und den Geheimdiensten erlaubt. Deshalb kann sich daran kein privater Geldgeber beteiligen und mitmischen. Anders in der Volksrepublik China.
Der große ovale Tisch erinnert ein wenig an den Besprechungstisch im Oval Office des Weißen Hauses. Frau Chan hat Wasser und Säfte vor jedem Platz servieren lassen; Salate werden später als Vorspeise kredenzt und irgendwann wird das Menü aufgefahren. Die Generaldirektorin weiß, was sich gehört und wendet sich zu Beginn ihrer Besprechung an die Eheleute Gates: „Ohne die Mittel Ihrer-Stiftung, verehrte Melinda, lieber Bill, wären viele Gesundheitsziele unserer Organisation, etwa die Ausrottung der Kinderlähmung, gefährdet. Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet.“
„Keine Ursache. Das ist Vergangenheit“, ergreift Bill Gates das Wort. „Wir haben ein neues, überaus großes, weltumspannendes Projekt vor uns, das weit über jenes frühe Projekt in Sachen Kinderlähmung hinausgeht. Ich würde mich freuen, wenn die Anwesenden den Vorschlägen meiner Frau und mir folgen könnten.“
Margaret Chan ist beruhigt, dass Bill nicht auf Mr Gostin, ihren Direktor des Collaborating Centre on National and Global Health Law der WHO zu sprechen kommt. Gostin ist notwendigerweise anwesend. Sie hatte befürchtet, das könne zum Einstiegsproblem werden. Erst kürzlich hatte er nämlich ein unglückliches Interview in der Washington Post gegeben. Obwohl er die „Großzügigkeit und den Einfallsreichtum“ von Philanthropen wie Gates lobte, hatte er Bedenken hinsichtlich der übermäßigen Abhängigkeit von privaten Spenden geäußert.
„Der größte Teil der Gates-Gelder ist an spezifische Ziele gebunden. Das bedeutet, dass die WHO nicht selbst Prioritäten setzen kann, sondern einem weitgehend privaten Akteur verpflichtet ist. Und die Gates-Stiftung hat natürlich keine demokratische Rechenschaftspflicht.“
„Zu viel Einfluss?“, hatte daraufhin der letzte Fragesatz in dem Artikel der Washington Post gelautet.
Fast hätte die Sache in einem Pressekrieg geendet, aber Chris Elias, Präsident des »Global Development Program« der Bill & Melinda Gates Foundation, hatte recht diplomatisch eine Gegenmeinung in der Washington Post untergebracht. Es hatte zur Beruhigung der Gemüter beigetragen. Er räumte ein, dass es im Laufe der Jahre „oft Bedenken und Kritik in Bezug auf unseren Einfluss bei der WHO“ gegeben habe. „Aber man muss erkennen, dass die WHO ein globales Programm hat, das von ihren Mitgliedsstaaten beschlossen wird“, hatte er geschrieben.
Und weiter: „Wir haben auch Programme, die von unserem Vorstand entwickelt und geprüft werden. Wir unterstützen also die Bereiche der WHO, die mit unseren Strategien übereinstimmen.“ Dies bedeute aber auch, ergänzte Elias, dass „einige Bereiche besser finanziert werden als andere, weil wir nicht eine Strategie für alles haben.“ Dies sei eine Schwachstelle, mit der sich die WHO auseinandersetzen müsse.
Mr Embree, der Sekretär der Rockefeller Foundation, schaltet sich ein: „Auch wir unterstützen mit unserem »Pandemic Prevention Institute« Ihre Organisation, Mrs Chan. Wir unterhalten globale Netzwerke von Laboren, gemeinnützigen und internationalen Organisationen, Regierungen und Privatunternehmen. Somit haben wir die Kompetenz, um die notwendigen globalen Überwachungskapazitäten zu stärken.“
Heute geht es um besonders wichtige Kapazitäten und um eine Schwachstelle, weshalb Mr Schwab und Thierry Malleret vom World Ecomic Forum an der Besprechung teilnehmen. Und die Schwachstelle hat auch einen Namen: CRASH – der Niedergang des globalen Währungs- und Wirtschaftssystems und die darauf folgende Notwendigkeit: The Great Reset – Der große Umbruch. Die Neue Weltordnung.
Aber um all dies durchzusetzen, muss ein eindrucksvoller Anlass abgewartet werden. Ohne Anlass keine Chance auf eine große gesellschaftliche Umwälzung. Es muss ein Anlass sein, der mit einer grundlegenden Allgemeinangst einhergeht – wie zum Beispiel bei der derzeit grassierenden »Schweinegrippe«. Dann könnten mit »pandemischer Überzeugungsarbeit«, wie Klaus Schwab meint, die Weichen für eine globale Umwälzung der bestehenden Verhältnisse gestellt werden. Und Bill Gates stimmt ihm zu. Dann stünde für die Menschheit der Weg in die Zukunft offen.
Bill Gates geht’s ums Gemeinwohl.
Gießen, Pathologie, Raum 508
Ich denke im Moment weder an den großen Crash noch an die große Erlösung durch die großartigen Erlöser Gates, Schwab, Rockefeller, Bezos, Musk, Zuckerberg und die anderen multimilliardenschweren US-Weltenlenker. Ich bin ganz bei mir, hier in diesem kalten Raum, auf diesem kalten Seziertisch. Ich höre die erste Stimme: „Unterschreiben Sie bitte hier, Frau Doktor? Aber gut aufdrücken – es sind drei Durchschläge.“
Das Geräusch eines Kugelschreibers auf Papier. Ich stelle mir vor, wie der Besitzer der ersten Stimme der Ärztin ein Schreib-Brett hinhält.
Oh Heiliger Bimbam, komme über mich und lass mich bitte nicht tot sein!, versuche ich zu schreien und bringe keinen Ton heraus. Immer noch sehe ich ein Bild vor mir: Wie mich der beratende Impfarzt desinteressiert anschaut, wie er mich mit seinem harmlosen Allerwelts-Lächeln darauf aufmerksam machen will, dass alles gut geht.
Ich versuche erneut, etwas hinauszubrüllen, doch kein Laut kommt über meine bewegungslosen Lippen.
Aber ich atme doch ... stimmt‘s? Ich meine, ich kann nicht spüren, dass ich‘s tue, aber meine Lunge scheint in Ordnung zu sein, sie pocht nicht oder schreit nach Luft, wie sie‘s manchmal tut, wenn ich zu lange unter Wasser war, also muss mit mir alles in Ordnung sein, nicht wahr?
Wärest du tot, murmelt die Stimme in meinem Unterbewusstsein, hättest du den Leichensack aus Vinyl nicht gerochen. Eine Leiche kann nicht riechen, oder kann sie?
Pit: „Was machen Sie nächsten Samstagabend, Verehrteste?“
Wenn ich tot wäre, kann ich dann wirklich hören, was Pit sagt? Und kann ich die Sprache der Lebenden, zu denen ich nicht mehr gehöre, dann noch verstehen? Ich höre doch (und verstehe) die Antwort der Ärztin, die jetzt sagt, dass sie nächstes Wochenende ihren Hund badet, der auch Pit heißt. Was für ein Zufall! … Worauf wieder alle lachen. Wenn ich tot bin, warum bin ich dann nicht entweder gefühllos oder in das blendend weiße Licht eingehüllt, von dem in Nahtod-Berichten so oft die Rede ist? Wo ist das Licht am Ende des Tunnels?
Wo bleibt das Auge Gottes? Und was habe ich zuletzt wirklich gesehen, wenn ich etwas gesehen habe?
Dann ist ein scharfes Reißen zu hören, und plötzlich bin ich in jenes weißes Licht eingehüllt, an das ich gerade gedacht habe. Es ist blendend hell wie die Sonne, wenn sie an einem Wintertag durch die Wolkendecke bricht. Ich versuche meine Augen schützend zusammenzukneifen, aber nichts passiert. Meine Lider gleichen Jalousien, deren Mechanik defekt ist.
Ein Gesicht beugt sich über mich, verdeckt einen Teil des grellen Lichts, das nicht von irgendeinem gleißend hellen Himmelskörper, sondern von in Reihen angeordneten Leuchtstoffröhren an der Decke über mir kommt. Das Gesicht gehört einem gut aussehenden jungen Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren. Er sieht aus wie einer dieser Muskelmänner, die in Baywatch oder Melrose Place die Strände bevölkert haben. Jedoch geringfügig intelligenter. Eine Menge schwarzes Haar quillt unter seiner achtlos getragenen Chirurgenhaube hervor. Er trägt auch den dazu passenden Kittel. Seine Augen sind kobaltblau, genau die Farbe, auf die angeblich alle Frauen fliegen. Kleine Sommersprossen übersäen seine Wangen.
Ich stelle mir vor, dass sich gleich eine ganze Schar junger Medizinstudenten über mich beugt, um mich neugierig zu mustern, damit sie abends in ihrer Stammkneipe über mich ablästern können, von wegen alter Knochen mit Piercing an der Brustwarze und Tattoo auf der Leiste („Schuster bleib bei deinen Leisten, ha ha ha) und so weiter …
„He, Mann“, sagt der Baywatch-Athlet. Ihm gehört die dritte Stimme. „Dieser Kerl sieht wirklich wie Stephan Remmler aus! Vielleicht nicht mehr gerade der Jüngste …“ Er beugt sich tiefer über mich. Eines der flachen Bänder, mit denen sein grüner Kittel am Hals zugebunden wird, kitzelt mich an der Stirn. „… aber yeah, ich sehe die Ähnlichkeit. He, Stephan, sing uns was!“
Hilf mir!, ist es, was ich zu singen versuche, aber ich kann nur mit meinem starren Totenblick in seine dunkelbraunen Augen sehen; ich kann mich nur fragen, ob ich tot bin, ob die Sache wirklich so abläuft, ob es jedem so ergeht, nachdem die Pumpe versagt hat. Wenn ich noch lebe, wie kommt es dann, dass er nicht gesehen hat, wie meine Pupillen sich verengt haben, als das Licht sie getroffen hat? Aber ich weiß die Antwort darauf … glaube sie jedenfalls zu kennen. Sie haben sich nicht zusammengezogen. Deshalb ist das grelle Licht der Leuchtstoffröhren so schmerzhaft.
Das Kittelband kitzelt meine Stirn wie eine Feder.
Hilf mir!, kreische ich den Baywatch-Mucki-Man an, der vermutlich ein Assistenzarzt oder vielleicht bloß ein Medizinstudent ist. Hilf mir, bitte!
Meine Lippen zittern nicht einmal.
Das Gesicht des jungen Mannes weicht zurück, das Band kitzelt nicht mehr, und all dieses weiße Licht flutet durch meine Augen, die nicht wegsehen können, flutet direkt in mein wehrloses Gehirn. Das ist ein höllisches Gefühl, eine Art Vergewaltigung. Muss ich noch lange hineinstarren, werde ich blind, denke ich, und diese Blindheit wird eine Erleichterung sein.
KLACK! Das Geräusch des einrastenden Anschnallgurtes.
Jetzt beugt sich ein weiteres Gesicht in mein Blickfeld. Darunter ein weißer Kittel statt eines grünen, darüber ein üppiger, zerzauster orangeroter Haarschopf. Ausverkaufs-IQ, das ist mein erster Eindruck. Das kann nur Pit sein. Er trägt ein breites dämliches Grinsen zur Schau, die Art Grinsen, die ich als Oberstufen-Grinsen bezeichne, das Grinsen eines Jungen, der auf einem vergeudeten Bizeps die Tätowierung GEBOREN, UM BÜSTENHALTER ZU ZERREISSEN tragen sollte. Er erinnert mich zudem aber auch an jenen unsäglichen Ewig-Abiturienten-CDU-Zappel-Philipp-Großmaul-Amthor.
Wo haben mich diese Blödmänner aufgegabelt und wie haben Sie mich transportiert? In einem dieser hässlich-grauen Minnas der Pathologen?
„Stephan!“, ruft Pit aus. „Jesus, du siehst guuuut aus! Das ist echt ‘ne Ehre! Sing für uns, großer Junge! Sing, Stephan, sing um dein Leben!“
Irgendwo hinter mir erklingt die Stimme der Ärztin, kühl, nicht einmal mehr vorgebend, diese Possen amüsant zu finden: „Schluss jetzt, Pit.“ Dann in eine andere Richtung: „Was ist mit ihm passiert, Tim?“
Tims Stimme ist die erste Stimme – Pits Partner. Ihm scheint es etwas peinlich zu sein, mit einem Kerl zusammenzuarbeiten, der gerne Oliver Pocher wäre. „Ist im Impfzentrum zusammengeklappt, einfach vom Stuhl gefallen und war sofort mausetot, Herztod. Die Sanis meinen, so schnell könne eine Spritze nicht wirken, wie er vom Stuhl gesegelt wäre, vielleicht vorgeschädigt. Herzdruckmassage habe nicht gefruchtet. Wahrscheinlich hätte ihn sowieso bald irgendein kleiner Schock einfach umgehauen.“
Noch einmal rekapituliere ich: Ich liege hilflos und starr in einem Leichensack, wahrscheinlich in einem Autopsie-Raum. Irgendwelche Idioten erlauben sich Scherze auf meine Kosten, und ich glaube, dass ich atme, aber es nicht merke. Wie sollen es da die Knallköpfe merken, die mich für Stephan Remmler halten? Nur die Aufschnitt-Ärztin („Dürfen es 50 Gramm Aufschnitt mehr sein?“) scheint noch einen Funken Respekt vor meiner Leiche zu haben.
Pit schaut noch immer auf mich herab, blöde und fasziniert. Nicht mein Tod interessiert ihn, sondern meine Ähnlichkeit mit TRIO-Sänger Stephan Remmler. Oh ja, ich bin mir dieser Ähnlichkeit bewusst, bin nicht darüber erhaben gewesen, sie bei bestimmten Gesangsgelegenheiten auszunützen. Ansonsten ist nicht viel damit anzufangen. Und unter diesen Umständen … mein Gott!
„Wer hat den Totenschein ausgestellt?“, fragt die Ärztin.
„Der Impfarzt, Dr. Widuweit, und der herbei gerufene Kollege, ein Notarzt namens Dr. Schlauer. Die beiden haben ihm die Absolution zur Himmelfahrt erteilt“, sagt Tim und blickt dabei kurz auf mich herab. Mindestens zehn Jahre älter als Pit. Schwarzes, an einigen Stellen grau meliertes Haar. Brille.
Wie kommt’s, dass keiner dieser Leute sehen kann, dass ich nicht tot bin?
„Das hier ist Schlauers Unterschrift auf Seite eins … sehen Sie?“, fährt Tim fort.
Das Rascheln von Papier, dann: „Jesus, Maria und Josef! Schlauer! Den kenne ich. Der hat Noah untersucht, nachdem die Arche am Berg Ararat gestrandet war.“
Pit sieht nicht so aus, als habe er den Scherz verstanden, aber er lacht mir trotzdem schallend ins Gesicht. Ich rieche Zwiebeln in seinem Atem, ein kleiner Rest Mundgeruch von einem Döner, und wenn ich Zwiebeln riechen kann, muss ich atmen. Das muss ich, nicht wahr? Wenn ich nur …
Bevor ich diesen Gedankengang zu Ende bringen kann, beugt Pit sich noch tiefer über mich, und mich durchzuckt ein Hoffnungsstrahl. Er hat etwas gesehen und will mich mit Mund-zu-Mund-Beatmung wieder beleben. Gott segne dich, Pit! Gott segne dich und deinen Zwiebel-Atem!
Aber das blöde Grinsen verändert sich nicht, und statt seinen Mund auf meinen zu drücken, ergreift er mit einer Hand meinen Unterkiefer. Jetzt hält er die eine Seite mit seinem Daumen und die andere mit seinen Fingern fest.
„Er lebt!“, plärrt Pit. „Er lebt, und er wird für den Stephan-Remmler-Fanclub von Raum 508 singen!“
Seine Hand packt fester zu – das tut entfernt weh wie das Abklingen einer örtlichen Betäubung mit Novocain. Er fängt an, meinen Unterkiefer so auf und ab zu bewegen, dass meine Zähne klappern. Plötzlich fängt er mit schrecklich atonaler Stimme zu singen an:
„Was ist los mit dir mein Schatz, aha?
Geht es immer nur bergab, aha?
Geht nur das, was du verstehst, aha?
This is what you got to know:
Let you go, it didn’t show.”
Mein Mund öffnet und schließt sich unter dem groben Druck seiner Hand; meine Zunge steigt und fällt wie ein auf der Oberfläche eines schwankenden Wasserbetts liegender toter Hund.
Ich weiß nicht warum, aber ich muss jetzt an eine TV-Krimiserie denken.
„Schluss damit!“, faucht die Ärztin ihn an. Das klingt ehrlich schockiert. Pit, der das vielleicht spürt, hört keineswegs auf, sondern macht fröhlich weiter. Seine Finger graben sich jetzt in meine Wangen. Meine unbeweglichen Augen starren blind nach oben, direkt in sein blödes, singendes Maul:
„Da da da
Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht.
Da da da
Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht.
Da da da
Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht.
Da da da
Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht.
Da da da“
Ich glaube, ich muss kotzen. Aber nichts passiert. Ich lenke mich mit einem Erinnerungsversuch ab: Was war eigentlich vor dieser Impfung geschehen? War ich nicht mit Ben bei Freunden eingeladen gewesen? Doch, da war etwas. Meine Erinnerung wird sehr konkret. Meine Freunde, ein Pärchen um die sechzig Jahre alt, hatten Ben und mich ausgeladen, weil wir uns noch nicht hatten impfen lassen …
Endlich hört der Schwachsinnige mit seinem schwachsinnigen Song auf, und doch erinnert er mich damit an eine schöne Zeit in den Achtzigern. New Wave, Neue Deutsche Welle, Fehlfarben, Spider Murphy Gang, Geier Sturzflug, Hubert Kah.
Unangenehm spüre ich die Sprengsel seiner feuchten Aussprache auf Stirn und Wangen, aber ich kann nichts wegwischen. Scheiße. Plötzlich beugt er sich wieder über mein Gesichtsfeld und starrt mich wie ein wildgewordener DJ an und singt mit seiner schrägen Stimme weiter:
„Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht – Aha!
Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht – Aha!
Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht – Aha!
Soso, du denkst, es ist zu spät, aha!
Und du meinst, dass nichts mehr geht, aha!
Und die Sonne wandert schnell, aha!
After all is said and done”
Mir gruselt’s. Werde ich gleich in ein Kühlfach geschoben, zu all den anderen?
Plötzlich muss ich an HIT RADIO FFH denken. Ist das hier alles nur ein Hörspiel? Aber das kann nicht sein!
„Schluss hab ich gesagt!“, zischt die Ärztin jetzt mit einem ganz entschlossenen Unterton. Dann ist sie da, eine Frau in einem grünen Arztkittel, deren Mütze an einem Band um den Hals und wie Cisco Kids Sombrero über ihren Rücken herabhängt. Sie trägt kurzes, aus der Stirn zurückgekämmtes Haar, ist gut aussehend, aber ein wenig streng – eher apart als hübsch. Sie packt Pit mit einer Hand, deren Nägel sehr kurz geschnitten sind, und zerrt ihn von mir weg.
„He!“, sagt Pit empört. „Hände weg von mir!“
„Dann lassen Sie Ihre Hände von ihm“, sagt sie unüberhörbar verärgert. „Ich habe Ihre Dummenjungenstreiche satt, Pit, und wenn Sie nächstes Mal wieder damit anfangen, erstatte ich Meldung.“
„He, nur nicht aufregen“, sagt der Baywatch-Typ (ihr Assistent). Er sagt es offenbar in Richtung von Pit. Das klingt besorgt, als fürchte er, Pit und seine Chefin könnten ihren Streit auf der Stelle mit den Fäusten austragen. „Schluss jetzt, okay?“
„Warum ist sie so eklig zu mir?“, fragt Pit. Er versucht noch immer empört zu wirken, aber tatsächlich winselt er jetzt. Dann in eine andere Richtung: „Warum sind Sie so eklig zu mir? Haben Sie Ihre Tage, liegt’s daran?“
Frau Doktor, hörbar angewidert: „Schaffen Sie ihn hier raus.“
Tim: „Komm jetzt, Pit. Wir müssen uns die Einlieferungspapiere quittieren lassen.“
Pit: „Yeah. Und ein bisschen frische Luft schnappen.“
Ich höre mir das alles an, als käme es aus HIT RADIO FFH jenem Sender, den ich bald schon als private Aktiengesellschaft mit meinen Bücher-Fans betreiben würde. Fabulieren und Rekapitulieren ist hier in diesem schrecklich langen Moment meine einzige geistige Nahrung: Ich liege hilf- und reglos wie ein Toter in einem Leichensack auf einem Stahltisch. So fühlt es sich zumindest an. Depperte Medizinmänner machen sich über meine Leiche lustig, und ich starre ununterbrochen in die grellen Neonröhren über mir und kann die Augen nicht schließen und hoffe, dass ich erblinde, um diese Augenlicht-Folter nicht länger ertragen zu müssen. Die pathologischen Idioten, die sich mit mir beschäftigen, merken nicht, dass ich noch lebe – aber ehrlich gesagt, bin ich mir selbst nicht ganz sicher …
Jedenfalls halten sie mich für Stephan Remmler, den TRIO-Sänger, dessen Hit „Da Da Da“ sie mir laut und respektlos und mit feuchter Aussprache mitten ins Gesicht singen. Und dann gibt’s da noch diese Ärztin, die mich bisher noch nicht einmal richtig angeschaut hat … und jetzt endlich schmeißt sie Pit und seinen Kumpel raus.
Raus mit euch, ihr schrecklich unfähigen, ihr schrecklich ungerechten Pathologen …
Ich sehe jetzt keine Person mehr, kein dämliches oder beleidigtes Gesicht, aber ich kann mir denken, dass Pit ziemlich beleidigt sein muss. Er (oder Tim) gibt ein Räuspern von sich, dann schlurfen Schritte. Sie schlurfen Richtung Ausgang, nehme ich an. Tatsächlich, Pit ist offensichtlich eingeschnappt, denn nun fragt er die Ärztin aus einiger Entfernung, warum sie nicht einfach ein rotes Bändchen um den Arm trägt, wenn sie ihre Tage hat, damit die Leute wissen, woran sie sind. Ich höre noch, wie sie ein wirklich wütendes „RAUS!“ brüllt. Dann ist wieder ein leises Zischen zu hören und wahrscheinlich öffnet sich in diesem Moment die Druckluft-Tür, aber all diese Geräusche vermischen sich in meinem Gehör zu einer völlig neuen und doch irgendwie bekannten Szenerie.
Ich höre mit einem Mal (Vergangenheit, ick hör dir trapsen!), wie es bei mir zuhause im Erdgeschoss klingelt, während ich oben im Badezimmer noch unter der Dusche stehe. Ich erinnere mich jetzt, wie ich mich eilig abrubbelte und an die Sprechanlage eilte. Es war mein Hausarzt, ein guter Bekannter, der mich seit einigen Wochen bekniete, ich möge mich unbedingt impfen lassen. Er meinte es zweifellos gut mit mir. Ich hatte mir schnell einen Trainingsanzug angezogen – so ein Teil war neuerdings kein modisches Verbrechen mehr, vielmehr ein must have.
„Aha“, sagt Dr. Neumann. „Du hast schon dein Krankenhaus-Outfit angezogen.“
Wir hatten gelacht. Dann habe ich ihm ein weiteres Mal erklärt (es war wohl schon mein dritter Versuch), warum ich mich in meinem besonderen Fall nicht mit einem völlig neuartigen, durch keinerlei Langzeitstudie abgesicherten Grippeimpfstoff impfen lassen wollte.
Während ich im Moment immer noch den eiskalten Stahl des Seziertisches unter mir spüre, bin ich mir der damaligen Situation und meiner Argumentation voll bewusst. Das ermutigt und erschüttert mich zugleich. Ich bin mir jetzt sicher, dass ich zwar lebe und dennoch dieser Situation, in die ich geraten bin, hilflos ausgeliefert bin.
Meine Erinnerung trügt mich nicht, mein Gehirn funktioniert noch einwandfrei. 1970 war ich zwanzig Jahre alt und lebte in Westberlin. Damals war in Funk und Fernsehen und von der BILD-Zeitung bis zum SPIEGEL vor einer schrecklichen Infektion, der Hong-Kong-Grippe, gewarnt worden. Deshalb hatte ich mich im Frühherbst 1970 von meiner Hausärztin mit dem gerade ein Jahr zuvor in Europa zugelassenen neuen Influenza-Impfstoff impfen lassen. Innerhalb eines Tages erkrankte ich schwer mit Dauerfieber über vierzig Grad. Meine normale Körpertemperatur beträgt 36,5 Grad. Meine damalige Ärztin in Berlin-Charlottenburg war täglich in unsere Wohngemeinschaft gekommen, um mich mit Fieber senkenden Mitteln zu behandeln. Aber sie schlugen nicht an. Das Fieber zehrte acht lange Tage immer mehr an mir. Dann konnte ich nicht mehr essen und litt abwechselnd unter Dauerschüttelfrösten und enormem Schwitzattacken.
Schlafanzug und Bettwäsche mussten mehrmals am Tag gewechselt werden. Schließlich wies mich die Hausärztin in das Martin-Luther-Krankenhaus ein. Von ursprünglich 78 Kilo war mein Gewicht innerhalb von zehn Tagen auf 54 Kilo heruntergegangen. Meine Muskeln degenerierten zu wabbeligem Pudding. Im Krankenhaus rang ich vier Wochen lang um mein Leben und hing Tag und Nacht an Infusionen. Nachdem ich entlassen worden war, hatte ich für ein halbes Jahr ein durchgehendes Schlappheits- und Mattigkeitsgefühl und keinen Geschmackssinn. Das alles kehrte erst im Laufe des kommenden Jahres langsam und etappenweise wieder zurück.
„Sehr bedauerlich, wirklich, dem ist nichts hinzuzufügen … aber …“, hatte Dr. Neumann meinen Krankenbericht von damals kommentiert, bevor er kurz darauf fortfuhr: „… aber wenn du einmal ein Auto kaufst, dass schon nach einigen Kilometern einen Motorschaden hat, wirst du dir dann niemals mehr ein Auto anschaffen?“
Ich hatte Rainer Neumann, meinen lieben Bekannten, den Arzt meines Vertrauens, mit dem ich in einem gemeinnützigen Verein zur Unterstützung von Flutopfern im Ahrtal zusammenarbeitete, erstaunt angeschaut. Ich war erst einmal ob dieses hanebüchenen Vergleichs sprachlos. Dann setzte ich uns einen grünen Tee auf und sagte nur einen Satz: „Rainer, glaubst du im Ernst, dass dein Vergleich auf die Sache zutrifft?“
Er hatte mich gutgläubig, von seinem Argument absolut überzeugt, angeschaut und mir eine Gegenfrage gestellt: „Was sollte an dem Vergleich falsch sein?“
„Bleiben wir bei den Autos!“, antwortete ich ihm. „Stell‘ dir vor, du fährst auf der Autobahn und hast es satt, von den hinter dir fahrenden Geschossen gejagt zu werden und möchtest entspannt fahren. Du siehst auf der rechten Fahrspur eine große Lücke zwischen zwei LKW, die beide mit ihren angenehmen 100 Stundenkilometern dahinfahren. Freiwillig wechselst du zu ihnen auf die Spur.
Nach einer Weile bremst der vordere Lastwagen langsam ab, du ebenso, aber der hinter dir fahrende LKW-Fahrer reagiert nicht zeitig und du siehst ihn näher kommen und links neben dir schießen die Geschosse vorbei und du kannst nicht ausweichen und wirst in Sekundenschnelle zusammengequetscht.
Dein Auto ist futsch, aber das ist das Wenigste. Du selbst wirst gerade noch lebend aus dem Auto gezerrt, bevor es lichterloh brennt; du hast zahlreiche Knochenbrüche, überstehst das Ganze, auch wenn du noch monatelang darunter körperlich und psychisch leidest und nicht voll funktionsfähig bist. Du zweifelst, ob du jemals wieder gesund wirst, ob du jemals studieren und jemals deinen Lieblingsberuf als Journalist ausüben kannst
Und jetzt meine Frage an dich: Würdest du dich nach einem solchen Erlebnis jemals wieder freiwillig und ohne Not in die rechte Autobahnspur zwischen zwei LKW einfädeln?“