Kitabı oku: «2034», sayfa 3
Trottel am Werk
Ich starre immer noch in das grelle Vergewaltigungslicht. Um nicht diesem Dauerschmerz ausgeliefert zu sein, versuche ich meine Augen nach innen zu drehen, was natürlich nicht funktioniert. Also bemühe ich mich um die Gnade meines inneren Auges, auf dass es mich ablenken und darüber aufklären möge, was vielleicht wirklich am Tag meiner ersten Corona-Impfung geschehen war. Vielleicht ist nicht der Stich in den linken Oberarm die Ursache dafür, dass ich nun hier liege. Ich konzentriere mich ganz und gar auf die Frage, was in den Stunden vor meinem gemeinsamen Gang mit Ben zum Impfzentrum geschehen war.
Und wo überhaupt war jetzt Ben?
An diesem Punkt komme ich nicht weiter. Mein Kurzzeitgedächtnis funktioniert im Moment offensichtlich nicht so gut wie meine Langzeiterinnerung. Ich weiß nur eines mit Sicherheit: Nach dem Impfstich dauerte es nicht lange, bis mich eine Dunkelheit überkam … bis ich ein rollendes Gefühl unter meinem Hintern verspürte ... auf einer fahrbaren Krankentrage in einem nach Plastik stinkenden Leichensack mit Reißverschluss, und dann der dämliche Rhythmus des quietschenden Rades und die noch dämlichere Stimme: „In welchen sollen wir ihn bringen?“ (Pit: „508, glaub ich. Ja, doch, Tiefgeschoss, die Fünfhunderter-Abteilung.“)
Wichtig ist, dass ich überhaupt denken kann – und diese idiotischen Staatsdiener in ihrer trostlosen Pathologie, die den ganzen Tag nichts Besseres zu tun haben, als sich über die ihnen anvertrauten Leichen lustig zu machen, merken nicht, dass ich denke, dass ich atme, dass ich lebe. Sie tun so, als sei es das Natürlichste der Welt, dass hier nur Leichen existieren. Real existierende (lebende) Leichen. Kaum zu glauben, dass sie so unsensibel und unkritisch sind und nicht einmal einen winzigen Gedanken-Funken daran verschwenden, dass ich noch leben könnte. Ist natürlich mein Pech.
Allmählich bezweifele ich, dass dieser Raum etwas mit Medizinwissenschaften und Pathologie zu tun hat.
Doktor Schlauer, der Arzt, der am besten TV-Arzt geworden wäre, ich kenne ihn. Ausgerechnet er hat mich für tot erklärt. Wie ich vermuten kann, hat er das ohne große Umstände getan, ganz unbürokratisch, einmal einen Spiegel vor den Mund halten, dann den Puls fühlen, dann die Lampe aufs Auge richten – alles tot und starr, gut so, Leichenschein ausfüllen, ab zur Pathologie wegen ungeklärter Todesursache, unglücklicherweise passiert in einem Impfzentrum, na ja, vielleicht hatte der Typ Corona und ist deshalb so schnell zusammengesackt, wer kann das schon wissen. An sich ist Schlauer ein netter Kerl, Jäger, Skatspieler und heimlicher Trinker, was jedermann weiß. Er ist immer zerstreut, ein Fossil. Ja, ein Fossil hat mich für tot erklärt. Dann hat mich Pit, der Mann mit dem blöden Anstaltsgrinsen und den eindeutigen Absichten hinsichtlich der Aufschnitt-Ärztin, noch einmal für mausetot erklärt.
Diese merkwürdige Ärztin, Mrs Cisco Kid, hat mich noch nicht einmal angeschaut, nicht wirklich. Wenn sie‘s tut, wird sie vielleicht ...
„Ich hasse diesen Trottel“, sagt sie, nachdem die Druckluft leise zischend das automatische Schließen der Tür signalisiert. Jetzt sind wir nur noch zu dritt, aber die Ärztin, die noch irgendwas mit mir vorhat, glaubt freilich, sie seien nur zu zweit. Ich verabscheue diese Unaufmerksamkeit im öffentlichen Dienst. Später wird sie ihre Pension Monat für Monat peinlichst genau prüfen, wird den Kontoauszug anhauchen, versuchen, ihm den Puls zu fühlen, zwischen den Fingern reiben und auf Echtheit überprüfen, weil ihr 5.200 Eier im Monat zu wenig erscheinen.
Da wird sie sehr, sehr aufmerksam sein. Darauf wird sie eine Menge Zeit verwenden. Sie wird die amtliche Bezüge-Stelle in Wiesbaden anrufen und fragen, warum ihre Pensionsbezüge immer noch nicht erhöht wurden und sie wird … weiß Gott was noch alles unternehmen. Aber hier lässt sie mich – ohne mich berührt zu haben – einfach liegen und ins grelle Licht starren; Folter pur. Sie hasst Pit, den Trottel – und ich hasse sie!
Eine meiner Stärken ist mir erhalten geblieben – ich rekapituliere. Das ist eine journalistische Wiederholungstechnik, um mir selbst immer wieder klar darüber zu werden, was wirklich geschah und geschieht und um mich in der Gegenwart zu halten: Ich bin mir jetzt absolut sicher, in einem grässlichen Aufschnittraum zu liegen und empöre mich (rein innerlich, rein gedanklich, denn ich kann weder reden noch zucken, noch blinzeln) – ja, ich empöre mich über den respektlosen Umgang mit mir als Leiche. Noch habe ich die Hoffnung, dass mich die Aufschnitt-Ärztin („Dürfen es ein paar Gramm Aufschnitt mehr sein?“ – „Schon okay, legen Sie ruhig noch die Scheibe Gelbwurst obendrauf!“) gründlich untersucht und entdeckt, dass ich lebe (wenn ich noch lebe, was ich – ehrlich gesagt – gar nicht so genau weiß …)
„Wieso kriege ich immer die Trottel, Klaus?“
„Keine Ahnung“, sagt Klaus, dessen Gesicht ich kurz gesehen habe und der eine schier unheimliche Ähnlichkeit mit Klaus Kinski aufweist. „Pit ist ein Spezialfall in den Annalen berühmter Trottel.“
Ich denke bei dem Wort „Trottel“ sofort an meinen Auftritt bei der Ex-Kanzlerin vor sechs Jahren. Damals war ich, wie Sie sich erinnern werden, als V-Mann für die Regierungschefin tätig und sie hatte mir als Tarnnamen „Trottel“ zugewiesen, weil das am unauffälligsten in ihrer Umgebung sei, und ich hatte bedenkenlos zugestimmt. Hauptsache gutbezahlter V-Mann mit vielen Kreuz- und Querverbindungen, aber immer im Netz der bundesdeutschen Geheimdienst-Seilschaften, eingebunden ins Kartell eines verschwörerischen Schweigens, jenem STASI-Nachfolgekartell, das jedenfalls rechtzeitig die Akten schreddert, bevor das Volk schreit, es sei das Volk – und die Schnüffler-Zentrale stürmt.
Zurück zu den Tatsachen. Ich liege hilflos hier und höre, wie Klaus über seinen Kumpel denkt: „Pit ist ein wandelnder Hirntoter, Frau Doktor; das ist so, damit müssen wir leben.“
Die Ärztin lacht, und etwas klappert. Auf dieses Klappern folgt ein Geräusch, das mich erstarren lassen würde, wenn ich nicht längst erstarrt und stumm (aber leider nicht blind und nicht gehörlos!) hier herumläge: Stahlinstrumente, die aneinander klirren. Sie sind irgendwo links neben mir, und obwohl ich nicht nach links blicken kann, weiß ich, was die beiden Helden hier vorbereiten: die Autopsie. Das regt mich gewissermaßen ein wenig auf, das werden Sie wohl verstehen! Oder soll ich sagen: es regt mich erheblich auf? Nutzt alles nichts, denn ich liege tatsächlich da wie tot, regungslos, fern jeglicher Gemütsäußerung. Blitzschnell taucht ein Bild vor mir auf, das Bild, wo ich für einen Werbefilm als Schönheitschirurg meine sieben Sachen packe, um den interessierten Damen ein passendes Halloween-Outfit zu verpassen. Eigentlich müsste ich mich als Hobby-Chirurg meinen hier tätigen Kollegen durchaus verbunden fühlen. Tu ich aber nicht. Ich habe Angst vor ihnen.
Schon lande ich wieder in der traurigen Realität. Vielleicht wäre es angenehmer gewesen, in einem Leichenschauhaus zu landen, wo man wenigstens seine unaufgeschnittene Ruhe hat. Nein, ich bin in der Pathologie, wo man gerne alles auf einen eiskalten, silberblitzenden Stahltisch legt und aufschneidet – nur so zum Spaß, um festzustellen, dass jemand mausetot ist und an irgendetwas Unheimlichem gestorben ist. Ein Beruf für Nichtzimperliche. Aufklärungsquote an die hundert Prozent, denn die meisten Fälle, die hier anlanden, sind tatsächlich mausetot. Und meistens sind sie an tausend Möglichkeiten gestorben. Aber ich, verdammt noch mal, ich lebe! Ich spüre, dass ich lebe.
Die Nichtzimperlichen wollen mir das Herz rausschneiden. Wahrscheinlich ist es schon längst in einem galanten Vorzugsdeal (in einem schicken Restaurant) an den höchst bietenden Herzchirurgen verkauft, der es zu seinem Spezialangebot macht und unter der Hand so viele Scheine kassiert, wie eine ALDI-Kassiererin in fünf Jahren verdient.
Warum mein Herz? Mein linker Arm!, kreische ich in meinem Kopf. Schaut auf meinen Arm, ihr blinden Hühner, dort seht ihr den Einstich. Aber das wissen sie ja, sie wollen in meinem Inneren nach den Auswirkungen schauen, da bin ich mir sicher.
Vielleicht haben sich meine Augen doch etwas an die Helligkeit gewöhnt. Am obersten Rand meines Blickfelds erkenne ich jetzt ein Gestell aus rostfreiem Stahl. Es sieht wie ein überdimensionierter Zahnarztbohrer aus, aber das Ding an seinem Ende ist kein harmloser Bohrer, der dich die Nerven deines Zahnes einzeln spüren lässt (falls die lokale Betäubung schusseliger Weise vergessen wurde). Es ist eine übliche Kreissäge, nur etwas feiner in Aussehen und Handhabung. Die Mediziner nennen sie Gigli-Säge, womit sie einem die Schädeldecke aufschneiden, um den Kopfinhalt zu überprüfen.
Ein Geräusch. Ein schrecklich realistisches Geräusch. Ich kann nicht tot sein; ein Toter kann so etwas Schreckliches nicht mehr wahrnehmen, sonst wäre er nicht tot. Aber konnte das je in der Vergangenheit jemand bezeugen? Konnten Tote jemals wiederauferstehen und darüber Zeugnis ablegen? Ist meine Argumentation gerichtssicher? Ist die Logik alleine ein Beweis? Das Geräusch lässt mich aus der Haut fahren – aus der Haut fahren?
Klirr. Klirr. Klunk. Eine kurze Pause. Dann so ein lautes KLANK!, dass ich zusammenzucken würde, wenn ich dazu imstande wäre.
„Wollen Sie den Brustkorb öffnen?“ fragt sie.
Klaus, vorsichtig: „Wollen Sie wirklich, dass ich es mache?“
Ich denke, dass es sich anhört wie eine Geflügelschere. Eigentlich wäre mir ein Pizzateiler angenehmer, irgendwie ästhetischer. Doch ich verwerfe meine idiotischen Gedanken, denn ich höre gerade, was die Ärztin antwortet.
Frau Doktor Cisco, freundlich wie jemand, der eine Gunst erweist und Verantwortung überträgt: „Ja, ich denke schon.“
„Also gut“, sagt er. „Sie assistieren mir?“
„Ihre zuverlässige Kopilotin“, sagt sie und lacht. Ihr Lachen wird von einem Schnapp-schnapp-Geräusch kurz unterbrochen. Das ist das Geräusch einer durch die Luft schneidenden Schere.
Die müssen doch erst mal meine Körpertemperatur messen, denke ich. Haben die kein iPad mit integriertem Temperaturfühler? Panik bricht in meinem Oberstübchen aus, echte Panik.
Schon stelle ich mir den blitzeblank geputzten Stahltisch vor, auf dem gleich eine mordsmäßige Sauerei veranstaltet wird. In der ARD – erinnern Sie sich, liebe Leser? – haben seit 2002 Kommissar Frank Thiel (Axel Prahl) und Gerichtsmediziner Prof. Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) im Münsteraner »Tatort« Verbrecher gejagt. Man sah Boerne bei seiner Arbeit in jenem klinisch kalten Raum. Ich habe das gerne geschaut und mit Wissbegier! Und deshalb weiß ich genau, was jetzt kommt.
Man wird mich zu Studienzwecken auseinandernehmen wie ein Hühnchen oder wie eine Tierversuchsratte. Wenn ich mich nicht täusche, werde ich das deutsche Fernsehen bald schon nicht mehr erleben können. Auch gut, bewahrt es mich doch vor einigen Enttäuschungen und Karl Lauterbachs Dauerpropaganda, der ich aufgesessen bin. Hätte ich mich nur nicht auf diese Impfung eingelassen. Es ist zu spät. Ich sollte meine falsche Entscheidung in dieser Situation hinweglächeln. Aber ich kann nicht lächeln. Und ich kann diesen beiden Sezieraffen mit nichts klarmachen, dass ich noch voll da bin. Also, so gut wie voll.
Ich weiß, was Klausi und seine Chefin vorhaben. Die Schere hat lange, scharfe Klingen, sehr scharfe Klingen, und große Öffnungen für die feinen Arzthände. Trotzdem muss man wie ein Bayer auf den Wies’n beim Armdrücken kräftig sein, um gegen den Brustkorb zu gewinnen. Die untere Klinge gleitet in den Bauch wie in Butter – oder wegen mir wie durch Margarine … für Cholesteringeschädigte. Dann Schnipp-Schnapp durch die nervösen Nervenbündel des Sternums nach oben und durch das kräftige Geflecht aus Muskeln und Sehnen darüber. Dann ins Zwerchfell. Wenn die Klingen diesmal zusammenkommen, tun sie es mit einem lauten Knirschen, während die Knochen sich teilen und der Brustkorb auseinanderplatzt wie bei einer Weihnachtsgans, deren gut gemeinte Füllung aus aufquellenden Esskastanien besteht.
Ich lausche, hoffe auf ein paar wenige, aber rettende Worte wie zum Beispiel „So, jetzt überzeugen wir uns erst mal selbst von seinem Tod, bevor wir ihn öffnen.“ Aber das Geschirr-Geklapper geht weiter. Ich versuche trotz aller Panik zu rekonstruieren, was mit mir geschehen sein mochte. War ich in den Tagen vor der Impfung mit irgendetwas Ungewöhnlichem in Berührung gekommen? Hatte ich etwas Falsches gegessen? Ich kann mich an nichts Außergewöhnliches erinnern. Woran ich mich jetzt – aufdringlicherweise – noch einmal erinnere, ist jener Morgen, als mir mein Hausarzt einen Überzeugungsbesuch abstattete. Einen Zeugen-Jehova-Besuch.
„Du wirst nur Nachteile ernten, wenn du dich nicht impfen lässt“, hatte Dr. Rainer Neumann gemeint. „Welches Impferlebnis du vor vierzig Jahren hattest, wird niemanden mehr interessieren.“
„Ich habe alle anderen Impfungen davor und danach schadlos überstanden. Ich habe lediglich Vorbehalte gegenüber kurzfristig zugelassenen und nicht hinreichend geprüften Erstimpfstoffen in Sachen Influenza. Politisch verordnete Nachteile sind mir weniger wichtig als meine Gesundheit.“
„Damals, 1970, wurden alle Grippeimpfungen auf Basis von Hühnereiweiß entwickelt und verimpft“, erläuterte Rainer. „Bis etwa 2008 waren es weitgehend hochgereinigte Impfstoffe, aber sie basierten dennoch auf Eiweißbasis. Das hat zu den untypischen Reaktionen bei bis zu zehn Prozent der Geimpften geführt und den schlechten Ruf der Grippeimpfungen begründet.“
„Das war für mich lebensbedrohlich und nicht nur irgendein schlechter Ruf“, hatte ich ein wenig konsterniert eingewendet.
„Heute ist aber alles ganz anders“, fuhr er fort. „Heute werden alle Impfstoffe gentechnisch und damit ohne Fremdeiweiß als Totimpfstoff hergestellt. Ein Unterschied wie Fahrrad und Auto. Beides Verkehrsmittel, aber nicht vergleichbar.“
„Beides sind jedenfalls Impfstoffe, die damals wie heute als superfortschrittlich, modern, medizinisch und medizintechnisch auf dem Höchststand gelobt wurden. Aber sie wurden ohne die notwendigen Langzeitstudien zugelassen.“
„Klar ist jedenfalls, dass auch dich das Virus erreichen wird“, sagte Rainer. „Du fällst in die Altersgruppe der Gefährdeten – das kann für dich zum Hochrisiko werden. Doch ein anderer Aspekt ist von noch größerer Bedeutung: Wie viele andere steckst du an und bringst sie damit in Lebensgefahr? Oder welche Menschen erleiden wegen deiner Infektion unter Umständen lebenslange Dauerschäden?“
Das hatte ich als eine schwere und völlig fehlgeleitete moralische Keule empfunden. Schließlich konnten die Ungeimpften nirgendwo hin, während sich die Geimpften ungeschützt treffen und feiern konnten. Obwohl sie ebenfalls Virenträger sein konnten. Waren denn nicht sie die wahren Virenschleudern? Sie durften Restaurants besuchen und dicht an dicht in Stadions stehen. Es war Unsinn, was Neumann redete, doch ich schwieg. Mir war klar, dass die hier eingeforderte, angebliche Solidarität nicht nur einseitig, sondern auch bloß ein Vorwand und ein bösartiger gesellschaftlicher Spaltpilz war.
Meine Gedankenpause hatte mein wenig sensibler Hausarzt genutzt, um sein nächstes Geschütz aufzufahren: „Und du solltest bedenken, dass du große Intensivkapazitäten blockierst, wenn du möglicherweise im Krankenhaus behandelt werden musst. Dadurch können andere dringende Notfälle nicht behandelt werden.“
Was sollte ich einem solchen Schwachsinn entgegensetzen? Am liebsten hätte ich ihm geantwortet: „Ja, lieber Rainer, ich bin in allen Punkten schuldig. Ich persönlich habe unser Gesundheitssystem ruiniert – nicht der Gesundheitsminister Jens Spahn und seine Ganoven aus Lobby und Partei. Zwar hatte er erst vor zwei Jahren für die weitere Reduzierung der Krankenhausversorgung (»Wir haben zu viele Krankenhäuser«) und für eine weitere »effiziente« Privatisierung die Propagandatrommel gerührt, aber das war wohl nur einer seiner beliebten Scherze. Nein, mein lieber Freund und Doktor, ich gestehe: Ich, der Ungeimpfte, bekenne mich in allen Punkten schuldig!“
Aber ich hatte eisern geschwiegen.
Rainer hatte dies als stillschweigendes Einverständnis gewertet, denn er war ungerührt fortgefahren: „Auch über die erheblichen Zusatzkosten, die durch die Ungeimpften für die Allgemeinheit entstehen, wird wenig gesprochen.“
Das war für mich der unerträgliche Höhepunkt seiner Schwurbellogik. Erst einen Tag zuvor hatte ich eine Studie der People‘s Vaccine Alliance, PVA, gelesen. Die PVA, zu der rund 80 Organisationen wie die international anerkannten Institutionen Oxfam und UNAIDS gehören, nahm sich regelmäßig die Quartals- und Neunmonatsberichte der US-Konzerne Pfizer und Moderna und des deutschen Unternehmens Biontech vor. Nach der Analyse der Zahlen kam man auf einen diesjährigen Gesamtjahresgewinn der Firmen vor Steuern in Höhe von 34 Milliarden Dollar – allein mit den Corona-Impfstoffen.
„Weißt du, dass die Pharmakonzerne Biontech, Pfizer und Moderna mit ihren Corona-Vakzinen 93,5 Millionen Dollar pro Tag oder 1000 Dollar Gewinn jede Sekunde machen? Was glaubst du, wer die Kosten verursacht? Die Ungeimpften oder die Geimpften? Was glaubst du, wer die Kosten trägt? Zahlen die Geimpften ihre Impfung selbst? Oder zahlt die Allgemeinheit, der Staat? Woher kommt wohl das unverschämt viele Geld? Wer wirft es den Pharmakonzernen so willig in den weit geöffneten Rachen?“
Rainer hatte mich erstaunt angeschaut. Und diesmal hatte ich nachgelegt: „In Wahrheit zahlen die Ungeimpften für die Geimpften mit! So herum wird ein Schuh draus!“
Da hatte er endlich seinen Mund gehalten. Ich hatte noch erläutert, dass die erwähnten Pharma-Unternehmen in der Pandemie fünf neue Milliardäre, nämlich die Chefs der Vakzin-Konzerne, hervorgebracht hatten, die zusammen derzeit über ein Nettovermögen von 35,1 Milliarden Dollar verfügen.
Offensichtlich bin ich noch klar bei Verstand, wenn ich mich an diese unerfreuliche Begegnung mit Dr. Neumann erinnern kann. Schließlich hatte ich bis dahin tatsächlich gedacht, er sei der Arzt meines Vertrauens.
Auch dass ich mich an die Zahlen so gut erinnere, gibt mir Mut und Zuversicht – nein, ich kann noch nicht hinüber sein. Aber vielleicht bin ich es bald – und diese Aussicht ist irgendwie zermürbend.
Doch meine Gedanken lassen jetzt keine weitschweifige Vergangenheitsbewältigung zu. Ich male mir schon wieder aus, wie die Schere weiterschneidet, durch die Knochen … Schnipp-KNIRSCH, Schnipp-KNIRSCH, Schnipp-KNIRSCH, etwas splittert in meiner Brust, Muskeln zerreißen wie aufgespannte Gummibänder beim Gummitwist. Dann schauen diese nachlässigen verbeamteten Medizinmänner beziehungsweise diese Medizinfrau auf meine freigelegten Lungen und vielleicht ruft Frau Doktor entzückt aus: „Noch ein Nichtraucher. Wie sauber!“
Ein hohes, durchdringendes Surren – wirklich ein Geräusch wie von einem Zahnarztbohrer.
Klausi-Mausi: „Kann ich …“
Er sieht zwar Kinski ähnlich, er hat aber nicht dessen aufbrausend-cholerisches Durchsetzungsvermögen, denke ich. Gottseidank!
Frau Dr. Cisco-Kid, deren Stimme tatsächlich etwas mütterlich klingt: „Nein! … Damit!“ Schnipp-schnapp. Als Demonstration für ihn.
Das können sie nicht machen, denke ich. Sie können mich nicht aufschneiden … ich kann FÜHLEN!
„Warum?“, fragt er.
„Weil ich es so will“, sagt sie, was erheblich weniger mütterlich klingt. „Wenn Sie später allein verantwortlich arbeiten, Klausi-Boy, dann können Sie machen, was Sie wollen. Aber hier bei mir, in Brigitte Möllers …“
(Aha, so heißt Cisco-Kid in Wirklichkeit!)
„… Autopsie-Raum, bauen Sie keinen Mist, sondern fangen mit dieser Schere an.“
Autopsie-Raum. Sofort denke ich an einen Horror-Schriftsteller. Das ist’s! Endlich. Jetzt ist es heraus. Ein Autorenkollege, ein Experte in Sachen Horror, hat mich als Sezier- und Studienobjekt für seine Geschichte benutzt und entführen lassen. Schriftstellern traue ich jeden Mist zu, nur damit sie ihre Auflage steigern können. Ich bin sein Studienobjekt. Ich bin die Ratte auf dem Seziertisch. Scheiße.
Noch einmal von vorne: Ich liege in einem Autopsie-Raum, vielleicht nackt in einem Leichensack, nur mein Gesicht schaut aus der Hülle, und meine braun-grünen Augen sind gezwungen, in das grelle Neonröhrenlicht zu starren. Meine Schmalzohren müssen das spielerische Schnipp-schnapp der Sezierschere hören, die gleich an meinem Körper zum Einsatz kommt. Und ich kann mich bei den ignoranten Pathologen nicht verständlich machen, obwohl es für jeden normalen Menschen wahrscheinlich wahrnehmbar wäre, dass ich noch lebe.
Mensch Meier, sind das Experten!, denke ich wütend. Doch selbst die Wut bleibt irgendwo in mir stecken. Und dann schreie ich ganz laut: HALLO! HALLO! Aber die da draußen sind taub. Der einzige, der meinen Schrei hört, bin ich.
Mir ist nach einer Gänsehaut am ganzen Körper zumute, aber natürlich passiert nichts; meine Haut bleibt glatt. Meine Gedanken kreisen noch kurz um Ben und eine unserer letzten Corona-Diskussionen. Es ging um Biontech, als das Unternehmen 2019, kurz vor der Pandemie, an der Börse Kapital einwarb. Laut Börsengesetz war es gezwungen, seine Investoren auf »die Risiken in Bezug auf unser Geschäft« hinzuweisen.
Ben hatte mir daraus vorgelesen: „Keine mRNA-Immuntherapie wurde bisher zugelassen. Sie wird möglicherweise auch nie zugelassen. Die Entwicklung von mRNA-Arzneimitteln ist aufgrund der neuartigen und nie dagewesenen Kategorie von Therapeutika mit erheblichen klinischen Entwicklungs- und Zulassungsrisiken verbunden. Unsere Produktkandidaten könnten nicht wie beabsichtigt funktionieren, unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen oder andere Eigenschaften aufweisen, die ihre Zulassung verzögern oder verhindern.“
Das also war Originalton Biontech.
Innerlich seufze ich gerade, was aber außer mir niemand bemerkt. Ich bin es schon gewohnt. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier. Aber ich wehre mich mental gegen jenen Zustand, den man schlichtweg »Resignation« nennt.
Plötzlich unterbricht mich das Dozentengefasel der Pathologin. „Denken Sie daran …“, sagt Dr. Möller (Cisco-Möller; Ärztinnen und Studienrätinnen tragen vorzugsweise Doppelnamen, wahrscheinlich weil sie auf eine Verdoppelung der Pensionsansprüche hoffen), „… jeder Dummkopf kann lernen, den Schalter einer Gigli-Säge zu betätigen und drauflos sägen ... Aber Handarbeit ist immer am besten.“ Ihr Tonfall klingt jetzt dozierend. „Okay?“
„Okay“, bestätigt ihr Anlernling.
Sie werden es tun. Sie werden mich aufschneiden – mit dieser verdammten Geflügelschere. Ich bin sicher, dass sie es im Namen meines Horror-Kollegen tun. Vielleicht haben sie anhand seiner Storys diesen abscheulichen Beruf gelernt. Vielleicht waren Horrorgeschichten in ihrem Studium sogar eine Lern- und Prüfungseinheit mit 100 Credit Points – inklusive einer Studienexkursion in irgendein Gruselhaus der Disney-Parks. Ich denke da an Phantom Manor.
Ich muss irgendeinen Laut, irgendeine Bewegung machen, sonst tun sie‘s wirklich. Quillt oder spritzt gar nach dem ersten Schnitt mit der Schere Blut heraus, werden sie zwar wissen, dass irgendwas nicht in Ordnung ist, aber dann ist es sehr wahrscheinlich zu spät. Zu spät für mich. Dieses erste Schnipp-KNIRSCH wird passiert sein, und meine Rippen werden an meinen Oberarmen liegen, während unter den Leuchtstoffröhren und den entsetzten Blicken dieser sogenannten Pathologen mein Herz in seinem von Blut glänzenden Beutel wie wild um sich schlägt ...
Gerade will ich mich auf meine Brust konzentrieren, um einen Schrei zu starten, da höre ich, wie sich die Druckluft-Tür mit diesem bekannten Zischen öffnet und die Ärztin begeistert ausruft: „Hi, Mr. King. Treten Sie ruhig näher, wir haben Sie bereits erwartet.“
Ich höre näher kommende Schritte. Ich höre wie mein Namensvetter in gebrochenem Deutsch antwortet: „Wie göht es Öhnen? Darf ich?“
Ich höre, wie Kleider abgelegt werden. Klausi-Boy wird von Dr. Möller vorgestellt.
„Holen Sie bitte für Mr King die vorgeschriebene Kleidung, die Haube und den Mundschutz.“
„Okay“, sagt Klaus und man hört eine blecherne Schranktür quietschen und ein Flüstern zwischen der unbekannten Ärztin und dem berühmten Schriftsteller. Dann rascheln Kleidungsstücke, das Flüstern hat aufgehört, und mehrere Schritte nähern sich meinem Tisch. Habe ich »meinem Tisch« gesagt? Das ist natürlich Quatsch, und das wissen Sie auch, verehrte Leserin, verehrter Leser. Es ist ein extra für Stephen King aufgebauter Seziertisch, an dem (aus mir) eine Extrawurst für ihn fabriziert wird – nur, damit seine Story glaubwürdiger klingt.
Wie ich aus seiner Biografie weiß, spricht Stephen King ein mehr oder weniger gutes Schuldeutsch, so, wie man in Maine eben Deutsch lernt, ein breites Quark-quark-quark und die Verben als Substantiv.
„Wo setzen Sie den Schnitt an?“
(„Woa sötzen sö dön Schneiden an?“ So etwa klingt sein Deutsch, ohne dass ich das dramatisch finde – unter anderem weil ich weiß, dass Sie, liebe Leser, ebenso wie ich der Überzeugung sind, dass er ansonsten hervorragend schreibt.)
Dramatisch ist etwas ganz anderes. Dramatisch ist zum Beispiel meine ganz persönliche derzeitige Situation. Ich liege hilflos hier und kann nur im Entferntesten daran denken, jemals wieder eine Geschichte zu schreiben. Ich weiß, dass ich am Ende bin. Ist es das Ende der Geschichte, wie es der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama in einer wirren Analyse vor dreißig Jahren einmal feststellte?
Ich zumindest will noch nicht am Ende sein, und deshalb konzentriere ich mich ganz auf meine Brust. Ich drücke oder versuche es zumindest ... Und höre etwas.
Einen Laut!
Ich habe einen Laut von mir gegeben!
Er bleibt größtenteils in meinem geschlossenen Mund, aber ich kann ihn auch in meiner Nase hören und fühlen – ein leises Summen.
Wäre das toll, wenn ich hier vor Stephen King aus dem Wachkoma erwache! Ich bin mir inzwischen ziemlich klar darüber, dass ich im Wachkoma liege, nur weiß ich nicht sicher, ob das mit jenem Impfstich zu tun hat. Aber das ist im Moment auch wirklich nebensächlich.
Ich freue mich auf Kings Gesichtsausdruck, wenn ich mich plötzlich aufrichte, ihm die Hand reiche und ihm für sein Gesamtwerk danke. Ich konzentriere mich erneut, gebe mir größte Mühe, wiederhole den Vorgang und bringe diesmal einen Ton hervor, der etwas lauter ist und wie Zigarettenrauch aus meinen Nasenlöchern quillt: Nnnnnnn ...
Jetzt muss ich an einen uralten Fernsehfilm von Alfred Hitchcock denken, den ich vor ewig langer Zeit gesehen habe, in dem Joseph Cotten nach einem Verkehrsunfall gelähmt war und den Ärzten schließlich durch eine einzige Träne zeigen konnte, dass er noch lebte. Zumindest hat dieser winzige, an ein Mückensirren erinnernde Nnnnnnn-Laut mir selbst bewiesen, dass ich lebe, dass ich nicht nur ein Überbleibsel des Pfingstgeistes bin, der sich noch in der irdischen Hülle meines eigenen toten Körpers aufhält.
Außerhalb meiner Gedankenwelt höre ich die Schnippelärztin gerade etwas erklären: „Der Unterschied zur Rechtsmedizin, Mr King, ist folgender: Wir Pathologen machen Leichenöffnungen, wenn die Todesursache unklar, aber natürlich ist. Es wirkt vielleicht unlogisch, aber Pathologen dürfen nur sezieren, wenn eine natürliche Todesursache vorliegt. Gerichtsmediziner hingegen sezieren nur dann, wenn fremde Gewalt im Spiel gewesen sein könnte.“
Als ich meine gesamte Konzentration bündle, kann ich spüren, wie Luft durch meine Nase und meine Kehle hinunterströmt, um den Atem zu ersetzen, den ich jetzt verausgabt habe, und dann stoße ich sie wieder aus und arbeite schwerer, als ich je als Teenager zur Weihnachtszeit bei der guten alten Bundespost gearbeitet habe, als ich Geschenkpakete in den vierten und fünften Stock (ohne Aufzug) austrug. Jetzt, auf dem Seziertisch, arbeite ich wirklich schwerer, als ich je in meinem Leben gearbeitet habe, weil ich jetzt um mein Leben arbeite, und die da neben mir müssen mich hören, lieber Jesus, sie müssen!
Nnnnnnnn …
„Hören Sie gerne House-Musik?“, fragt die Ärztin (Sie fragt den berühmten Mr Schriftsteller, nehme ich an). „Ich habe aber auch amerikanische Country-Songs …“, beeilt sie sich hinzuzufügen.
Stephen gibt einen abwehrenden Laut von sich. Ich höre ihn kaum und ziehe keine unmittelbaren Schlüsse aus dem Gesagten, was vermutlich eine Gnade ist.
„Schon gut“, sagt sie lachend. „Ich habe auch klassische Musik.“
„No, nein, nein, no Classics, please!“, ruft Grusel-King aus. „Haben sö dee Toten Hosen?“
„Warum nicht? Eine liegt genau vor uns“, scherzt Frau Dr. Möller und fügt halb singend hinzu: „An Tagen wie diesen …“
„Haben Sie die wirklich in Ihrer Playlist?“, fragt ungläubig Klaus, der unsichere Anlernling. Und ich hoffe schon, dass er über all dem vergisst, mich aufzuschneiden.
„Na, seh‘ ich etwa immer noch spießig aus, wenn ich meinen grünen Kittel ausziehe?“
Ich höre die Stimme der Ärztin und das Rascheln eines Kittels, der gerade abgestreift wird. Sie wird doch vor Stephen King, Klausi-Mausi und mir keinen Striptease hinlegen?
Hört mir zu!, kreische ich in meinem Kopf, während meine unbeweglichen Augen zu dem eisig-weißen Licht aufstarren. Hört auf, wie Hausfrauen auf dem Marktplatz zu schwatzen, und hört mir endlich zu!
Ich fühle mich verzweifelt – wie damals zu meinen besten Facebook-Zeiten, als ich mich selbst mit Bluttransfusionen retten musste und genau wusste, dass die Menge im Beutel nicht ausreichen würde. (Dass sich so vieles im Leben wiederholt, ist eine der Merkwürdigkeiten, die ich mir als Story vorknöpfen werde, sofern ich diesen Seziertisch hier lebend verlasse … Obwohl, stopp: Als nächstes Projekt steht »Willi, der Held von Lich« auf meinem Schreibplan – ein wütender Elon-Musk-LKW, selbstfahrend, selbstdenkend, der gegen ein Logistikmonster kämpft …)